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Eine tendenziöse Auffassung vom Ursprung des Zweiten Weltkrieges: David L. Hoggan | APuZ 35/1964 | bpb.de

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APuZ 35/1964 Der Zweite Weltkrieg Wie es 1939 zum Kriege kam Betrachtungen eines französischen Historikers über die Ursachen des Zweiten Weltkrieges Das „weltpolitische Dreieck Berlin -Rom -Tokio" und die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges Eine tendenziöse Auffassung vom Ursprung des Zweiten Weltkrieges: David L. Hoggan Der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 in der Sicht der sowjetischen Geschichtsschreibung Artikel 1

Eine tendenziöse Auffassung vom Ursprung des Zweiten Weltkrieges: David L. Hoggan

Mario Bendiscioli

Nadi der herrschenden Lehrmeinung über die Ursachen und den Ursprung des Zweiten Weltkrieges gaben die Kriegspläne Hitlers und darüber hinaus seine Ideologie vom Vorrang des deutschen Volkstums und vom notwendigen Lebensraum für „Großdeutschland"

den entscheidenden Anstoß. Dieses Groß-deutschland sollte wiedererrichtet werden und zwar durch eine politisch-territoriale Vereinigung aller Deutschen, deren Wohngebiete nach den Pariser Vorortverträgen den Nachbarstaaten angegliedert worden waren oder auch, was für die Deutschen Österreichs galt, einen eigenen Staat bildeten.

Diese Auffassung hat in die Handbücher der Geschichte Eingang gefunden und ist kritisch und unter Auswertung der Urkunden vom deutsch-schweizerischen Historiker Walther Hofer in seinem Buch „Die Entfesselung des zweiten Weltkrieges. Eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939"

dargestellt worden, wobei er sich auf die veröffentlichten diplomatischen Dokumente und die im Druck erschienenen Erinnerungen der Hauptbeteiligten stützte.

Eine Revision dieser Auffassung fand sich bereits in der Behandlung des Themas durch den britischen linksstehenden Historiker A. J. P. Taylor in seinem Werk „Die Ursprünge des Zweiten Weltkrieges" angedeutet. Denn Taylor hatte, um den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zu erklären, seine Aufmerksamkeit nicht nur auf die Politik Hitlers gelenkt, sondern auch auf jene des polnischen Außenministers Oberst Beck und seine unsteten Beziehungen. Beck habe einerseits Kontakte mit dem nationalsozialistischen Deutschland gepflegt, angesprochen von dessen diktatorischem und antikommunistischem, seinem eigenen verwandten Regime. Auf der anderen Seite habe er Verbindungen mit den westlichen Alliierten unterhalten, die seinem Land die Grenzen von 1919 gegeben und ihm die Vorrangstellung in der Freien Stadt Danzig eingeräumt hatten, wobei er über die unentschiedene Haltung Frankreichs und Großbritanniens in der Krise, die zu der großen bewaffneten Auseinandersetzung führte, im klaren gewesen sei Und nun hat ein nordamerikanischer Historiker, David L. Hoggan, in seinem Buch „Der erzwungene Krieg", das vorerst nur auf deutsch und in Deutschland erschienen ist, die Revision so weit getrieben, daß er die herrschende Meinung völlig auf den Kopf stellt. Danach habe nicht Deutschland den Krieg entfesselt, sondern Polen, unterstützt von der britischen Diplomatie; eindeutig gesprochen: die Verantwortung für den Krieg hätten der Pole Jözef Beck, der Leiter der Außenpolitik seines Landes von 1932 bis 1939, und der Engländer Lord Halifax, Inhaber desselben Amtes im britischen Kabinett von 1938— 1940, gehabt.

Nach Hoggan hat Hitler keinen Krieg mit Polen gewollt; lediglich die polnische Weigerung, die Danzig-Frage in dem von Deutschland vorgeschlagenen Sinne zu behandeln, habe schließlich zu der äußersten Maßnahme, dem Kriege, geführt. Kein Pole, so argumentiert der amerikanische Historiker, hätte vergessen können, daß sein eigener Staat zu einem Zeitpunkt errichtet worden war, da die Russen und die Deutschen machtlos waren, und daß sich folglich für Polen in dem Maße, wie diese beiden mächtigen Nachbarstaaten wiedererstarkten, immer größere Gefahren abgezeichnet hätten. Jedenfalls habe der frühere Oberst Beck geglaubt, die Zauberkunst zu beherrschen, die Außenpolitik seines Landes so zu führen, daß sie nicht auf die Klippen von Moskau und Berlin auflief, d. h. nicht mit deren Ansprüchen in Konflikt geriet.

Auch noch als der Führer des Reiches seit 1938 die Rückkehr Danzigs zum deutschen Staat forderte, sei Hitler weiterhin von Beck als Freund Polens betrachtet worden; er sei überzeugt gewesen, daß sich der Diktator Deutschlands niemals auf Kosten Polens mit Sowjetrußland verständigen würde. Gleichzeitig habe er für sein Teil an dem Grundsatz festgehalten, wonach es Polen niemals zulassen würde, daß Danzig — das Sinnbild der polnischen Unabhängigkeit, wenn die Stadt auch unter der Kontrolle des Völkerbundes stand — in die Gewalt der Deutschen käme. Gerade weil er überzeugt gewesen sei, daß der Fall der Freien Hansestadt auch den Zusammenbruch der Machtstellung Polens herbeigeführt hätte, sei Beck entschlossen gewesen, in der Danzig-Frage keinen Millimeter zu weichen.

Aber in dem diplomatischen Spiel, das sich angesichts des deutschen Anspruchs entspann, sei ihm ein Bundesgenosse zu Hilfe geeilt. Und dieser Verbündete konnte für Beck, der nach Hoggan die Franzosen verachtete, die Russen haßte und die Deutschen gering-schätzte, nur Großbritannien sein.

Großbritannien habe jedoch für Danzig immer eine Kompromißlösung befürwortet und zu diesem Zweck eine direkte Verständigung zwischen Polen und Deutschland begünstigt, wie 1938 in der Sudetenfrage. Deshalb habe Beck, immer nach Hoggan, um einen Druck auf die britische Diplomatie auszuüben, London glauben gemacht, er beabsichtige, sich der Achse Berlin—Rom anzuschließen. Und als die britischen Diplomaten, davon beunruhigt, einen Weg gesucht hätten, um zu verhindern, daß Polen eindeutig in die deutsch-nazistische Einflußsphäre geriet, habe London das Gerücht verbreiten lassen, deutsche Truppen hätten sich gegen die polnischen Grenzen in Bewegung gesetzt, um auf die Regierung in Warschau Druck auszuüben. Die Engländer hätten, ohne zu bemerken, daß mittlerweile Danzig der Hauptgrund für die Gegensätze in den polnisch-deutschen Beziehungen geworden war, 1939 ein Beistandsversprechen für Polen abgegeben.

Gestützt auf diese Garantie, habe Beck jede weitere Verhandlung mit Deutschland abgelehnt und schließlich darauf gedrängt, zu den Waffen zu greifen. Nach Hoggan habe aber Beck die Teilmobilmachung der polnischen Streitkräfte befohlen, ohne den Aufmarsch der deutschen Truppen an den Grenzen seines Landes abzuwarten. Er habe die Repressalien gegen die polnischen Staatsbürger deutscher Abstammung verschärft und auf diplomatischer Ebene auch die Verhandlungen über ein Bündnis mit der UdSSR, zu welchem die Briten geraten hatten, abgebrochen und damit den Weg zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 geebnet. Auch sei an Danzig, nunmehr unter nationalsozialistischer Verwaltung, ein Ultimatum mit der Drohung geschickt worden, man werde die Stadt von der Lebensmittelzufuhr abschneiden.

Auf diese Weise habe die polnische Regierung einen deutsch-polnischen Krieg unvermeidlich gemacht, indem sie erst eine andauernde Krisenlage geschaffen und sich sodann geweigert habe zu verhandeln, um die Krise zu beheben.

Hoggan stützt seine Auffassung auf eine Menge polnischer Urkunden, die jedoch nicht isoliert gesehen werden dürfen, sondern in die größeren Perspektiven des diplomatischen Notenwechsels der vielen interessierten Mächte einzureihen und von daher zu betrachten sind. In Wirklichkeit kann die Lehrmeinung, die wir dargestellt haben, als Ausdruck der isolationistischen amerikanischen Geschichtsschreibung aufgefaßt werden, die Roosevelt den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg nicht verzeihen will. Nicht zu Unrecht hat die deutsche Zeitschrift „Der Spiegel" in einer Analyse von Hoggans Buch an die revisionistische Haltung anderer amerikanischer Historiker wie Charles A. Beard, Harry E. Barnes und Charles C. Tansill erinnert. Daß Hoggans Buch philonazistischen Standpunkten entgegenkam, geht nur zu deutlich daraus hervor, daß es von dem Verlag eines Organs von Deutschen, die dem Nationalsozialismus nachtrauern, veröffentlicht wurde.

In Wirklichkeit genügt es, die veröffentlichten Urkunden nachzuprüfen, um kritisch feststellen zu können, daß der Angriff auf Polen bereits am 23. Mai 1939 von Hitler beschlossen wurde und daß von jenem Zeitpunkt an auch die diplomatische Tätigkeit auf die Isolierung Polens zielte. Der für den 26. August befohlene Angriff wurde nur verschoben dank der Intervention Mussolinis und weil die britische Garantie in ein Militärbündnis umgewandelt worden war, gerade zu dem Zeitpunkt, in welchem der Druck Londons auf Polen stärker wurde, damit es zu Verhandlungen auf der Grundlage einer Preisgabe Danzigs käme. Und auch die Teilmobilmachung, die Beck auf die am 29. August eingetroffene Nachricht vom Aufmarsch der deutschen Truppen beschloß, wurde gerade im Hinblick auf allgemeine Verhandlungen verschoben. Der Angriffsbefehl an die Wehrmacht für den 1. September erging folglich gleichzeitig mit dem polnischen Mobilmachungsbefehl. Zur Rechtfertigung seines Angriffs auf Polen hat sich Hitler niemals auf die polnische Mobilmachung berufen, was er aus propagandistischen Gründen getan hätte, wenn Hoggans Geschichtsauffassung richtig wäre.

Fussnoten

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Mario Bendiscioli, Professor für neuere Geschichte an der Universität Pavia, geb. 1903 in Passirano b. Brescia. Veröffentlichungen u. a.: Nazism versus Christianity, London 1939; La politica della S. Sede 1918— 1938, Firenze 1940 (spanische Ausgabe, Barcelona 1943); Antifascismo e resistenza, Rom 1964. Übersetzer des Buches von Gerhard Ritter, Die Weltwirkung der Reformation, Firenze 1963.