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Analyse: Das zivilgesellschaftliche Engagement der Polen. Historie und Gegenwart | bpb.de

Analyse: Das zivilgesellschaftliche Engagement der Polen. Historie und Gegenwart

Grzegorz Makowski

/ 19 Minuten zu lesen

Was heißt zivilgesellschaftliche Aktivität in Polen und wo kann sich diese verwirklichen? Durch einen kurzen historischen Abriss wird aufgezeigt, wie einerseits die aktuelle Spezifik des zivilgesellschaftlichen Engagements zu verstehen ist und andererseits, wie sich die polnische und deutsche Gesellschaft miteinander verbinden lassen durch besondere Punkte. Nachfolgend werden verschiedene Formen zivilgesellschaftlichen Handelns genauer betrachtet.

LGBT- Marsch für Gleichberechtigung in Polen, 2019. (© picture alliance/Wiktor Dabkowski)

Zusammenfassung

Die zivilgesellschaftliche Aktivität der Polen ist nicht herausragend groß, aber sie auch nicht so gering, wie es auf den ersten Blick scheint. Der historische Rückblick und die Betrachtung verschiedener Formen zivilgesellschaftlichen Handelns in der Gegenwart (formalisierte Aktivität in zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wahlen, informelles Engagement) zeigen, dass die Polen keineswegs passiv sind und eine lange, auf die Gesellschaft orientierte Tradition haben. Im Vergleich zu den westeuropäischen Gesellschaften und insbesondere Deutschland bleibt die zivilgesellschaftliche Aktivität der Polen allerdings immer noch zurück.

Perspektiven der zivilgesellschaftlichen Aktivität

Es herrscht die recht ausgeprägte Überzeugung, dass die polnische Gesellschaft zivilgesellschaftlich passiv ist. Der Pole als passiver Bürger ist allerdings nur ein Stereotyp. Die Wirklichkeit ist sowohl aus historischer Perspektive als auch aus dem Blickwinkel der Gegenwart differenzierter. Meiner Analyse der zivilgesellschaftlichen Aktivität lege ich die Definition von Edward Shils, einem der führenden Theoretiker auf diesem Gebiet, zugrunde. Shils sagt, dass "[…] zivilgesellschaftliches Selbstverständnis eine bestimmte Weltanschauung und Disposition der Zivilgesellschaft ist, die sich aus der Teilhabe der Einzelnen am kollektiven Bewusstsein ergibt. […] es ist die Akzeptanz, sich (zumindest in einem bestimmten Bereich) zum Handeln für das Gemeinwohl zu verpflichten, in dem Moment, wenn eine Entscheidung zwischen einander widersprechenden Interessen oder Zielen getroffen werden muss." Dies ist naturgemäß nur ein kleiner Ausschnitt aus Shils’ Theorie und eine von vielen Auffassungen, was zivilgesellschaftliches Selbstverständnis sei. Allerdings integrieren die beiden Sätze viele ähnliche Definitionen und fassen Shils’ Ansatz gut zusammen. Zwei Elemente sollten hier meiner Meinung nach noch einmal akzentuiert werden, das verbindende Bewusstsein und das Handeln zugunsten des Gemeinwohls. Ein Bürger, eine Person, die sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst ist, die sich aus dem gemeinsamen Schaffen der Gesellschaft ergeben, muss sich ganz einfach für das Gemeinwohl einsetzen, für das Wohl eben dieser Gesellschaft.

Wo kann sich diese Aktivität verwirklichen? Natürlich im breit gefassten öffentlichen Bereich. Hier lässt sich zivilgesellschaftliche Aktivität auf mindestens zwei Ebenen vorstellen. Die erste entfaltet sich zwischen dem Pol, an dem sie einen politischen Charakter hat, das heißt mit irgendeiner Form des politischen Machtkampfes zu tun hat, und dem Pol, wo diese Eigenschaft nicht besteht (zum Beispiel wenn sie sich auf karitative Tätigkeiten konzentriert oder wenn sie darauf ausgerichtet ist, der Gesellschaft Güter und Dienstleistungen bereit zu stellen). Der zweite Bereich spannt sich zwischen dem Punkt auf, wo die Aktivität formalisiert ist (vor allem in Gestalt zivilgesellschaftlicher Organisationen), und dem Punkt, wo sie nicht formalisiert, in diesem Sinne diffus ist und an der Basis angesiedelt ist. Das Schema im Anhang dieses Textes stellt die von mir vorgeschlagenen Analysekategorien vor. Es ist unvermeidlich, dass es sich dabei um eine gewisse Vereinfachung handelt (die genannten Typen sind Beispiele und nicht immer vollständig voneinander zu trennen), doch ist das Schema praktikabel und wird im Folgenden bei der Analyse des noch differenzierteren Bildes der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in Polen angewendet sowie bei der punktuellen Bezugnahme auf die Situation in Deutschland.

Historischer Abriss über die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in Polen

Ein kurzer historischer Abriss erlaubt, zum einen die aktuelle Spezifik des zivilgesellschaftlichen Engagements in Polen zu verstehen, zum anderen zeigt er einige besondere Punkte auf, die die polnische und die deutsche Gesellschaft miteinander verbinden.

Die polnische Gesellschaft hat eine recht lange demokratische und ehrenamtliche Tradition. Näher betrachtet, erfüllte unser zivilgesellschaftliches Selbstverständnis nicht immer alle Kriterien, die Edward Shils definierte, insbesondere was die Orientierung auf das Gemeinwohl betraf. Ein beliebiges Beispiel: Polen war in der Blütezeit der Ersten Republik (16.–17. Jahrhundert) wohl einer der liberalsten Staaten in Europa, wenn nicht weltweit. Unter anderen der Historiker Norman Davies hat gezeigt, dass der polnische Adelsstand (poln. szlachta ) der zahlenstärkste in Europa war; Historiker schätzen seinen Anteil auf acht bis zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Ab 1537 wählte der Adelsstand die Könige (was auch dazu führte, dass Machthaber deutscher Herkunft Könige von Polen wurden, so August der Starke und sein Nachfolger August III.). Die sogenannte Adelsdemokratie war ein Phänomen von Weltrang, aber wie ihr Name sagt, beschränkte sie sich gleichzeitig nur auf den Adel. Auf der anderen Seite hielt sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts paradoxerweise eine Art Sklaverei. Der Bauernstand hatte außer blutigen Aufständen nicht viele andere Möglichkeiten der "Partizipation" an öffentlichen Angelegenheiten. Erst Zar Alexander II. befreite die Bauern im Jahr 1864 aus der Leibeigenschaft. Die Adelsdemokratie war jedoch auch eine Quelle der Korruption und Anarchie, wozu das Prinzip des liberum veto verleitete, das jedem Adligen erlaubte, die Beratungen des Sejm zu unterbrechen. Häufig waren die Adligen bestochen worden, um das liberum veto einzulegen. Letztlich war dies einer der wichtigsten Gründe, der zum Zusammenbruch des Staates führte. Auch die Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai 1791, eine der weltweit ersten Verfassungen, rettete Polen nicht.

Zwischen 1795 und 1918, als Polen von der Landkarte getilgt war und die polnische Gesellschaft im russischen, preußischen und österreichischen Teilungsgebiet lebte, kamen die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten keineswegs zum Erliegen. Im österreichischen und im preußischen Teilungsgebiet entwickelten sie sich sogar den Umständen entsprechend gut. Forscher wie Ewa Leś unterstreichen die Rolle kirchennaher Organisationen sowie von Verbänden und Stiftungen, die Arme, Obdachlose und Waisen unterstützten, mitunter auch mit Hilfe von Unternehmen (beispielsweise Rückversicherungen im preußischen Teilungsgebiet, aus denen später das Sozialversicherungssystem hervorging). In diesen spezifischen Milieus zivilgesellschaftlicher Aktivität, die zwar formal weit entfernt von der Politik handelten und sich darauf konzentrierten, bestimmte öffentliche Dienstleistungen anzubieten (um an das oben vorgestellte Schema anzuknüpfen), schwelte auch ein politisches Engagement. Nicht selten waren karitative oder wirtschaftliche Organisationen eine Tarnung für informelle politische Arbeit, dank derer sich dann später im freien Polen politische Parteien herausbildeten.

Die Teilungen waren bestimmt nichts Angenehmes, aber sie haben die Art und Weise der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in Polen bis in die Gegenwart geprägt. Dazu einige Beispiele: Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit (1918) wurde das Stiftungsrecht vor allem unter dem Einfluss der zuvor im preußischen Teilungsgebiet geltenden Regulierungen geschaffen. Eine ihrer Eigenschaften war, dass die staatliche Aufsicht über die Stiftungen schwach war. Sogar trotz jahrzehntelangen Rückgangs des Stiftungswesens in der Phase des Kommunismus überdauerte diese Tradition. Im Jahr 1984, also im letzten Jahrzehnt der Volksrepublik, wurde im Rahmen von Lockerungen entschieden, ein neues Stiftungsgesetz einzuführen, in dem die stark eingeschränkte staatliche Aufsicht über die Stiftungen nach dem deutschen Muster beibehalten wurde. Das kommunistische Gesetz gilt übrigens nur geringfügig verändert bis heute und wird von den polnischen zivilgesellschaftlichen Aktivisten als relativ gut beurteilt.

Ein anderes Beispiel für das Erbe der zivilgesellschaftlichen Tätigkeit in der Zeit der Teilungen sind die sehr lebendigen Zentren des sozialpolitischen Denkens. In der Zwischenkriegszeit versammelten Organisationen wie die Stiftung Institut für Gesellschaftliche Angelegenheiten (Fundacja Instytut Spraw Społecznych ), die Polnische Gesellschaft für Sozialpolitik (Polskie Towarzystwo Polityki Społecznej ) oder das Institut für Sozialwirtschaft (Instytut Gospodarstwa Społecznego ) führende Wissenschaftler und Aktivisten, die sich mit sozialpolitischen Fragen befassten. Die Mehrheit war von den Reformen beeinflusst, die Otto von Bismarck vorher in Deutschland eingeführt hatte, und an diesen orientierten sie die polnische Sozialpolitik sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Zeit des Kommunismus ist ebenfalls ein gewisses Paradox aus der Perspektive der zivilgesellschaftlichen Aktivität. Auf der einen Seite erstickte der kommunistische Staat jegliche unabhängige Aktivitäten. Die Gesetzgebung, die die Selbstorganisation der Gesellschaft förderte, zum Beispiel Vorschriften für Stiftungen und Verbände, wurde eingestellt. Auf der anderen Seite entstanden bereits in den 1970er Jahren illegale, antikommunistische Organisationen wie 1976 das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników  – KOR ), 1977 die Bewegung zum Schutz der Menschen- und Bürgerrechte (Ruch Obrony Praw Człowieka i Obywatela  – ROPCiO ) oder die anarchisch-ironische Orange Alternative (Pomarańczowa Alternatywa ) Anfang der 1980er Jahre und nicht zuletzt die Gewerkschaftsmassenbewegung Solidarność . Letzterer gelang es sogar, von den Machthabern für eine kurze Zeit als legal anerkannt zu werden, bis diese im Dezember 1981 den Kriegszustand verhängten. Hinzu kommen zahlreiche Bewegungen und informelle Initiativen im Bereich der Kultur (Theater, Film, Musik), die unter den Bedingungen des repressiven Staates ebenfalls Enklaven zivilgesellschaftlicher Aktivitäten waren. Der Reichtum dieser Aktivitäten in der Zeit des Kommunismus war so groß, dass Wissenschaftler wie Jan Kubik zu Recht von einer "illegalen Zivilgesellschaft" sprechen.

Vor diesem Hintergrund mag die polnische Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems 1989 passiv und die zivilgesellschaftliche Aktivität im Rückgang begriffen erscheinen, insbesondere wenn man sie an der Anzahl der gesellschaftlichen Organisationen und ihrem menschlichen und finanziellen Potential misst, was im Folgenden behandelt wird. Mehr noch, wenn man berücksichtigt, dass sich die meisten der gesellschaftlichen Organisationen heute fast ausschließlich auf die Funktion des öffentlichen Dienstleisters konzentrieren, stellt sich der Eindruck ein, dass sich die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten allein auf diesen Bereich beschränken und der sogenannte Dritte Sektor nur eine Verlängerung des Angebots öffentlicher Einrichtungen ist. So könnte man schlussfolgern, dass sich die polnische Gesellschaft nach all den Jahren zivilgesellschaftlicher Aktivität gegen die Teilungsmächte und später gegen den kommunistischen Staat zu einer braven Zivilgesellschaft gewandelt hat, verpackt in registrierte Nichtregierungsorganisationen.

Der Dritte Sektor als eine Form der zivilgesellschaftlichen Aktivität in Polen

Aus verschiedenen Gründen wurde in Polen eine Zählung gesellschaftlicher Organisationen durchgeführt, die vor allem Verbände und Stiftungen berücksichtigte. Im Jahr 2018 waren 117.000 bzw. 26.000 registriert. Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass zirka ein Drittel der registrierten Stiftungen und Verbände nicht aktiv ist. Hier soll nur kurz folgende Problematik skizziert werden: Wo verlaufen die Grenzen des Dritten Sektors? Es stellt sich die Frage, ob und wie Organisationen wie Sportvereine, die Freiwillige Feuerwehr und Jagdvereine oder auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eingerechnet werden sollen, die eher Organisationen des Typs GONGO (government-organized non-governmental organizations ) sind – die also auf Initiative "von oben" entstanden oder im weiten Sinne abhängig von staatlichen Strukturen sind –, in Abgrenzung zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von der Basis entwickelt wurden. Ähnlich ist es mit kirchlichen Organisationen, die sich selbst als etwas Anderes verstehen. Das heißt, schon auf dem grundlegendsten Analyseniveau treten Dilemmata und Fragen der Art auf, wo die zivilgesellschaftliche Aktivität, die aus einer Initiativen an der Basis hervorgeht, unter den gesellschaftlichen Organisationen anzusiedeln ist und wo die andere Form der öffentlichen Aktivität beginnt, die den staatlichen bzw. kirchlichen Strukturen näher steht.

Interessant ist, wie sich die Zahl der registrierten Verbände und Stiftungen pro 10.000 Einwohner territorial verteilt, was die Landkarte im Anhang dieses Textes zeigt. Verständlicherweise dominiert Warschau, aber abgesehen davon lassen sich noch die Spuren der Teilungsgebiete erkennen. Die meisten Organisationen gibt es an der Westgrenze Polens und in den Gebieten, die ungefähr dem früheren preußischen und österreichischen Teilungsgebiet entsprechen. Hier hat sich offenbar die Tradition zivilgesellschaftlichen Engagements über Generationen aufrechterhalten.

Sehr viel genauer dokumentieren Michał Kotnarowski und Arkadiusz Preisner oder Jerzy Bartkowski (siehe Bibliographie) die Spezifik der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der Polen, denn sie gehen noch über den Bereich des Engagements in gesellschaftlichen Organisationen hinaus. Die Tatsache, dass die zivilgesellschaftliche Aktivität in den ehemaligen österreichischen und preußischen Teilungsgebieten immer noch ausgeprägter ist als im einst russischen Teilungsgebiet, ergibt sich nicht nur daraus, dass Preußen oder die Habsburgermonarchie etwas liberalere Regime waren, sondern dass sie im Vergleich zu Russland auch wirtschaftlich und administrativ viel besser entwickelt waren. Die Spuren davon lassen sich bis heute feststellen.

Die aktuellsten zugänglichen Untersuchungen (2018/2019) zur Spezifik der Tätigkeiten der Stiftungen und Verbände in Polen liegen vom Statistischen Hauptamt (Główny Urząd Statystyczny  – GUS ) und dem Verband Klon/Jawor (Stowarzyszenie Klon/Jawor ) vor. Sie zeigen, dass die Haupttätigkeitsfelder in den Bereichen Sport, Tourismus, Hobby und Erholung (35 Prozent der Organisationen) liegen; es folgen die Bereiche Kultur und Kunst (14 Prozent) und Bildung und Erziehung (13 Prozent). Einen relativ hohen Anteil machen auch Organisationen aus, die sich mit Gesundheitsbelangen befassen (acht Prozent) und mit sozialen Dienst- und Hilfsleistungen (knapp sieben Prozent). Organisationen, die nicht im Bereich der "Dienstleistungen" angesiedelt sind, die sich aber aus zivilgesellschaftlicher Perspektive mit nicht weniger wichtigen Themen beschäftigen wie Schutz der Menschenrechte oder Korruption sind eindeutig eine Randerscheinung des Drittens Sektors in Polen, obgleich es hier bekannte und geachtete Institutionen gibt, beispielsweise die Helsinki Stiftung für Menschenrechte (Helsińska Fundacja Praw Człowieka ), die Stefan Batory Stiftung (Fundacja im. Stefana Batorego ) oder das Institut für Öffentliche Angelegenheiten (Instytut Spraw Publicznych  – ISP ).

Was das Potential der Mitarbeiter und die finanziellen Möglichkeiten der Organisationen betrifft, so zeigen die Analysen des Verbands Klon/Jawor, dass die Mehrheit der Stiftungen und Verbände (63 Prozent) kein festangestelltes Personal beschäftigt, sondern auf der Basis ehrenamtlicher Tätigkeit arbeitet. Schätzungen zufolge arbeiten zirka 141.000 Personen als Festangestellte mit einer ganzen Stelle im Dritten Sektor (was hier auch andere Organisationen als Stiftungen und Verbände meint). Das entspricht 1,3 Prozent aller Beschäftigten in der Volkswirtschaft. Das durchschnittliche Jahresbudget polnischer Organisationen beträgt gut 6.100 Euro. Überwiegend kommt das Geld aus regionalen oder kommunalen Zuschüssen oder aus anderen öffentlichen Quellen (39 Prozent). Deutlich weniger erhalten die Organisationen aus Spenden oder aus Mitgliedsbeiträgen (14 bzw. drei Prozent), also aus der gesellschaftlichen Umgebung, in der sie täglich wirken. Das verdeutlicht das Ausmaß der Abhängigkeit der Organisationen vom Staat im weiten Sinne. Gleichzeitig sagt dies etwas über den Charakter der gesellschaftlichen Aktivität in den Organisationen aus. Gemäß den Kategorien des zugrundgelegten Schemas ist sie vollkommen unpolitisch und konzentriert sich vor allem darauf, den Staat oder die Selbstverwaltung da zu vertreten, wo diese mit den Problemen und Bedürfnissen der Bürger nicht zurechtkommen.

Eine Besonderheit im Finanzierungssystem der polnischen Organisationen ist die 1 Prozent-Abgabe. Diese sollte ursprünglich eine der Hauptfinanzierungsquellen für die polnischen Organisationen sein, sie besser in der gesellschaftlichen Umgebung verankern und die Spendenbereitschaft wecken. Die 1 Prozent-Abgabe erlaubt dem Steuerzahler, 1 Prozent seiner Einkommensteuer einer ausgewählten Organisation zuzuweisen (ab 2021 kann es mehr als eine Organisation sein). Die Regel lautet, dass die Organisationen frei über das zugewiesene eine Prozent verfügen können. In der Praxis hat der Steuerzahler allerdings eine gewisse Möglichkeit die betreffende Organisation zu zwingen, das Geld für ein bestimmtes Ziel einzusetzen. Meistens sind diese konkreten "Ziele" die Schutzbefohlenen der Organisation, das ist die Familie oder Bekannte des Steuerzahlers. Es würde den Rahmen sprengen, hier darzustellen, wie es zu dieser sonderbaren Konstruktion kam. Mit allem Nachdruck muss aber festgestellt werden, dass es sich um eine offenkundige Entstellung der Idee der Gemeinnützigkeit und der 1 Prozent-Abgabe handelt. Ähnliche Steuern gibt es in Ungarn, Litauen und der Slowakei, aber nur in Polen wurde sie so konzipiert, dass der Steuerzahler de facto nicht einer Organisation ein Prozent zuweist, sondern überwiegend einem konkreten Nutznießer dieser Organisation, das heißt einem anderen Steuerzahler. Die Organisation dagegen übernimmt die Funktion des Transmissionsriemens, der einen Anteil des zugewiesenen Prozentes oder Gebühren für die Transaktion erhält. In jedem anderen Staat, in dem eine solche Abgabe möglich ist, ist diese Praxis verboten. Das Geld erhält dort die betreffende Organisation und diese entscheidet, wem die Mittel als Unterstützung zugutekommen sollen oder ob sie der Organisation zur Verfügung stehen sollen. Hinter der 1 Prozent-Abgabe steht schließlich der Begriff der Gemeinnützigkeit, den die Organisationen verkörpern sollten, die für die Verwendung der öffentlichen Gelder verantwortlich sind, und nicht die Bedürfnisse und Probleme von Individuen. In Polen aber wurde die 1 Prozent-Abgabe "privatisiert". Im Ergebnis – so Daten des Finanzministeriums – ist die von den Steuerzahlern zugewiesene Gesamtsumme hoch (im Jahr 2019 waren es fast 170 Millionen Euro). Dabei ging knapp die Hälfte der Summe an 15 von zirka 9.000 Organisationen. Noch erschreckender ist, dass eine einzige Organisation fast ein Viertel (zirka 41 Millionen Euro) aus diesem Topf erhält, da sie Tausende Subkonten von individuellen Nutznießern hält. In der Praxis unterstützen die Bürger also nicht die betreffende Organisation als solche, sondern sie unterstützen sich gegenseitig (bedürftige Familienangehörige oder Bekannte, manchmal sogar wortwörtlich sich selbst). Sicherlich erreichen die Summen in der Mehrheit die Bedürftigen, doch mit Blick auf die Ziele, für die die Abgabe geschaffen wurde, handelt es sich um ein vollkommenes Fiasko. Anknüpfend an die bereits skizzierten demokratischen Erfahrungen Polens kann man sagen, dass die 1 Prozent-Abgabe der Anarchie preisgegeben wurde, so wie es einst mit der Adelsdemokratie geschehen war.

Es ließe sich noch mehr über die Verfassung der gesellschaftlichen Organisationen in Polen schreiben, doch schon dieser Ausschnitt zeigt, dass sich dieser Bereich der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten in einer Krise befindet. Die Organisationen konzentrieren sich mehrheitlich auf den Bereich der öffentlichen Dienstleistungen. Indem sie diese sichere Nische besetzen und abhängig von öffentlichen Geldern sind, geraten sie selten in Konflikt mit Behörden und der Politik. Aber sie vernachlässigen dabei, sich um die Entwicklung ihrer gesellschaftlichen Basis zu kümmern, um den Ausbau des Ehrenamtes oder die Spendenbereitschaft. Schlimmer noch: Wie im Falle der 1 Prozent-Abgabe sägen die Organisationen manchmal an dem Ast, auf dem sie sitzen. Ohne die Mitwirkung einflussreicher Organisationen käme es nämlich nicht zu dieser Deformation des Mechanismus. Doch lassen sich auch optimistischere Aspekte des zivilgesellschaftlichen Engagements in Polen darstellen.

Nicht nur der Dritte Sektor – ein etwas anderes Bild der zivilgesellschaftlichen Aktivität der Polen

Um das Bild komplexer zu machen, soll es zunächst um das Ehrenamt gehen. Wenn die Polen nach gesellschaftlichem Engagement für eine Organisation gefragt werden, dann sagen zwischen elf und 23 Prozent in Umfragen, dass sie im Zeitraum eines Jahres in dieser Form aktiv geworden sind. Meistens handelt es sich um einen einmaligen Einsatz und ein großer Teil der Polen ist nur einige Stunden im Jahr ehrenamtlich tätig, und zwar wenn die jährliche, größte Spendensammlung für die Stiftung Großes Orchester der Weihnachtshilfe (Fundacja Wielka Orkiestra Świątecznej Pomocy  – WOŚP ) durchgeführt wird (seit 1993). Aber auch abgesehen von der Arbeit für das WOŚP ist das Ehrenamt im Rahmen einer Organisation eher von kurzer Dauer und einmalig. Abhängig von der Art der Fragestellung sagen in manchen Untersuchungen sogar 43 Prozent der Polen, dass sie ihre Zeit für gesellschaftliche Arbeit in einer Organisation einsetzen, wobei hier alle möglichen Arten von Organisationen gemeint sind, von Stiftungen und Verbänden über politische Parteien bis zu kommunalen Einrichtungen.

Ein etwas anderes Bild des Ehrenamtes zeigt sich, wenn eine stärker beschreibende Frage in den Befragungen gestellt wird. Dann stellt sich heraus, dass die gesellschaftliche Arbeit differenzierter und häufiger ist, was die Tabelle "Die gesellschaftliche Tätigkeit der Polen außerhalb zivilgesellschaftlicher Organisationen" im Anhang dieses Textes veranschaulicht. Dies illustrieren auch die vertieften Untersuchungen zum Thema Ehrenamt, in denen eine Methode der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization  – ILO ) angewendet wurde und die ich gemeinsam mit dem Institut für Öffentliche Angelegenheiten und dem Zentrum zur Untersuchung der Öffentlichen Meinung (Centrum Badania Opinii Społecznej  – CBOS ) im Jahr 2011 durchgeführt habe. Seit dieser Untersuchung sind die Zahlen noch gestiegen, was andere Untersuchungen nahelegen. Hier wird deutlich, dass es ein reichhaltiges gesellschaftliches Engagement außerhalb des Drittens Sektors und seiner Organisationen gibt.

Eine andere Erscheinung zivilgesellschaftlicher Aktivität, die das Bild des Polen als passiven Bürger etwas revidiert, ist die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gestiegene Wahlbeteiligung bei den allgemeinen Wahlen des Parlaments, des Präsidenten und auf lokaler Ebene. Nicht zuletzt ist die Teilnahme an Wahlen nicht nur eines der wichtigsten Bürgerrechte eines demokratischen Staates, sondern auch eine grundlegende Form zivilgesellschaftlicher und politischer Aktivität.

Seit den Wahlen im Jahr des Umbruchs 1989, an denen knapp 63 Prozent der Wahlberechtigten teilnahmen, erreichte die Wahlbeteiligung in den folgenden Jahren selten dieses Niveau. Mit Ausnahme der Präsidentenwahlen, die ein hohes Maß an Personalisierung kennzeichnet, wurde ansonsten selten die 50 Prozent-Marke überschritten. Im Vergleich dazu fällt in Deutschland die Beteiligung selten unter 60 bis 70 Prozent (bei den Landtagswahlen selten unter 80 Prozent). Bei den lokalen Wahlen im Jahr 2018 in Polen, den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019 und den Sejmwahlen im Oktober 2019 kam es jedoch zu einer für Polen außergewöhnlichen Mobilisierung. Bei allen drei Wahlen trat eine Rekordbeteiligung ein, und zwar in Höhe von 55 bzw. 46 und 62 Prozent. Äußerst bemerkenswert war der Anstieg bei den Europawahlen, an denen vorher durchschnittlich gut 20 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen hatten, was die Polen unter die passivsten Wähler in der Europäischen Union platzierte.

Teilweise lassen sich diese Ergebnisse durch die starke Polarisierung der politischen Szene erklären, die sich nach den Sejmwahlen und den Präsidentenwahlen im Jahr 2015 Bahn brach, als das rechtsnationale Lager mit der Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość  – PiS ) an der Spitze die politische Macht übernahm. Die kontroversen Reformen der rechten Mehrheit (vor allem im Justizwesen) riefen nicht nur neue Bewegungen ins Leben, zum Beispiel das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demokracji KOD ) oder die Bürger der Republik Polen (Obywatele RP ), und führten zu Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmern, sondern weckten auch das politische Engagement der Bürger – sowohl auf der Seite der Anhänger als auch der Gegner des Regierungslagers.

Wahlforscher weisen allerdings darauf hin, dass die Mobilisierung der Polen auch tiefer liegende Gründe hat und Ausdruck eines wenn auch langsamen Reifeprozesses im politischen Bereich ist. Michał Cześnik, Rafał Miśta und Marta Żerkowska-Balas schreiben, dass seit 1989 "[…] die Wahlbeteiligung einer gewissen Stabilisierung unterliegt. Die Zahl der regelmäßig Wählenden bzw. der Nicht-Wähler wächst. Für die Wahlen im Jahr 2019 schätzen wir erstere auf knapp 15 Millionen und die zweite Gruppe auf acht Millionen (das sind 52 bzw. 29 Prozent der polnischen Wähler ab 23 Jahren). Es gibt fast 5,5 Millionen "instabile" Wähler, die mal wählen gehen und mal nicht. […] Im Jahr 2019 wurde die Anzahl der Nichtwähler zum ersten Mal niedriger geschätzt als die der Wähler." Die Polen reifen, wenn auch langsam, zu einer stärken zivilgesellschaftlichen Beteiligung im politischen Bereich.

Nach Deutschland so nah und zugleich so weit

Zum Schluss noch ein kleiner Vergleich des zivilgesellschaftlichen Engagements der polnischen und der deutschen Gesellschaft. Es gibt nicht viele Quellen, die solche Vergleiche ermöglichen, und die existierenden, wie die European Social Survey (ESS ), geben ein recht oberflächliches Bild wider. Es kann daher sein, dass es den Ergebnissen tiefer gehender Untersuchungen in einem der beiden Länder widerspricht. Dennoch erlauben die Daten des ESS , zumindest ein allgemeines qualitatives Urteil über das zivilgesellschaftliche Engagement zu fällen. Zweifellos sind Tätigkeiten wie das Unterzeichnen von Petitionen, die Teilnahme an Demonstrationen sowie an Treffen mit Politikern und Behördenvertretern, die Arbeit für eine politische Organisation und umso mehr für eine gesellschaftliche Organisation Ausdruck von zivilgesellschaftlicher Aktivität. Wie stellen sich hier Polen und Deutsche dar?

Die Schlussfolgerung aus den Daten des ESS ist eindeutig (siehe Tabelle im Anhang dieses Textes). Offenbar ist das zivilgesellschaftliche Engagement der Polen doch nicht so fragil, wie es im Alltag den Anschein hat, und gibt es viele Enklaven, wo es sehr hoch ist oder schnell zunimmt, was sich aber mit einfachen Befragungsmethoden nicht herausfinden lässt. Vielleicht zeichnen sich die Polen als Bürger durch eine zunehmende Aktivität auch im politischen Bereich aus und haben immer mehr das Gefühl, dass sie politische Angelegenheiten beeinflussen können. Allerdings reicht es noch nicht an das Niveau des westlichen Nachbarn heran. Vielleicht wird Polen den Rückstand in diesem Bereich auch nicht so schnell aufholen, denn wie die Unterschiede nach den Teilungen zeigten, resultiert die zivilgesellschaftliche Aktivität teilweise aus der wirtschaftlichen Situation: Ist diese zufriedenstellend, bleiben Kapazitäten frei, um sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Und hier besteht zwischen der polnischen und der deutschen Gesellschaft ein relativ großer Abstand. Aber sicherlich ist es auch auf weiche Faktoren wie das gesellschaftliche Vertrauen und das Vertrauen in den Staat zurückzuführen; hier verzeichnet Polen niedrige Werte. Die Polen sind außergewöhnlich kritisch gegenüber dem Staat, der Politik und dem öffentlichen Leben. Am häufigsten werden sie in Gefahrensituationen aktiv und in Konfrontation mit dem Staat.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Bibliographie

Fussnoten

Dr. Grzegorz Makowski, Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Programms forumIdei der Stefan Batory Stiftung (Fundacja im. Stefana Batorego) und Dozent an der Handelshochschule (Szkoła Główna Handlowa  – SGH ) in Warschau. Seine Forschungsschwerpunkte sind Korruption und die Antikorruptionspolitik, die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Lage der Nichtregierungsorganisationen.