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Staatsgewalt | bpb.de

Staatsgewalt

Sven Papcke

Der Staat als Selbstordnung der →Gesellschaft hat verschiedene Strukturformen durchlaufen. Seit dem Absolutismus obsiegte mit dem Konzept der Staatsräson der Ordnungstyp einer inneren Zwangsbefriedung, das die Enteignung ständegesellschaftlicher Vorrechte bedingte; gleichzeitig schuf sich die Gewaltmonopolisierung zur Strukturierung der public sphere mit dem Paradigma der Souveränität eine politische Basis, die qua Verantwortlichkeit für das salus publica anderen Begründungsmustern von Gehorsam überlegen schien. Zwar war nie alle Gewalt im Staat zu bündeln, dennoch ließ sich ein öffentlich-deliberatives Zurechnungsmuster der Ordnungsstiftung als responsive Legitimationsgrammatik entwerfen, wonach die Übertragung von Entscheidung und Gestaltung formal vom Volk (pouvoir constituant) ausgeht und von ihm durch Wahlen kontrolliert wird.

Per Administration nimmt die Staatsgewalt (pouvoir constitué) wesentliche Regelungsaufgaben wahr und ist kollektiv-rechtlich befugt, sich mit allen verfassungsgemäßen Mitteln selbst zu erhalten. Denn nur als „Staatsgewalthoheit“ (Karl v. Rotteck) kann sie, worum es jedenfalls dem liberal-demokratischen Entwurf geht, die Individualrechte nicht als bloß gewährten Verfassungs-Zierrat, sondern als subjektives öffentliches Recht schützen, qua ‚staatliche Gemeinschaft‘ gegebenenfalls vor/gegen sich selbst.

Max Weber hat daher den Staat als „Anstaltsbetrieb“ definiert, „insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“. Indem Weber jedoch dessen Legitimation mit dem „Prestige der Vorbildlichkeit“ gleichsetzt, gilt ihm die „Gewaltsamkeit“ zwar als ein für die Staatlichkeit unentbehrliches Mittel, aber keineswegs als Selbstzweck, sondern zur Geltungssicherung normativer Errungenschaften.

Das Auseinanderdriften von Zusammenhalt und Zivilität verdeutlicht indessen, dass der liberale Verfassungs-Staat nicht länger ein „Gorgonenhaupt der Macht“ (Hans Kelsen) zeigt; eher lassen sich Dezentrierungs-Tendenzen konstatieren, die nach außen wie nach innen Vollzugsschwächen bedingen. Wo Effektivitätsmängel oder Machtverdünnung auftreten, dehnen sich arcana privater Gewaltverfügung aus, die als Vandalismus, in Gestalt organisierter Kriminalität oder globalisierter Terrorismen sichtbar werden.

Es ist ein kardinales Dilemma, diesem latenten Autoritäts- und Zuständigkeitsschwund (katalytischer Staat) zu begegnen; auch die als Korruption beziehungsweise Vergeudung zu Tage tretende Regellosigkeit ist dazu angetan, die seit längerem erkennbare Demonopolisierung der staatlichen Ordnungskapazität zu beschleunigen, schon weil das Vertrauen in deren Regelungskompetenz schwindet (Staatsverdruss) und mit ihm die staatliche sowie neuerdings auch die demokratische Legitimität.

Hinzu treten Steuerungsprobleme in einer zunehmend vernetzt und kompliziert gewordenen Systemumwelt, die der Mediation oft eher bedürften als staatlicher Durchgriffe. Weil der Staat dieser Grob- und Feinsteuerung nicht länger gewachsen zu sein scheint, habe er „als Heros der Gesellschaft“ ausgedient (Helmut Willke). Gleichwohl bekräftigen die eher steigenden Gestaltungsanforderungen nicht zuletzt im Kontext neuer Risiken (Globalisierung, Klimaveränderungen, Migration, Terrorismus, Digitalisierung, Protektionismus etc.) die Unabdingbarkeit des Staates als des antiegoistischen Leitungszentrums im Anpassungs- und Umstellungsstress. Etwa im Namen der Zivilgesellschaft hofierte minimalstaatliche Muster (lean politics) wirken angesichts sich ausbreitender Vergesellungs-Defizite in und zwischen den Staaten riskant, gleichzeitig ist einer postliberalen Anorexie der Demokratie beziehungsweise einer zunehmenden Anomie staatlicherseits allein kaum beizukommen.

Aller Deregulierung zur Kosten-Nutzen-Effektivierung der öffentlichen Hände im Standort – als Steuerwettbewerb zum Trotz, benötigt die Informationsmoderne vis à vis staatenloser Marktkräfte, neuer Sicherheitsdilemmata beziehungsweise sozialer Abstiegstendenzen eine ausreichende Versorgung mit staatspolitischer Führung. Zugleich bleiben auch etatistische Modelle, die sich auf die Nachfrage nach Entscheidungskapazität und Eingriffskompetenz berufen, auf Transparenz, Konsensualität sowie höhere Outputerwartungen verpflichtet, die latent die öffentlichen Hände zu überlasten drohen.

Angesichts äußerer (open access societies versus undemokratische Systeme), innerer (Finanzierungsdefizite, Anomisierung, Zieldiffusion) sowie allgemein gesellschaftspolitischer (Technisierungsschübe) Affronts, die nicht nur unvorhersehbarer, sondern heikler werden, verändern/erweitern sich nicht nur die Aufgabenbereiche des Staatshandelns; die Daueranpassung der Verwaltungsstrukturen, und damit die Lernfähigkeit der Staatsgewalt als Letztgarant im internationalen Wettbewerb der Wertschöpfungsfähigkeit, gerät zunehmend selbst zu einem Hauptfaktor der Konkurrenz um the wealth of nations. Ohne einen hinreichend finanzierten und effektiv-aktiven Responsivitätsstaat ist die Risikozukunft kaum zu meistern. Soziale (Arbeitsarmut), politische (Fundamentalismus) respektive wirtschaftliche (Deindustrialisierung) Verspannungen der postmaterialistischen Gegenwart, die als hoch differenziertes Institutionen-Aggregat schon normalerweise kaum Integrationskräfte freisetzt, tangieren die Rollenzukunft (freistaatlich, formal demokratisch, autokratisch) des Staates selbst.

Ordopolitische Rückschritte sahen sich vom Staatsskeptizismus als Chance zur Ausweitung individueller Spielräume begrüßt; mit Blick auf die internationale Szene, die an die späten 1920er-Jahre gemahnt, lässt sich eher von Vorboten einer politischen Gestaltungskrise (Wolfgang Reinhardt) reden, die dem Staat mit der technologisch-kulturellen Dauermodernisierung ins Haus steht.

Der Innovations- und Rationalisierungsdruck stellt hohe Anforderungen an das Gewaltmonopol des Staates als Metaebene öffentlicher Entscheidungslagen. Die sozialwirtschaftliche, technologische, institutionelle ebenso wie die normative Dauererneuerung ist konkurrenzfähig, produktiv und zudem möglichst solidarisch zu inszenieren, was nur durch den aktiven Leistungsstaat möglich ist. Zugleich sind damit verbundene Friktionen/Asymmetrien abzufedern, was durch die politische Indienstnahme des Staates diesen selbst mental und verwaltungsformal einem erheblichen Reformdruck aussetzt.

Die Staatsfunktionsfrage wird letzthin durch Überforderungen des Sozialstaates (Anspruchsdynamik) brisant, die im Sinne von oboedentiam pro protectione die Gewaltmonopolisierung begleitet haben. Was aber wäre ein alternativer rule maker? Der Wettbewerb einer globalisierten Kapitalverwertung gefährdet Standorte mit höheren Kostenlasten, die zu deindustrialisieren drohen. Der gesellschaftliche Chancenpool wird geschmälert, was kognitive Dissonanzen schürt. Sie spiegeln zwar Marktautomatismen, es ist aber auch Politikversagen im Spiel; die Staatsmacht wäre mit Blick auf soziale Standards allerdings ebenso gestresst wie unter Verweis auf diffuse Gefährdungslagen, verfiele sie auf sicherheitsstaatliche Reaktionsmuster, indem versucht würde, soziostrukturellen Verwerfungen à la Orwell zu begegnen.

Die Staatsgewalt in ihrer Rolle als Ordo-Garant könnte solchermaßen ihre Funktion als Wächter der gesellschaftlichen concordia discors gefährden. Geht es doch um Befriedung qua Enteignung nicht-öffentlicher Gewaltbefugnisse, nicht aber um die Überwältigung und damit die Apathisierung ziviler Energien, die allein Gesellschaft und Staat gleichermaßen in Gang halten.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Sven Papcke

Fussnoten