Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Der Zweite Weltkrieg | APuZ 35/1964 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 35/1964 Der Zweite Weltkrieg Wie es 1939 zum Kriege kam Betrachtungen eines französischen Historikers über die Ursachen des Zweiten Weltkrieges Das „weltpolitische Dreieck Berlin -Rom -Tokio" und die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges Eine tendenziöse Auffassung vom Ursprung des Zweiten Weltkrieges: David L. Hoggan Der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 in der Sicht der sowjetischen Geschichtsschreibung Artikel 1

Der Zweite Weltkrieg

Paul Kluke:

Ursachen und Folgen in der Sicht deutscher und ausländischer Historiker

Die Bundeszentrale für politische Bildung hat eine Anzahl deutscher und ausländischer Historiker eingeladen, sich in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" zum 25. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges zu äußern. Zwölf Beiträge von Autoren aus sechs Ländern liegen vor und werden in dieser und in der folgenden Ausgabe veröffentlicht. Einige dieser Artikel befassen sich vornehmlich mit der Vorgeschichte des Krieges und mit der Frage der Verantwortung, andere spannen den Bogen von 1939 bis zur Gegenwart.

Die vorliegende Ausgabe wird eingeleitet durch den Aufsatz eines deutschen Historikers, der bis 1914 zurückgreift und den Versuch einer historisch-politischen Gesamtschau der letzten 50 Jahre unternimmt. Es folgen einige Beiträge, die den Kriegsausbruch und die Schuldfrage zum Gegenstand haben. — Die nächste Ausgabe wird Beiträge enthalten, die rückschauende Betrachtungen mit einer Analyse der Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Gegenwart, vor allem der grundlegenden Wandlung der weltpolitischen Situation, verbinden.

Die Weltkriege und Deutschland

Erst vor wenigen Wochen gedachten wir der Tage, da ein halbes Jahrhundert zuvor der österreichische Thronfolger ermordet worden ist und nach einer mehrwöchigen Krise der Erste Weltkrieg ausbrach. Dieser Krieg war so nicht beabsichtigt. Er war befürchtet, oft erörtert, von manchen Leuten vielleicht als Ausweg aus der Verrottung und Abstumpfung einer leergewordenen Zivilisation ersehnt, aber niemals planmäßig in ein politisches Kalkül der Regierenden einbezogen worden und ist insgesamt doch mehr als eine schicksalhafte Entwicklung hingenommen worden. Aber gleichviel wie er heraufgeführt wurde, er hat die weitestreichenden Folgen gehabt; es gingen wirklich im August 1914 die Lichter über dem alten Europa aus, wie es der englische Außenminister Grey in düsterer Voraussicht damals ausgesprochen hat. Und nun jährt sich in einem Abstand eines Viertel-jahrhunderts heute der Beginn des Zweiten Weltkrieges, der für einen großen Teil der Menschheit und für unser Volk insbesondere eine noch viel schrecklichere Katastrophe her-aufgeführt hat. Doch im Gegensatz zum Ersten spielt an seiner Heraufführung viel mehr bewußte menschliche Absicht mit, ja es ist geradezu in diabolischer Vorausberechnung monatelang zuvor von Hitler der Termin des Kriegsbeginnes festgelegt und die Verschärfung der die wahre Verantwortung tarnenden diplomatischen Krise auf dieses Datum hin abgestellt worden. Wenn darum auch die Frage nach den Verantwortlichkeiten für die Auslösung des Ersten Weltkrieges die politische und die wissenschaftliche Diskussion in allen beteiligten Ländern jahrelang mit tief-Paul Kluke Die Weltkriege und Deutschland . . S. 3 John L. Snell Wie es 1939 zum Kriege kam ... S. 10 Maurice Baumont Betrachtungen eines französischen Historikers über die Uursadien des Zweiten Weltkrieges........................... S. 18 Walter Hofer Das weltpolitische Dreieck Berlin-Rom-Tokio und die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges....................... S. 24 Mario Bendiscioli Eine tendenziöse Auffassung vom Ursprung des Zweiten Weltkrieges:

David L. Hoggan..................................... S. 30 Andreas Hilgruber Der Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 in der Sicht der sowjetischen Geschichtsschreibung........................... S. 32 stem Ernst in Anspruch genommen hat, so hat es eine echte Kriegsschulddebatte beim zweiten Male gar nicht gegeben. Ein Versuch der letzten Zeit, sie in Gang zu bringen, ist in wissenschaftlichem Sinne allzu unlänglich und politisch allzu durchsichtig gesteuert gewesen, um überhaupt Beachtung zu verdienen.

In der geschichtlichen Betrachtungsweise liegt ja, oberflächlich gesehen, ein merkwürdiger Widerspruch. Sie hat es zunächst mit einem Gerüst von Jahreszahlen zu tun, Jahrhunderte oder sogenannte . runde" Zahlen werden zur Einteilung des unendlichen Stromes menschlicher Handlungen verwandt, oder sie dienen, wie in unserem Falle, dazu, an ein solch rundes Datum ein Gedenken betrachtender Rückschau zu knüpfen. Und doch ist gerade der Historiker, auch wenn er sich innerhalb eines solchen Zahlenfeldes tummelt, zutiefst von der Gleichgültigkeit oder sagen wir zumindest Zufälligkeit bloßer Zahlenbeziehungen überzeugt. Geschichte ist ihm nicht lediglich Chronik, nicht Summe von Ereignissen in einem bestimmten Zeitraum, sondern sein Bemühen geht immer wieder darauf, hinter aller blinden Vordergründigkeit des Handelns größeren Zusammenhängen nachzuspüren, Entwicklungslinien aufzuzeigen, eine verstehende Interpretation zu geben. Auch wenn nur religiöse Gewißheit der dunklen Rätselhaftigkeit menschlicher Existenz eine letzte Sinndeutung zu geben vermag, so strebt doch auch eine historische Betrachtung, die sich der Grenzen wissenschaftlichen Tuns bewußt bleibt, danach, in den menschlichen Auseinandersetzungen, die Gegenstand von Politik das und Geschichte sind, Bleibende zu entdecken, neben allen materiellen Bedingtheiten von Raum, Technik oder Sozialstrukturen das Ringen um große Ideen und um ihre Realisierung im kleinen und großen Bereich zu erkennen. . Der Geist muß wohl in allem rauschen, da jeder einzelne so schnell dahin", sagt Gottfried Benn von dem „Wogen der Geschichte“. Ja es ist gerade so, daß nach solchen Bezügen, nach dem Vorherrschen bestimmter Ideen und nicht nach schematischer Zeiteinteilung die Gliederung der Geschichte vorgenommen wird, weil sich uns erst hieraus ihr Verständnis recht erschließt Wir sprechen von einem Zeitalter der Reformation, der Aufklärung, des Liberalismus oder des Imperialismus. Zeitangaben sind nur Hilfsmittel, werden beinahe willkürlich verschoben, wie denn das 18. Jahrhundert für historisches Verständnis meist mit dem Jahre 1789, dem Beginn der großen Französischen Revolution, zu schließen pflegt. Gleicherweise gilt für das 19. Jahrhundert, daß wir es mit 1914, dem Ausbruch des Weltkrieges, enden lassen.

Denn hier liegt die große Epochenscheide, die unsere Welt, in der wir zu leben haben, von der der früheren Generationen trennt. Von hier aus treten jene Mächte und Kräfte auf, suchen jene Ideen nach einer Verwirklichung, von denen das geistige Ringen und politische Handeln der Gegenwart erfüllt ist. Die Zeit-geschichte, die ja auch nicht ein Registrieren von Tagesereignissen, sozusagen akademische Journalistik darstellt, sondern eben wie alle Geschichte und mit gleicher wissenschaftlicher Methodik dem tiefersuchenden historischen Verständnis dienen will, sie setzt hier den Grenzstein dieser unserer Gegenwart. Der Zweite Weltkrieg, dessen Gedenken den äußeren Anlaß zu unseren Betrachtungen bietet, liegt mitten in dieser Zeitspanne. Er fügt dem Gesicht der Epoche keine grundsätzlich neuen Züge hinzu, er ist nur eine gewaltige Aufgipfelung aller der Zeit schon seit längerem inneliegenden Tendenzen, er läßt sie überdeutlich hervortreten. So können wir nicht von ihm aus unsere Betrachtungen beginnen, sondern müssen weiter zum Verständnis der Gegenwart eben bis in das Jahr 1914 zurückgreifen. Noch fühlen wir uns verbunden mit den Bemühungen etwa der Weimarer Republik, bitter haben wir an der Verantwortung für den Aufstieg des Nationalsozialismus und das Dritte Reich zu tragen. Aber was verbindet uns noch mit der Zeit vor 1914, das Heute und unsere Aufgaben in diesem Heute mit dem Gestern vor 1914, das unwiderruflich vergangen ist? Wie könnten wir uns noch bemühen, etwa die gesellschaftlich-politische Struktur unseres Vaterlandes vor dem Ersten Weltkriege zurückholen zu wollen? Jene soge-nannte konstitutionelle Monarchie des Deutschen Reiches, in der ein Reichstag zwar auf breitestem Wahlrecht beruhte, aber doch nur, wie es Max Weber formuliert hat, zu einem bloßen „Bewilligungsapparat" geworden war, während alle tatsächliche Macht bei der Krone, ihrer Bürokratien und ihrer Armee lag, während ihre Gesellschaft von der halbfeudalen Struktur des großen Bundesstaates Preußen geprägt war, in welcher Adel, Beamtentum und Offizierskorps den Ton angaben? Können wir uns überhaupt noch jenes Europa vorstellen, das einmal glaubte, die Welt beherrschen und andere Erdteile als Kolonien, Siedlungsgebiete, Interessensphären seiner Groß-mächte aufteilen zu können? Jenes Europa, dessen sechs Großmächte in einem verschachtelten System von Bündnissen und Ententen das Machtschwergewicht von zwei Gruppen so kunstvoll untereinander ausbalanciert hatten?

Aber wie hat sich ein solches Aussehen der Welt in den wenigen Jahren des Weltkrieges so grundlegend gewandelt. Schon der Name des Völkerringens als eines Weltkrieges zeigt ja das Neue an. Er besagt doch, daß nicht nur die europäischen Großstaaten auch das Potential ihrer überseeischen Gebiete in das Ringen warfen, sondern daß von jetzt an, wie der Kampf weltumfassend geworden war, alle bedeutenden Entscheidungen auch die ganze Welt betreffen werden, daß sich von jetzt an kein Land mehr abschließen kann, Stellung zu den neuen politischen Ideen zu nehmen hat, sich einer Ordnung, die über souveräne Nationen hinausweist, irgendwie bekennend einfügen muß. In jenem Kriege hat zum ersten Male die Technik ihre alles zerstörende Gewalt bewiesen. Bis dahin fühlte sich der Mensch voll eines sieghaften Optimismus in einem unbegrenzten Aufstieg zu noch gar nicht erahnten Weiten und Möglichkeiten, immer als der Herr dieser Technik, nun aber wurde er ihrer schrecklichen Vernichtungskraft ausgesetzt. Der geniale Stratege durfte sich nicht mehr als Herr des Schlachtfeldes fühlen, sondern wurde zum Sklaven dieser Technik. Der Soldat wurde unter die Erde, in den Schützengraben gezwungen. Heldenmut junger vorstürmender Kriegs-freiwilliger bei Langemarck mochte sich noch gut für die patriotische Legende eignen; er war doch militärisch sinnlos geworden. Materialschlachten auf den mit Hekatomben von Menschenleibern gedüngten Schlachtfeldern, auf denen etwa bei Verdun schließlich auf wenigen Quadratkilometern eineinhalb Millionen Franzosen und Deutsche gefallen sind, sollten entscheiden, welche Armee sich zuerst verblutet hatte. Wenn die Flugwaffe damals noch in ihren Anfängen steckte, so hatte der chemische Krieg mit dem Giftgas schon eine scheußliche Perfektion erfahren. Eine Generation, die bei allen Kriegführenden mit Begeisterung in den Kampf gezogen war, in einem patriotischen Aufschwung sondergleichen, mochte sich am Ende nach vier Jahren solcher perfektionierten Vernichtung wohl die Frage stellen, ob der Krieg überhaupt noch in Zukunft ein legitimes Mittel der Politik sein dürfe. Aus solcher Einsicht fand nicht nur die humanitäre pazifistische Bewegung weiteste Zustimmung, auch die offizielle Diplomatie der Regierungen beteiligte sich schließlich ein Jahrzehnt nach Kriegsende an einem Vertrage, der den Krieg zu ächten unternahm.

Der Weltkrieg hatte begonnen als eine Kraftprobe von Großmächten alten Stiles. An seinem Ende aber schälten sich drei Erscheinungen als überragende, alle künftige Entwicklung bestimmende Tendenzen ab: der Anspruch erwachender kleinerer Völker, der Nationalitäten generell auf Mitwirkung im internationalen Spiel; die sozialistische Idee, die in der Ausprägung des Bolschewismus nach dem Siege der russischen Oktoberrevolution ein Weltreich umzuformen unternahm;

endlich die Herausstellung der Demokratie als der Staatsform reifer Völker. Wohl hatte Westeuropa sie bereits ausgebildet, aber erst mit dem Heraustreten der Vereinigten Staaten aus der bisherigen selbstgenügsamen Erschließung ihres Kontinents, und zwar mit dem bewußten Heraustreten unter einem demokratischen Missionsauftrage, erhielt der Gedanke weltweite Kraft. Mit diesen Tendenzen hatte sich fortan jedwede deutsche Regierung als mit den Lebensfragen der Zeit auseinander-zusetzen. Deutsche Geschichtsbetrachtung hat gern die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als das Zeitalter der Nationalbewegung charakterisiert, obwohl sich damals neben der deutschen ja nur die italienische Nationalstaats-bildung durchgesetzt hat. Gewiß, es liegt darin, gerade vom deutschen Gesichtspunkt aus, eine Selbstbescheidung. Es wird anerkannt, ganz im Sinne des Baumeisters des deutschen Kaiser-reiches, Bismarcks, daß die deutsche National-bewegung mit der kleindeutschen Reichs-gründung zum endgültigen Abschluß gekommen ist, daß sie nicht über die Grenzen von 1871 mit einer groß-oder gar alldeutschen Motivierung hinauszugreifen beabsichtigt. Das ist ein Maßhalten in überragendem Erfolge gewesen, das von Bismarck aus noch fast ein halbes Jahrhundert die amtliche deutsche Diplomatie und auch weiteste Kreise des Volkes bestimmt hat. Es liegt aber in einem solchen Epochenverständnis ebenso auch der Keim zu einer Nichtberücksichtigung von Ansprüchen anderer Völker, etwa verunglückter Nationen wie der Polen oder erwachender Völker, die doch auch ihrerseits nach einer angemessenen Berücksichtigung auf internationalem Felde, wenn nicht nach souveräner Staatlichkeit strebte. Für sie aber war in dem alten europäischen Staatensystem und in dem geschichtlich-politischen Denken des deutschen Volkes noch kein Platz. Für Bismarck war das alte Habsburgerreich, der Vielvölkerstaat im Donauraum, ein Eckstein seines Bündnis-systems gewesen. Ebenso haben alle seine Nachfolger auf dem deutschen Kanzlerstuhle seine ungeschmälerte Existenz auch als eine deutsche Lebensfrage angesehen. Bethmann Hollweg hat dafür den Krieg auf sich nehmen zu müssen geglaubt. Dieser Habsburgerstaat aber war schon längst seiner Nationalitäten-sorgen nicht mehr Herr geworden und hatte sich nur noch mit dem Notstandsparagraphen regieren können. Unter solchem inneren Druck waren die Autonomieforderungen der habsburgischen Völker nur noch gewachsen, während doch die Nationalisierung des Balkans im Gefolge des Zusammenbruchs der türkischen Herrschaft und die erste russische Revolution von 1905 der Idee der Selbstbestimmung eines jeden Volkes noch mehr Nachdruck verliehen. Der Verlauf des Weltkrieges aber ließ alle Nationalitätenwünsche erst recht anschwellen, und jetzt wurden natürlicherweise die erwachten Völker zu unbedingten Gegnern Habsburgs und seiner rein restaurativen Politik und damit notwendigerweise auch seines deutschen Verbündeten. Die Führer dieser jungen Völker gingen in die Emigration und fanden sich in den Hauptstädten der Entente. Schließlich entwarf der geistig bedeutendste von ihnen, Thomas Masaryk, die Programmschrift eines „Neuen Europa“, das sich nach dem Zusammenbruch von multinationalen Staaten nur noch aus freien, sich selbst verwaltenden Völkern zusammensetzen sollte und das in einer über den Einzelstaaten stehenden, ausgleichenden föderalen Organisation seine Vollendung finden sollte. Es war eine Bewegung, die hervorbrach mit der elementaren Gewalt eines Naturtriebes, seiner Kraft und auch seiner Unbedenklichkeit gegen alle Folgen. Aber bis zum Kriegsende glaubte die deutsche Politik, sie negieren zu können. Das galt nicht nur gegenüber dem Habsburgerreiche, das in seiner alten Form zu erhalten war, sondern auch im eroberten Ostraum, bei dessen Neuordnung durch den Frieden von Brest-Litowsk die dortigen Nationen, die Polen an der Spitze, mit einer nur dünn verschleierten Scheinautonomie in einem deutschen Herrschaftsraum abgefunden werden sollten.

Ganz anders verhielten sich dazu die anderen beiden Potenzen, die von nun an das internationale Kräftespiel maßgeblich beeinflußten: die amerikanische Demokratie und der Bolschewismus. Sie waren ohnehin allein schon vom Raum her zu den Weltmächten der Zukunft prädestiniert. Trotzdem aber suchten sie beide auch von der politischen Idee her ein Bündnis mit der Nationalitätenbewegung zu begründen. Der Bolschewismus hat nicht nur von seiner marxistischen Grundlage her einen Weltauftrag übernommen und seinen Sieg im russischen Reich als den ersten Schritt der siegreichen sozialistischen Weltrevolution verstanden, er hat mit dieser Mission auch eine Lehre der Völkerbefreiung zu verknüpfen unternommen. Es war Lenins geniale propagandistische Waffe, daß er soziale und nationale Bestrebungen als verschiedene Ausdrucksformen des einen allgemeinen Grundproblems zu sehen lehrte, eben der Befreiung der Menschheit aus der bürgerlich-kapitalistischen Welt. Dabei hat er zu Beginn der bolschewistischen Revolution den nationalen Autonomiebestrebungen in dem Vielvölkerraum des ehemaligen Zarenreiches vollste Anerkennung gegeben bis hin zum Recht des Ausscheidens aus dem bisherigen Staats-verbände. Dies Recht ist ja tatsächlich auch in den westlichen Randzonen, in Finnland wie in den baltischen Gebieten, mit Erfolg in Anspruch genommen worden. Im weiteren Verlaufe der Revolution, in der Befestigung der bolschewistischen Herrschaft konnte man allerdings einen Schritt weitergehen, um einem fortschreitenden Reichszerfall aus der allzu nachdrücklichen Realisierung eines ideologischen Programmpunktes entgegenzutreten. Es wurde nun der Begriff des Volkes, der Nation, noch weiter differenziert und den neuen politischen Zweckmäßigkeiten angepaßt. Es wurde die Frage gestellt, wer denn zur Repräsentanz einer Nation, zum Sprecher ihres wahren Willens, berufen sei, und es wurde die unter dem kommunistischen Geschichtsverständnis naheliegende Antwort gegeben, daß dies nur die Arbeiterklasse, natürlich ihre erwachten, einem echten Sozialismus zugewandten Vertreter sein könnten. Damit ließ sich aus dem wahren Rechte eines Volkes auf Selbstbestimmung statt einer Lostrennung nun auch ein unauflösliches Bündnis zwischen einem aus der Arbeiterklasse repräsentierten Volke und dem Mutterlande der schon siegreichen Revolution herstellen. Diese Umprägung der Ideo-logie mit ihren mannigfachen praktischen Anwendungen im innen-und außenpolitischen Ringen der Sowjetunion ist wohlbekannt. So erübrigt es sich, ihr im einzelnen nachzugehen, um auch ihre ganze Fragwürdigkeit bis hin zur brutalen Unterdrückung nationalen Freiheitsstrebens darzulegen. Es bleibt trotz allem für das Verständnis der folgenden politischen Entwicklung im osteuropäischen Raum wesentlich, sich die unerhörte Geschmeidigkeit einer Doktrin zu vergegenwärtigen, die auch die Naturkraft des nationalen Gedankens sich einzugliedern suchte.

Demgegenüber bedurfte die Verbindung der amerikanischen Haltung auf internationalem Felde mit der Förderung des Nationalgedankens keiner gewagten ideologischen Umdeutung. Sie war naturgegeben, es war Geist von gleichem Geiste, Übertragung der innenpolitischen Ideale, aus denen die Vereinigten Staaten im Laufe von anderthalb Jahrhunderten sich geformt hatten, nun auch auf die Außenpolitik. Sie konnte zwanglos erfolgen, als Präsident Wilson sein Land endgültig aus der Isolierung herausführte und das amerikanische Eingreifen auf dem europäischen Kriegsschauplätze in der zweiten Hälfte des Weltkrieges zu dem Anlauf benutzte, der Welt insgesamt eine neue Ordnung zu geben. Er wurde, unter ausdrücklicher Distanzierung von den Westmächten und ihren Großmacht-vorstellungen, damit viel näher an die kleinen europäischen Nationen und ihre Ansprüche herangeführt. Seiner Idee der allgemeinen Durchsetzung der Demokratie in der neuen Weltordnung und der Selbständigkeit aller politisch reifen Völker, in der Gebundenheit der freiwilligen Anerkennung nachbarlicher Rechte — der Individuen und der Völker — entsprach als Gegengewicht zu solcher auflockernden Politik zugleich die Befürwortung einer über den souveränen nationalen Staaten stehenden internationalen Ordnungsinstanz, eines Völkerbundes als einer allgemeinen Weltliga. Seiner Schaffung noch vor der Neuzeichnung der europäischen Landkarte galten die ersten und ganz persönlichen intensiven Bemühungen des nach Europa gekommenen Präsidenten; er wollte aus der Liga eine wirklich starke Institution machen: »Ein neues Lebewesen ist da“, so verkündete er stolz den in Paris versammelten Staats-männern der Mächte, als er ihnen die Satzung des Völkerbundes vorlegte.

Das waren die neue Welt, die politischen Ideen, die aus dem Chaos des Ersten Weltkrieges emporstiegen. Sie mußten sich, zumal in ihrer Ausprägung durch die Ordnung der Pariser Vorortverträge, alle Umbiegungen und Gewaltsamkeiten gefallen lassen, die noch von je geistige Werte auf politischem Felde erfahren haben, wo sich hart im Raume die Sachen und die Interessen stoßen. Das wurde um so bedenklicher, als auch die amerikanische Demokratie noch einmal sich in die freiwillige Isolierung zurückziehen zu können glaubte und damit dem Völkerbund schon in seiner Geburtsstunde fast den Todesstoß versetzte. Aber trotzdem, die Ideen waren stark und zukunftsträchtig, sie ließen von nun an kein Land mehr los, sie zwangen einen jeden verantwortlichen Staatsmann, sich nach den geistigen und realen Gegebenheiten seines Volkes mit ihnen auseinanderzusetzen.

Darin sehen wir, unter dem größeren Abstand zu dem Geschehen, in welchem die heutige Betrachtung steht, auch das Thema der Geschichte des deutschen Volkes in diesem Zeitraum insgesamt, ja hier kommt es noch viel eindringlicher heraus, als eben dieses Volk mitten zwischen den Ideen und den Macht-strömen lag und nicht mehr allein aus eigener Tradition leben konnte. Diese prinzipielle Thematik änderte sich nicht zwischen den Weltkriegen, trotz der diametralen Andersartigkeit von Weimarer Republik und nationalsozialistischer Diktatur. Gewiß war es herab von der stolzen Höhe des Reiches vor dem Zusammenbruch ein schweres Einleben in die neue Weltsituation nach 1918, um so mehr, als ein großer Teil des deutschen Volkes nur geneigt war, den Blick auf Versailles und auf das dem deutschen Volke dort angetane „Unrecht“ zu richten. Demgegenüber war es die große Leistung der Politik Gustav Stresemanns, nun auch eine der neuen Weltlage gemäße Konzeption zu entwickeln und sie behutsam Schritt für Schritt, unter vielen Enttäuschungen zwar und doch unbeirrt, in die Wirklichkeit umzusetzen. Aber er hatte einzusehen gelernt daß demokratischer Gedanke, Nationalitätenrecht und Selbstbestimmung durchaus im Einklang mit den deutschen Lebensinteressen der Gegenwart und Zukunft standen, und umgekehrt, daß eine an ihnen orientierte deutsche Politik im Einklang mit den Grundströmungen der Weltentwicklung stand. Sogar mit der Sowjetunion konnte in den Anfangsjahren der Befestigung des Bolschewismus eine außenpolitische Übereinstimmung erreicht werden, ohne demokratische Ideen preiszugeben. Deutschland konnte seine naturgegebenen Lebensinteressen verfolgen und hatte doch in sinnvoller Einordnung einen ehrenvollen Platz im Rate der Völker wieder eingenommen.

Als Hitler an die Macht kam, da hat er auf dieser wohlbegründeten Basis lange sich bewegen, von hier aus gut gedeckt die Umstellung seiner Politik auf eine ganz andere Zielsetzung vornehmen können. Er war elf Jahre jünger als Stresemann und doch in seiner ganzen Vorstellungswelt hinter der neuen Weltsituation, die sich aufgetan hatte, zurückgeblieben. Seine Grundanschauungen hatten sich in der ausgehenden Donaumonarchie des erbitterten Nationalitätenhaders und in der deutschen Krise des unmittelbaren Zusammenbruchs geformt; es waren abgestandene und mit der Simplifizierung noch verhängnisvoller wirkende Gedankenfetzen des 19. Jahrhunderts, die sich dann im gellenden Chauvinismus des Agitators zu dem Aufruf zum Lebensraumkampf zusammenfügten. Hitler mochte in den Jahren seines politischen Aufstiegs und auch in den Vorbereitungsjahren als Reichs-kanzler bis hin nach München eine oftmals diabolisch-geniale taktische Geschicklichkeit entwickeln — die politische Strategie und ihre ideologische Grundlage waren verhängnisvoll verfehlt vom ersten Tage an und zum Untergang notwendig verurteilt. Denn er setzte sich nicht nur gegen einzelne Staaten, sondern gegen die drei großen politischen Triebkräfte der Zeit in Widerspruch. Er forderte sie schließlich alle zugleich zum Entscheidungskampf heraus und brachte damit ihre zeitweilige Allianz zustande. Aber nicht nur die in den Weltmächten der Sowjetunion und der Angloamerikaner verkörperten politischen Lebensformen behaupteten ihre Überlegenheit. Auch die dritte Potenz, der nationale Lebenswille bewies selbst in kleineren Völkern im unmittelbaren Bereich des machtberauschten Diktators eine unüberwindliche Stärke und trug mit den nationalen Widerstandsbewegungen durch ganz Europa zum Untergang Hitlers bei. Die nationalsozialistische Kriegs-unternehmung, in sich eine politisch-moralische Verblendung, wurde vollends ein Verbrechen infolge der Entwicklung, die die Technik seit dem Ersten Weltkrieg genommen hatte. Ihre Mittel schlossen jetzt bereits umfassende Vernichtungsmöglichkeiten ein. Sie dienten auch nicht . nur“ zur weiteren Perfektionierung der Kriegsmaschine, sondern einem Hitler zum millionenfachen Verbrechen des Rassenmordes, und sie konnten auch den Flammensturm über Europas Städte, von Rotterdam und Coventry bis hin nach Hamburg und Dresden entfesseln. Es war schon ein düsteres Vorspiel des Atomtodes, der als ständige Drohung seit Hiroshima über der Menschheit lastet.

So kam mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, in der von Hitler aufgezwungenen Identifizierung von Führer, Nationalsozialismus und deutschem Volke, die große Katastrophe über das deutsche Volk und seine geschichtliche Leistung von tausend Jahren.

Sie ließ in der Tiefe des Unglücks zuerst am Sinn der deutschen Geschichte, vielleicht am Sinn der Geschichte überhaupt verzweifeln. Sie hinterließ auch trotz der äußeren Erholung des westlichen Rumpfdeutschland in der Arbeit von zwei Jahrzehnten die Tragödie der Zerreißung, und sie stellt uns als bleibende Aufgabe das ständige Neudurchdenken unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart. Ihr wenden sich letztlich alle Überlegungen zu, die von den Erinnerungsdaten dieser Wochen, dem Suchen nach den Ursachen und Verantwortlichkeiten der beiden Weltkriege, heraufbeschworen werden. Allgemein ist die Über-zeugung geworden, daß niemals mehr ein Krieg irgendein politisches Ziel herbeiführen kann und soll. Reichskanzler Bethmann Hollweg, der in seiner Persönlichkeit alles andere als ein vom Machtrausch erfaßter Politiker gewesen war, mochte 1914 noch einen Krieg als eine letztlich unausweichliche Pflicht ins Auge fassen. Als vor Präsident Kennedy in der Kuba-Krise sich die große Frage auftat, da war der Brennpunkt seiner Überlegungen, daß ein voreiliger oder falscher Schritt die Auslöschung von 300 Millionen Menschen in Ruß-land, Europa und Amerika bedeuten würde Der Krieg als Mittel, als Fortsetzung der Politik, ist ausgeschaltet. Politisches Handeln ist aber darum nicht ärmer, kürzer, beschränkter geworden. Im Gegenteil, der politische Bereich dehnt sich erst recht auf alle Lebensäußerungen aus. Und es ist nur eine scheinbare Stagnation, zu der manche Probleme dadurch verurteilt werden, weil für sie zur Zeit eine gerechte, allen Beteiligten annehmbare Lösung noch nicht sichtbar wird. Die Formulierung von der „Lösung — so oder so“ war eines der verhängnisvollsten Worte, das uns aus der Zeit der Gewaltsamkeiten noch im Ohr nachklingt. Die Notwendigkeit der Koexistenz aber gebietet eine andere Art des Handelns. Das gilt mit vielem andern auch von der Tatsache der deutschen Teilung, die wir nun als das schwerste Erbe aus dem am 1. September 1939 in Gang gesetzten Kriege übernommen haben. So wenig aber eine schnelle Lösung für die Wiedervereinigung abzusehen ist, so sehr wissen wir uns mit dieser Forderung, die auf dem Selbstbestimmungsrecht eines reifen Volkes beruht, doch auch im Einklang mit der großen, alles durchwaltenden Idee unserer Zeit. Der Krieg war von Hitler einst gegen die Zeit begonnen worden — die aus ihm hervorgegangene Grundforderung einer deutschen Politik der Gegenwart aber steht mit den Grundströmungen der Zeit in Übereinstimmung.

Gerade eine historische Besinnung, die sich in schonungsloser Eindringlichkeit der Katastrophen unserer Geschichte in den zwei Weltkriegen von 50 und 25 Jahren und der deutschen Mitverantwortung daran, vor allem an dem zweiten Kriege, zuwendet, läßt uns darum in diesen Gedenktagen auch wohlberechtigte Hoffnung für die Zukunft schöpfen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Paul K 1 u k e , Dr. phil., Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Frankfurt; geb. 31. Juli 1908 in Dabendorf, Kr. Teltow/Mark. Veröffentlichung u. a.: Vom Weg einer Idee der Geschichte, Göttingen 1963.