Zur Situation der Immigrantenbevölkerung in Großbritannien
Karlheinz Dürr
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Zusammenfassung
Seit dem Beginn der achtziger Jahre kommt es in Großbritannien immer wieder zu Rassenunruhen und rassistisch motivierten Überfällen. Sie kennzeichnen eine Situation, in der die Einwanderung aus dem sogenannten „farbigen“ Commonwealth zunehmend als soziale Belastung empfunden wird. Liegt die Ursache für diese Einwanderung in der kolonialen Vergangenheit des Landes und in einer lange Zeit relativ liberalen Immigrationspolitik, so ist die Unfähigkeit der britischen Gesellschaft, die sozialen Folgeprobleme dieser Einwanderung zu bewältigen, primär den wirtschaftlichen Problemen des Landes zuzuschreiben. Der Beitrag zeigt die historische Perspektive der britischen Einwanderungsproblematik auf und untersucht die Situation der Immigrantenbevölkerung im Hinblick auf ihre Rechtsstellung, ihre Chancen im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt sowie ihre sozialen Lebensbedingungen am Beispiel der Wohnverhältnisse. Dabei wird deutlich, daß die gesellschaftliche Ablehnung der Fremden zu gravierenden Benachteiligungen der Immigrantenbevölkerung in praktisch allen relevanten Lebensbereichen führt. Anhand der Reaktionsformen der Immigranten läßt sich aufzeigen, daß die besonders im abweichenden Verhalten eines Teils ihrer Jugend sich manifestierende Ablehnung gegen ein gesellschaftliches Konformitätsansinnen gerichtet ist, das ihre spezifischen ethnischen und kulturellen Hintergründe völlig ignoriert. Im Hinblick auf die Einschätzung einer „kulturellen Inferiorität“ der Immigranten durch die einheimische Bevölkerung ist die gesellschaftspolitische Entwicklung mit Pessimismus zu betrachten. Die Marginalisierung der Immigrantenbevölkerung wird — im Gegensatz zu den politischen Bekenntnissen — in dem Maße voranschreiten. in dem sich im Zeichen der ökonomischen Krisenlage die gesellschaftliche Weigerung verfestigt, die Immigranten am knapper werdenden (und zunehmend ungleich verteilten) Nutzen des nationalen Wirtschaftspotentials teilhaben zu lassen.
I. Einleitung
Im Sommer 1986 verschärfte die britische Regierung die Immigrationskontrollen für alle Einreisenden aus Ländern des indischen Subkontinents. Die neue Regelung stellt einen weiteren Versuch dar, die Möglichkeiten zur Einwanderung in Großbritannien sukzessive zu reduzieren — eine Politik, die — wie in anderen Ländern der westlichen Welt — in den letzten Jahren forciert wurde. Das Land leidet nunmehr seit drei Jahrzehnten an der Nichtbewältigung eines zeitweise immensen Einwanderungsproblems, dessen Ursachen bis in seine koloniale Vergangenheit zurückreichen. Die Einführung der Visumspflicht für Reisende vom indischen Subkontinent kennzeichnet eine Situation, in der das Erbe des britischen Empire zunehmend als soziale Belastung empfunden wird.
Vor allem die Einwanderung aus Bangladesh, aber auch aus Indien, Pakistan und Sri Lanka stellt für die britische Immigrationspolitik das derzeit brisanteste Problem dar. Zusammen mit der Einwanderung aus der Karibik, die schon in den fünfziger Jahren einsetzte, entstand in Großbritannien ein sozialpolitisches Konfliktpotential, das vor allem vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Niedergangs des Landes und der daraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit zu scharfen Polarisierungen in der Gesamtbevölkerung beigetragen hat. Das Ergebnis sind Rassenspannungen, Unruhen und Diskrimination in allen gesellschaftlichen Bereichen, seien es nun Bildung, Beruf oder mitmenschliches Verhalten. Der britischen Gesellschaft wird ein — zumindest latenter — Rassismus vorgeworfen, der sich in der Gegenwart verfestigte, der aber jedenfalls in eklatantem Widerspruch zu dem Ruf der Toleranz steht, den das Land genießt. Denn Großbritannien gilt seit langem — und vor allem auch in Zeiten politischer Umwälzungen und Verfolgungen auf dem europäischen Festland — als stabiles politisches System, als tolerante Gesellschaft, als Hort der Zuflucht in der Not. Toleranz hat in der Tat Tradition: Nur in den USA ist beispielsweise das Nebeneinander verschiedener Religionen und Sekten so ausgeprägt wie in England (dort allerdings auch als Ergebnis gerade einer spezifisch intoleranten Haltung im England des 18. und 19. Jahrhunderts). Doch mindestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist religiöse Toleranz etabliert und unangefochten. Ähnliches gilt für das menschliche Verhalten schlechthin: Absurdes, Snobistisches, Spinniges, Extremes — sie finden in Großbritannien eine milde lächelnde, nicht aber abweisende Gesellschaft. Doch auch hier sind Ausnahmen gegeben: Wenn sich dieses Andersartige noch innerhalb bestimmter, kaum definierbarer Werte und Normen vollzieht (über die dennoch ein klarer Konsens zu bestehen scheint), herrscht Verständnis vor; steht es aber außerhalb oder sondert es sich bewußt ab, ist es dazu noch der britischen Kultur und Zivilisation wesensfremd, stößt es auf Ablehnung. Die spezifische Brisanz allerdings, die die britische Immigrationsproblematik kennzeichnet, liegt in der Tatsache begründet, daß innerhalb der Gesamtproblematik der Aspekt der Diskriminierung der Fremden überlagert wird von der gesamtgesellschaftlich ungleich problematischeren Rassen-frage.
In den folgenden Ausführungen soll versucht werden, die Spannungszustände der britischen Gegenwartsgesellschaft in bezug auf die Immigrationsproblematik herauszuarbeiten. Daß diese Zustände auch vom Gesamtzustand der britischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft geprägt werden, liegt auf der Hand. Darüber hinaus werden sie jedoch auch von den spezifischen historischen Bedingungen der ehemaligen Imperialmacht Großbritannien beeinflußt. Auf die ausführliche Darstellung dieser historischen Einflüsse muß hier aus Gründen des Umfangs allerdings verzichtet werden. Ein kurzer Überblick über die Geschichte der Einwanderung in Großbritannien ist jedoch unverzichtbar. Der Hauptteil der Analyse wird sich der konkreten Situation der Immigrantenbevölkerung einerseits und den verschiedenen Reaktionsformen der Betroffenen auf ihre „Ausgrenzung“ andererseits zuwenden. Im Schlußteil schließlich sollen einige Überlegungen zur gesellschaftlichen und politischen Bedingtheit der Marginalität der ethnischen Minderheiten angestellt werden.
II. Historische Aspekte der Immigration
Abbildung 11
Arbeitslosenrate nach ethnischen Gruppen, Frühjahr 1984, in % 6) Nationaler Durchschnitt Weiße West-Inder Inder Pakistani, Bangladeshi Männer 11, 5 11 29 13 34 Frauen 10, 5 10 17 18 40
Arbeitslosenrate nach ethnischen Gruppen, Frühjahr 1984, in % 6) Nationaler Durchschnitt Weiße West-Inder Inder Pakistani, Bangladeshi Männer 11, 5 11 29 13 34 Frauen 10, 5 10 17 18 40
Großbritannien hatte im Laufe seiner Geschichte mehrere große Immigrationsschübe zu verkraften. Französische, jüdische und irische Einwanderer in den vergangenen Jahrhunderten, deutsch-jüdische, karibische, femasiätische und afro-asiatische Einwanderungen in diesem Jahrhundert. Auch auf Kontinentaleuropäer übte das Land lange Zeit große Anziehungskraft aus, so besonders in den sechziger Jahren, als die Arbeitsmarktsituation noch günstig war. London gehörte damals zu den Metropolen der aufsteigenden Jugendkulturen — eine Stadt, die in ihrer Gegensätzlichkeit von Tradition und Fortschritt einen von der bürgerlichen Normalität sich lösenden Lebensstil ermöglichte.
All diese Wellen hinterließen ihre Spuren. Noch heute zeugen Adelsnamen französischen Ursprungs von der durch die revolutionären Ereignisse in ihrer Heimat erzwungenen Einwanderung französischer Adliger (von denen die meisten allerdings nach dem Ende der Revolution wieder in ihre Heimat zurückkehrten). Von den jüdischen Einwanderern, die hauptsächlich aus Mittel-und Osteuropa kamen und von denen schon Ende des 18. Jahrhunderts allein in London rund 20 000 unter teilweise elenden Bedingungen hausten, fanden viele in Geldverleih und Bankwesen ein Betätigungsfeld, das ihnen im Laufe der Zeit einen gewissen Wohlstand sicherte, ohne daß sie ihre ethnische Identität hätten aufgeben müssen. Tatsächlich stellte die Einwanderung jüdischer Finanziers und Bankiers (vor allem aus dem wirtschaftlich niedergehenden Holland) einen wesentlichen Faktor für die Entwicklung der „Londoner City“ dar: Für internationale Finanztransaktionen brachten sie in ihren grenzüberschreitenden Bindungen geradezu ideale Voraussetzungen mit.
Ganz anders die Iren: Diese Einwanderer, die im Gefolge von Fehlernten und Hungersnöten und angelockt von den Verheißungen der aufsteigenden Industrienation England ihre Insel verließen, wurden von der einheimischen Bevölkerung lange Zeit nicht akzeptiert. Der Grund hierfür muß zum einen darin gesehen werden, daß sie einen extrem niedrigen Lebensstandard mit sich brachten, der auch die Bereitschaft einschloß, für äußerst geringe Löhne zu arbeiten. Sie „unterboten“ damit die ohnehin schlechten Arbeitsbedingungen des aus den ländlichen Gebieten Englands in die Industriezentren gewanderten einheimischen Proletariats. Sowohl in London als auch unter den Landarbeitern kam es wiederholt zu größeren Feindseligkeiten gegenüber den Iren — eine Animosität, die schließlich auf den Katholizismus schlechthin übertragen wurde und die auch den Hintergrund der antikatholischen Unruhen nach 1780 (die „Gordon-Riots“, die Dikkens in „Barnaby Rudge“ beschreibt) darstellte. Extreme Armut blieb den Iren auch im englischen Asyl nicht erspart: Sie bildeten in der Tat die eigentliche industrielle Reservearmee, das eigentliche Subproletariat der Industriellen Revolution. Zum anderen begegneten die Iren wohl auch der englischen Bevölkerung mit größter Zurückhaltung, wenn nicht gar mit Feindschaft — eine historisch bedingte Reaktion, die in der jahrhundertelangen brutalen Unterdrückung des Eigenständigkeitswillens der Iren durch den „innerbritischen Kolonialismus“ der Engländer ihre Begründung findet.
Während die Zuwanderung aus Irland zwar mit periodisch unterschiedlicher Intensität, aber in historischer Sicht doch relativ kontinuierlich verlief, zeigen sich bei den übrigen Immigrantengruppen „Wellen“ -Formationen. Zwischen 1890 und 1914 wie auch zwischen 1933 und 1945 fanden weitere jüdische Einwanderungswellen statt. Nach 1955 verlagerte sich der Schwerpunkt der Einwanderung auf Immigranten aus der Karibik (Jamaika), erfaßte aber zunehmend auch Migranten aus anderen Commonwealth-Staaten wie Indien. Auslöser dieser Einwanderung war eine massive Anwerbekampagne der (Londoner) Verkehrsbetriebe sowie der britischen Schwerindustrie, die in jenen Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs in dem Maße unter einem zunehmenden Arbeitskräftemangel zu leiden hatten, in dem die einheimischen Arbeitskräfte mit steigendem Bildungs-und Wohlstand in weniger eintönige und schmutzige Berufe drängten. In den sechziger Jahren wurde Großbritannien zum Zufluchtsort für mehrere Gruppen politischer Flüchtlinge, so vor allem für die aus Kenia vertriebenen Asiaten, ferner für Migranten aus West-und Ostpakistan, Indien und anderen asiatischen Ländern. Weder für die siebziger noch für die achtziger Jahre läßt sich eine eindeutige Dominanz einer Einwanderergruppe ausmachen. Die Einwanderung aus dem „farbigen“ Commonwealth ist rückläufig — wohl auch ein Ergebnis der zunehmend restriktiven Immigrationskontrolle. Der Anteil der Einwanderer aus diesen Ländern, der 1976 wie auch 1981 noch jeweils 23% betragen hatte, fiel bis 1985 auf 15 %. Demgegenüber erhöhte sich der Anteil der britischen Staatsbürger an der Gesamteinwanderung von 39 % (1981) auf 47 % (1985) 1985 verzeichnete Großbritannien bei der Wanderung britischer Staatsbürger erstmals einen positiven Saldo. Trotz dieser Einwanderungsschübe hatte Großbritannien bis zum Beginn der achtziger Jahre auch immer wieder beträchtliche Migrationsverluste zu verzeichnen. Noch 1981 emigrierten 80 000 Menschen mehr als das Land aufnahm (Einwanderung: 153 000; Auswanderung: 233 000). Seit 1984 ist der Migrationssaldo wieder positiv; 1985 betrug die Nettomigration rund 60 000 Menschen (Einwanderung: 232 000; Auswanderung: 174 000) Gegenwärtig leben in Großbritannien 2, 4 Mio. Farbige (4, 4% der Gesamtbevölkerung). Die Altersstruktur dieser Minderheitengruppe (34% sind unter 15 Jahre alt gegenüber 20 % der Weißen) stellt das Land vor beträchtliche sozial-und bildungspolitische Probleme.
Diese Entwicklungen sind auch in wirtschaftlicher Hinsicht von großer Bedeutung. Die für das Wirtschaftspotential des Landes negative Konsequenz der bisherigen Migrationsbewegungen bestand in der Tatsache, daß das Land eine große Zahl un-odergering qualifizierter Menschen aufnahm, durch die relativ hohe Wanderungsbereitschaft der Briten in die Länder des „alten“ (weißen) Commonwealth (Australien, Kanada, Neuseeland, Südafrika) jedoch vor allem gut ausgebildete Arbeitskräfte verlor. Ob sich aber der 1985 erstmals festgestellte Trend zur Rückwanderung der Briten in der Zukunft fortsetzt, kann heute noch nicht beurteilt werden.
Wie der historische Überblick zeigt, war Großbritannien nicht nur aufgrund seiner Vergangenheit als „Mutterland“ eines einst riesigen Kolonialreiches, sondern auch aufgrund seiner im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ offenen Grenzen lange Zeit als Einwanderungsland anzusehen. Diese Einschätzung ist seit einigen Jahren nicht nur im Hinblick auf die zunehmend restriktive Praxis der Einwanderungskontrolle obsolet geworden, sondern auch hinsichtlich der unbewältigten sozialen Folgewirkungen der Immigration. 1. Sind Immigranten Bürger zweiter Klasse?
Immigrationsgesetze und Rechtsstatus der Einwanderer Die schon eingangs erwähnte Einführung der Visumspflicht für Besucher aus den Staaten des indischen Subkontinents stellt die bislang letzte Maßnahme einer Reihe von Verschärfungen der Einwanderungsgesetzgebung dar. Die Gesamtsicht der Maßnahmen macht deutlich, daß die britische Immigrationspolitik im Laufe der Jahrzehnte immer stärker auf die Unterbindung der Einwanderung aus den „farbigen“ Commonwealth-Staaten zielte.
Schon die politische Flucht adliger Franzosen während der Französischen Revolution hatte den britischen Staat erstmals veranlaßt, temporäre Einwanderungskontrollen einzuführen. Die zahlenmäßig ungleich umfangreichere Einwanderung aus Irland dagegen rief keine solchen Kontrollen hervor, obwohl bis Mitte des 19. Jahrhunderts rund 700 000 Iren auf die britische Hauptinsel strömten. Irland galt damals noch als Teil Großbritanniens; die Einführung von Immigrationskontrollen erschien angesichts des irischen Unabhängigkeitswillens politisch nicht opportun. Daran änderte auch die feindselige Haltung zwischen Einheimischen und Iren wenig, blieb doch die Konfliktursache — die Arbeits-und Lohnkonkurrenz — auf die untersten Schichten der Bevölkerung beschränkt. Noch heute bestehen soziale Schranken zwischen den katholischen Iren in Großbritannien und den Einheimischen. Auch die jüdische Einwanderungswelle zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg — hauptsächlich aus osteuropäischen Staaten — löste die Feindseligkeit der Briten aus, wobei erneut die Furcht um eine Verschärfung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt eine Rolle spielte. Die jüdische Einwanderung führte zur Errichtung von Kontrollen; seit diesem Zeitpunkt gibt es in Großbritannien permanente Einwanderungsgesetze.
Das Aliens Act (1905) war die politische Folgemaßnahme der jüdischen Einwanderung. Diesem Gesetz folgte 1914 das Status of Aliens Act, das erstmals Commonwealth-Bürger von anderen Fremden unterschied. Mit dem Aliens Restrictions Act, das ebenfalls 1914 erlassen wurde, stärkte der Staat die Handlungsbefugnisse seiner ausführenden Organe im Hinblick auf die Kontrolle der Einwanderung wie auch im Hinblick auf die Bewegungsfreiheiten der Einwanderer in Großbritannien. Diese Grundsätze gelten im Prinzip noch heute.
Seit dem Nationality Act (1948) galten alle Untertanen der Krone und die Bürger der unabhängigen (weißen) Commonwealth-Länder als „Briten“. In dieser Begriffsbildung ist die Tendenz bereits deutlich angelegt, die Staatsangehörigkeit primär auf Weiße zu beschränken. Für die Bürger der anderen Commonwealth-Staaten galt ab 1962 das Commonwealth Immigrants Act, das ganz unverblümt wirtschaftliche Nutzungserwägungen in die Praxis umsetzte. Ein Bonussystem wurde eingeführt, das nach den Qualifikationen der Einwanderer gestaffelt war; nach 1965 — als der Arbeitskräftemangel der fünfziger Jahre in strukturelle Arbeitslosigkeit umschlug — wurden Zahlenbegrenzungen für die Vergabe solcher Bonuspunkte eingeführt. Das Commonwealth Immigrants Act von 1968 richtete sich primär auf die Verhinderung einer Masseneinwanderung der Kenia-Asiaten, die unter den einsetzenden Verfolgungen in Kenia zu leiden hatten.
Der EG-Beitritt Großbritanniens erzwang eine gesetzliche Neuregelung durch das Immigrants Act 1971, das 1973 in Kraft trat. Dieses Gesetz schaffte das Bonussystem wieder ab und führte dafür vier Kategorien von Einwanderern ein: „patrials" (britische Bürger, die selbst, deren Eltern oder Großeltern in Großbritannien geboren wurden, sowie Commonwealth-Bürger mit solcher Abstammung); sonstige Bürger von Commonwealth-Staaten, die der Einwanderungskontrolle unterworfen wurden; Bürger von EG-Staaten, denen die EG-inteme Freizügigkeit gewährt wurde. Die vierte Kategorie umfaßt alle übrigen Einwanderungswilligen, wobei unterschieden wird zwischen solchen, die einer Arbeitserlaubnis bedürfen, und solchen, die einer erlaubnisfreien Beschäftigung nachgehen (Ärzte, Zahnärzte, Diplomaten) — eine Unterscheidung, die klar zwischen „erwünschten“ Berufen und unerwünschten Einwanderern trennt. Dieses Gesetz entspricht — mit einer Reihe inzwischen vorgenommener Ergänzungen — der heutigen Rechtslage. Der kurze Überblick über die Entwicklung der Gesetzgebung zeigt, daß die britische Einwanderungspolitik nicht mit der anderer westlicher Staaten zu vergleichen ist. Zwar litt auch Großbritannien nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem für die Industriestaaten typischen chronischen Arbeitskräftemangel und suchte — wie die Bundesrepublik — seinen Bedarf zunächst in Südeuropa zu decken. (Die Einwanderung vom europäischen Festland belief sich bis 1957 auf rund 400 000 Menschen.) Doch im Unterschied zur Bundesrepublik — die auf die europäische Peripherie angewiesen blieb — bot sich Großbritannien in seinen Kolonien bzw. nach deren Unabhängigkeit in den Staaten des „neuen“ (farbigen) Commonwealth ein konkurrenzlos billiges Arbeitskräftepotential, eine größtenteils unqualifizierte „Reservearmee“, die sich auch für schmutzige, gefährliche oder monotone Arbeiten einsetzen ließ.
Der hektische Zugriff auf dieses Potential brachte jedoch große Probleme mit sich. Die wirtschaftliche Situation Großbritanniens destabilisierte sich schon in den sechziger Jahren. Schneller noch als der Verlust ihres ökonomischen Nutzens wuchs die soziale Ablehnung der „importierten“ Arbeitskräfte durch die Einheimischen, und zwar nicht nur aufgrund ihres durch Familiennachzug verursachten rapiden zahlenmäßigen Anstiegs, sondern auch dadurch, daß hier nicht nur Angehörige anderer Nationen, sondern auch anderer Rassen in das Land strömten. Nachdemes schon 1958 zu ersten Rassenspannungen gekommen war, wurde der Ruf nach einer Kursänderung in der bis dahin relativ liberalen Immigrationspolitik laut.
„Rückführungs“ -Lösungen kamen nicht in Frage, da sich die Immigranten zum großen Teil auf staatsbürgerliche Rechte berufen konnten. So mußte es in Großbritannien im Verlauf dieses Jahrhunderts, insbesondere aber nach dem Zweiten Weltkrieg, darum gehen, einen Grundsatz der Kolonialpolitik zu beseitigen, der den Bürgern der Kolonien eine Art britischer Staatsangehörigkeit — nämlich ungehinderte Einreise und Arbeitsaufnahme sowie Wahlrecht nach einjährigem Aufenthalt — zugesichert hatte (Rechte, die übrigens noch heute den Bürgern der Republik Irland zustehen). Je mehr Kolonien in die Ünabhängigkeit entlassen wurden, je turbulenter die politische Situation dieser neuen Staaten sich entwickelte, je unverbindlicher der Zusammenhalt der Commonwealth-Völkerfamilie und je geringer die Aufnahmefähigkeit des britischen Arbeitsmarktes gegen Ende des Nachkriegs-booms wurden, desto stärker ergab sich die Notwendigkeit, dieses Recht durch spezifische Maßnahmen zu beseitigen, wobei das Bemühen vorherrschte, die weißen Vettern der unabhängigen Gebiete des Commonwealth nicht zu entfremden. Die Entwicklung der Rechtslage ist als Versuch zu sehen, eine Trennlinie zwischen weiße und nichtweiße Commonwealth-Bürger zu ziehen. Das Immigrants Act von 1971 stellt insofern eine Zäsur in dieser Entwicklung dar, als sich damit der Tenor von der (außen) politischen Wirkung der Einwanderungskontrolle auf die arbeitsmarktpolitische Wirkung verlagerte. Das Dilemma der britischen Immigrationspolitik tritt dabei offen zutage: ihr Ziel ist nunmehr das europäische Modell des „Gastarbeiters“, das bei Konjunktureinbrüchen auch die „Rückführung“ als Option offenhalten würde; andererseits aber dürfen die gerade aufgrund der Rassenfrage äußerst fragilen Beziehungen im Commonwealth nicht weiter gefährdet werden. Ein weiteres Dilemma der Immigrationsproblematik wurde innenpolitisch zumindest in den beiden ersten Jahrzehnten der Nachkriegs-Einwanderung sichtbar. Hatte Großbritannien mit den Immigranten aus den Kolonien bzw. aus dem Commonwealth Menschen in das Land gelassen, die bestimmte staatsbürgerliche Ansprüche geltend machen konnten, so stand der Staat — der (wohl als Folge der fehlenden verfassungsrechtlichen Kodifizierung) in vielen Bereichen traditionell eher gesetzgeberische Zurückhaltung übt, so daß viele Grund-bzw. Bürgerrechte nirgendwo eindeutig fixiert sind — vor der Notwendigkeit, die elementaren Rechte der neuen Bürger sowie ihre angemessene Beteiligung an den Chancen der Gesellschaft zu kodifizieren. Zuvor jedoch unternahm Großbritannien den Versuch, die kulturell eher nahestehenden West-Inder zu „assimilieren“, während die kulturell völlig andersartigen Asiaten „integriert“ werden sollten, das bedeutet nach den Worten des damaligen Innenministers Roy Jenkins Chancengleichheit in einer Atmosphäre gegenseitiger Toleranz.
Die Wirkungslosigkeit dieses Ansatzes war schon früh erkennbar. Das erste Anti-Diskriminierungsgesetz (Race Relations Act, 1968) verbot rassendiskriminatorische Praktiken „in der Öffentlichkeit“, also auch im Bildungswesen, auf dem Arbeits-und Wohnungsmarkt. Dieses Gesetz konnte zwar die offenkundigsten Diskriminierungspraktiken abbauen, wird jedoch insgesamt eher als Fehlschlag bewertet, da es zu sehr auf den außergerichtlichen Schlichtungsmechanismus in Form des Race Relations Board abhob. Dieses Gremium jedoch hatte keine Befugnis zu eigenen Untersuchungen, sondern konnte nur aufgrund einer Anrufung durch einen Diskriminationsgeschädigten tätig werden.
1976 trat ein neues Race Relations Act in Kraft. Es führte den Straftatbestand der „indirekten“ Diskriminierung ein, um den zahlreichen subtilen Methoden der Benachteiligung Farbiger zu begegnen (Beispiel: Sprachtests, Unterlassen der Ausschreibung von Stellenvakanzen etc.). Da Praktiken der indirekten Diskriminierung kaum nachweisbar sind, muß davon ausgegangen werden, daß der Erfolg des Gesetzes in dieser Hinsicht eher beschränkt ist. Die Wirkung des Gesetzes ist primär auf eine umfassendere, gesamtgesellschaftliche Ebene gerichtet: An Stelle des Race Relations Board wurde ein neues, mit zusätzlichen Kompetenzen ausgestattetes Gremium geschaffen, die Commission for Racial Equality. Die CRE kann aus eigenem Antrieb Diskriminierungspraktiken untersuchen und Anklage erheben. Im Mittelpunkt der Aktivitäten der CRE steht nicht mehr — wie noch beim Race Relations Board — der individuelle Fall von Diskriminierung, sondern die Untersuchung der Diskriminierungspraktiken von Organisationen und Institutionen. 2. Immigranten und Chancengleichheit im Bildungswesen „Asiatische Schüler sind Klassenbeste“ überschrieb die „Mail on Sunday“ am 11. Juli 1982 einen Artikel — eine Feststellung, die von vielen Lehrern bestätigt wird. Ganz anders klingt die Beurteilung der Schüler karibischer Herkunft. Bei einer Untersuchung der Lesefertigkeit der Schüler ihres Bezirkes fand die Inner London Education Authority (ILEA) zwar auch bei der Mehrheit der einheimischen Kinder leicht unterdurchschnittliche Fähigkeiten, bei Kindern karibischer Abstammung lag dieser Stand jedoch tief unter dem als „normal“ klassifizierten Standard.
Dieser Einschätzung sehr unterschiedlicher Lernfähigkeiten bei den farbigen Schülern stimmen viele Lehrer zu. West-indische Schüler seien notorische Unruhestifter und Randalierer; ihre Selbstdisziplin sei ebenso gering wie ihre Motivationsbereitschaft. Gerade in den Problembezirken mit einem hohen west-indischen Bevölkerungsanteil sei geordneter Unterricht häufig nicht möglich (Lehrer solcher Schulen erhalten denn auch eine Art „Erschwerniszulage“). Wie kommt es zu solchen Diskrepanzen zwischen den Hauptgruppen der Immigrantenbevölkerung? Weshalb gelten Asiaten als erfolgreiche, lernbegierige und disziplinierte Schüler, Afrikaner und West-Inder jedoch als Störelemente?
Im Bildungswesen wurden schon zahlreiche Untersuchungen der Art der ILEA-Untersuchung durchgeführt. Ihre Ergebnisse müssen in der Regel mit aller Vorsicht eingeschätzt werden. Die Grundlagen dieser Untersuchungen sind häufig sehr problematisch; es gibt eben keine „rassenneutrale“ Umfrage oder Untersuchung — ebensowenig völlig vorurteilsfreie Leistungsbewertungen durch den Lehrer. Konstatieren lassen sich deshalb allenfalls Unterschiede in der unterrichtlichen Partizipationsbereitschaft und in der Motivation der Schüler, die sich natürlich auch im Lernerfolg niederschlagen. Zur Erklärung dieses Sachverhalts läßt sich eine Reihe von Faktoren anführen:
— Eine geringere Leistungsbereitschaft schwarzer Schüler kann einer Reihe sozialer Bedingungen zugeschrieben werden, die aber grundsätzlich auch für die unqualifizierten Schichten der britischen Arbeiterklasse gelten. Schwarze Schüler sind in der Regel in sehr viel schlechteren Wohnungen untergebracht als ihre weißen Mitschüler; sie leiden unter knappem und überbelegtem Wohnraum; ihre Mütter sind häufig berufstätig, ohne jedoch die Mittel für eine geordnete Betreuung der Kinder durch Tagesmütter aufbringen zu können. Darüber hinaus ist der Prozentsatz alleinerziehender Mütter in der west-indischen Bevölkerung höher als in der Gesamtbevölkerung.
— Wie bei den unteren Schichten der britischen Arbeiterklasse ist auch die Einstellung der West-Inder zur Notwendigkeit einer (höheren) Schulbildung eher distanziert.
— Die fehlende schulische Motivation wird wesentlich von den katastrophalen Arbeitsmarktchancen der farbigen Jugendlichen beeinflußt. Da das britische Schulwesen viel stärker als das deutsche auf den „good job“ als Bildungsziel ausgerichtet ist (gute Bezahlung, sichere Stellung, Aufstiegschancen, soziales Ansehen) und den konkreten Ausbildungsaspekt bis in die Gegenwart hinein vernachlässigt, ist auch die schulische Motivation der Schüler von den schlechten Aussichten beeinflußt, solche Arbeitsplätze nach Beendigung der Schulzeit zu erhalten.
— Ein wesentlicher Faktor ist das negative Selbst-bild der Schwarzen, das als Resultat der gesellschaftlichen Ablehnung anzusehen ist. Ihre Selbsteinschätzung bestätigt sozusagen die rassischen Vorurteile der Weißen.
— Nicht auszuschließen ist ferner eine mehr oder weniger ausgeprägte, bewußte oder unbewußte Diskriminierung der Schwarzen durch den Lehrer. Leistungsbeurteilungen durch den Lehrer können zur Überweisung der konstant schlecht bewerteten Schüler an Sonderschulen und zur Einstufung als „sub-normal“ führen. Diese Einschätzungen mögen jedoch nicht nur einem latenten Rassismus des beurteilenden Lehrers zuzuschreiben sein, sondern auch seiner Unfähigkeit, das fremdartige Verhalten der farbigen Schüler richtig zu verstehen. Nach einer Studie über die Schulerfahrungen farbiger Jugendlicher sind fast zwei Drittel der befragten Farbigen überzeugt, von ihren Lehrern benachteiligt zu werden
— Sprachbarrieren tun ein übriges: Obwohl englischsprachig aufgewachsen, unterscheidet sich dennoch das west-indische Idiom beträchtlich vom britischen Englisch. Besondere Wortbedeutungen sind den farbigen Schülern häufig nicht vertraut; oft haben die Schüler Schwierigkeiten, die. Lehrer zu verstehen.
— Fehlende Sozialkontakte können ebenfalls den Schulerfolg maßgeblich beeinflussen. Der erwähnten Studie zufolge sind nur 5% der befragten schwarzen Jugendlichen jemals von ihren weißen Mitschülern nach Hause eingeladen worden. Die soziale Isolation der Schwarzen ist offensichtlich ebenso ausgeprägt wie die türkischer Schüler in der Bundesrepublik.
Es kann nicht verwundern, daß angesichts dieser in der Schule wirksamen Faktoren im britischen Bildungswesen zunehmend der Verlust fortstrebender, akademischer Orientierungen der Schüler und besonders in den multi-ethnischen Klassen die schulische Dissoziation mit entsprechendem mehr oder weniger weitgehendem Motivationsverlust beklagt wird. Die Stereotype des lernunwilligen, undisziplinierten Schwarzen jedenfalls wirkt auch in anderen Bereichen, etwa der Weiterbildung, der Berufsberatung etc. fort. 3. Arbeitsmarkt Der gegenwärtige Zustand der Massenarbeitslosigkeit in Großbritannien beeinflußt die Situation der Immigrantenbevölkerung in besonders gravierender Weise. Ohne Zweifel zählen bestimmte Gruppen der Immigrantenbevölkerung zu den Hauptrisikogruppen der Arbeitslosigkeit. Das Ausmaß des britischen Arbeitslosigkeitsproblems ist in der Tat erschreckend: 1982 überschritt die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit erstmals seit über 50 Jahren die Drei-Millionen-Grenze — nicht einmal während der großen Weltwirtschaftskrise waren in Großbritannien so viele Menschen arbeitslos. Im Frühjahr 1987 lag sie bei 3, 3 Millionen bzw. 12, 1%. Allerdings dürfte das reale Ausmaß der Erwerbslosigkeit weit höher liegen:
— Zum einen hat die konservative Regierung Thatcher seit ihrem Machtantritt (1979) insgesamt 17 Änderungen des Systems und der Kriterien der Erfassung der Arbeitslosigkeit durchgeführt, die die Zahl der registrierten Arbeitslosen um über 400 000 Personen reduzierten.
-Zweitens wird die Statistik durch die in bestimmten Bevölkerungsgruppen verbreitete Nichtregistrierung „entlastet“ — Schätzungen sprechen von bis zu weiteren 400 000 Personen, die aufgrund ihres fehlenden Anspruchs auf Arbeitslosenunterstützung auf die Registrierung verzichten. Dazu gehören insbesondere auch farbige Schulabgänger, die sich einer aussichtslosen Arbeitsmarktlage gegenübersehen.
-Drittens tragen auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Arbeitsmarktprogramme der Regierung, wie z. B. das Youth Training Scheme (YTS), zur Reduktion der Zahl der Erwerbslosen bei. Gegenwärtig werden rund 450 000 Personen von solchen Programmen erfaßt, die ebenfalls nicht in die Statistik Eingang finden.
-Viertens liegt auch das Ausmaß der Teilzeitarbeit mit über 21 % Teilzeitquote (= Anteil Teilzeit an der Gesamtbeschäftigung) beträchtlich über dem bundesdeutschen Niveau (13%). Es kann davon ausgegangen werden, daß ein gewichtiger Teil dieser Beschäftigungsverhältnisse nur mangels einer Vollzeitbeschäftigung eingegangen wird
Hinzu kommt ein im Vergleich zur Bundesrepublik relativ geringes Produktivitätsniveau in der Wirtschaft, ein bei der Beurteilung des wahren Ausmaßes der Arbeitslosigkeit häufig vernachlässigte Faktor: für die Herstellung eines bestimmten Gutes werden in Großbritannien mehr Arbeiter benötigt als in der Bundesrepublik oder in Japan. Darüber hinaus existiert im öffentlichen wie im privaten Sektor noch immer eine Vielzahl von Tätigkeiten, die anderswo längst wegrationalisiert wurden: Handlanger für Facharbeiter, Milchmänner, Billettkontrolleure an den Bahnsteigen usw. All diese Faktoren weisen darauf hin, daß in Großbritannien noch immer eine beträchtliche „Überbeschäftigung“ herrscht, daß also geringe Produktivität und im Grunde überflüssige Tätigkeiten beträchtliche Beschäftigungswirkungen haben — ein Aspekt, der wesentlich zur internationalen Wettbewerbsschwäche der britischen Wirtschaft beiträgt. Unter Zugrundelegung all dieser Faktoren kann davon ausgegangen werden, daß das reale Ausmaß der Arbeitslosigkeit in Großbritannien weit über 4, Millionen Menschen liegt; einige Experten halten auch diese Zahl für zu niedrig 5).
Das reale Ausmaß der Arbeitslosigkeit ethnischer Minderheiten läßt sich aufgrund fehlender statistischer Differenzierungen nach ethnischen Zugehörigkeiten nur ungefähr abschätzen. Zwar veröffentlicht das DepartmentofEmploymenteinmal jährlich statistische Daten zur regionalen Verteilung der Arbeitslosigkeit der Immigranten, doch lassen diese Daten den Rückschluß auf die Gesamtarbeitslosigkeit der ethnischen Minderheiten nicht zu. Vorstöße zu ihrer separaten Erfassung scheiterten, da hierin eine rassendiskriminatorische Maßnahme vermutet wurde. Aus dem dürftigen statistischen Material läßt sich jedoch herausfiltem, daß im Frühjahr 1984 die Arbeitslosigkeit der einzelnen ethnischen Gruppen wie folgt verteilt war: Demnach war die Arbeitslosigkeit männlicher Einwanderer aus Pakistan und Bangladesh dreimal, die der Frauen gar viermal höher als bei den Einheimischen. Auch die Arbeitslosigkeit west-indischer Männer erreichte mit 29% ein extrem hohes Niveau.
Statistische Werte sind Durchschnittswerte; sie verhindern den Blick auf konkrete Zustände in einzelnen Regionen oder Stadtbezirken. Lokale Untersuchungen der Arbeitsmarktsituation farbiger Jugendlicher beim Übergang von der Schule in den Beruf — sozusagen der neuralgische Punkt jedes Bildungs-und Berufsganges — zeigen, daß dieser Übergang nur in wenigen, prosperierenden Regionen oder Städten für eine Mehrheit der Immigrantenkinder reibungslos verläuft. So erbrachte eine Umfrage in Bradford (einer nordenglischen Industriestadt) schon 1980/81 folgendes Bild: 72 % der befragten asiatischen Schulabgänger in Bradford hatten ein Jahr nach dem Schulabgang noch keinen festen Arbeitsplatz gefunden (41 % waren arbeitslos; 31% nahmen an einem einjährigen Ausbildungsprogramm teil, doch fiel die Hälfte von ihnen nach Abschluß des Kurses wieder in die Arbeitslosigkeit zurück). Hingegen hatten 66% aller Schulabgänger Bradfords (zu 90% Weiße) innerhalb eines Jahres einen Arbeitsplatz gefunden
Nationale Statistiken — immerhin die Grundlage politischer Entscheidungsbildung — verharmlosen solche scharfen lokalen Zuspitzungen der Problematik. In der Tat leiden gerade die Innenbezirke einiger britischer Groß-und Industriestädte an einer extrem hohen Arbeitslosigkeit, insbesondere der Einwanderer-Bevölkerung. Für Handsworth in Birmingham beispielsweise, Schauplatz der Unruhen von 1981 und 1985, wird eine Arbeitslosigkeit der männlichen West-Inder von bis zu 95 % angenommen. Für den Londoner Stadtteil Brixton kam Lord Scarman in seinem Untersuchungsbericht über die Ursachen der schweren Straßenunruhen von 1981 schon damals zu dem Ergebnis, daß die durchschnittliche Arbeitslosigkeit dort bei 13%, die der schwarzen Einwohner jedoch beträchtlich höher liege; für alle ethnischen Minderheiten in Brixton betrage die Rate 25, 4% (Mai 1981). Außerdem dauerte die Arbeitslosigkeit für die Minderheiten länger
Als Ursachen für die statistische Überrepräsentanz farbiger Minderheiten sind drei Faktoren zu nennen: — Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit stellt schon per se ein zentrales Kriterium für ein erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko dar. Die Barrieren, die einer geregelten Berufstätigkeit und Karriere der West-Inder, Inder, Pakistani, Bangladeshi und Afrikaner entgegenstehen, werden sowohl bei der Anwerbung und Einstellung wie auch beim Zugang zu berufsbildenden Lehrgängen und bei Beförderungen (vor allem, wenn damit die Aufsicht über Weiße verbunden ist) wirksam. Da Farbige besonders lange in minderwertigen Positionen gehalten werden, sind sie auch bei einem Beschäftigungsabbau als erste gefährdet.
— Häufig werden bestimmte Charakteristika im Verhalten der Minderheiten selbst (etwa: Lustlosigkeit beim Erlernen der englischen Sprache und beim Anpassen an englische Gepflogenheiten, laxe Einstellung zur Arbeit, geringe Neigung zur Aus-und Weiterbildung) für ihre benachteiligte Situation verantwortlich gemacht. Auch werde durch ihre Bereitwilligkeit, selbst schlechteste Arbeitsbedingungen um des schnellen Gelderwerbs willen zu akzeptieren, eine Benachteiligung geradezu provoziert. Letztlich wird aber das erhöhte Arbeitsplatz-risiko der Farbigen durch ein bewußtes oder unbewußtes Solidarverhalten der weißen Arbeitgeber und der weißen Teile der Belegschaft verursacht -woran auch die britischen Gewerkschaften durch ihre gegenüber den Farbigen recht zögerliche Mitgliederwerbung nicht unschuldig sind.
— Ein weiterer Grund für die Benachteiligung der Immigranten auf dem Arbeitsmarkt ist in ihrer sektoralen und regionalen Verteilung zu sehen. Wie die Gastarbeiter in der Bundesrepublik sind auch die ethnischen Minderheiten in Großbritannien vor allem in den industriellen Zentren, besonders in London, Birmingham, den nordenglischen Industriestädten wie Manchester und Liverpool sowie — in geringerem Maße — im schottischen Industriegürtel, konzentriert. Die Wirtschaftsstrukturen dieser Gebiete sind wiederum besonders von niedergehenden Industrien geprägt (Eisen-und Stahlindustrie, Textilfabriken, Kohlebergbau, Schiffbau etc.), in denen die größtenteils schlecht qualifizierten Immigranten hohen Arbeitsplatzrisiken ausgesetzt sind bzw. auf einem sterbenden regionalen Arbeitsmarkt nur geringe Chancen haben.
Bei der Einschätzung des beruflichen Erfolgs der einzelnen ethnischen Gruppen treten ähnliche Zuweisungen wie beim schulischen Lernerfolg auf. Gelten Asiaten als fleißig, zuverlässig und höflich, so hält man West-Inder für arbeitsscheu, unbeständig und abweisend gegenüber den Weißen. Asiaten sind strebsam; sie nutzen die vielfältigen Möglichkeiten der Weiterbildung wie auch der hohen Schulbildung für ihre Kinder. In abhängigen Beschäftigungsverhältnissen gelten sie als karrierebewußt; als Selbständige erscheinen sie durchsetzungsfähig und ausdauernd. Gerade Asiaten haben zur Wiederbelebung der verkümmerten lokalen Kleinwirtschaft in Form zahlreicher Eckläden und Kleinbetriebe beigetragen. Demgegenüber zeigen West-Inder wenig Eigeninitiative. Ihr Streben richtet sich nicht auf beruflichen Erfolg in der Zukunft, sondern auf ein optimales Einkommen. Bildung gilt ihnen relativ wenig, Selbständigkeit ist für sie kein Lebensziel.
Die hier referierte, verbreitete Einschätzung der beiden ethnischen Hauptgruppen der britischen Immigrantenbevölkerung mag grob überzeichnet erscheinen und verallgemeinert sicherlich in unzulässiger Weise. Dennoch ist darin eine Grundstruktur der unterschiedlichen Haltungen bei der Realisierung von Lebenschancen zu erkennen, die — abgesehen von Rassenvorurteilen — auch ihrerseits die Grundtendenz der sozialen Einschätzung beeinflußt haben dürfte. 4. Soziale Bedingungen: Wohnverhältnisse Die Nachkriegsentwicklung britischer Innenstadt-bezirke ist von einem gleichzeitigen Rückgang der Einwohnerzahlen und der Arbeitsplätze gekennzeichnet. In den vergangenen drei Jahrzehnten belief sich die Abwanderung der Einwohner im Erwerbsalter aus den Innenbezirken in die Randbezirke und Vororte in Manchester, Liverpool und London auf rund 30%, in Birmingham auf 20%. Gleichzeitig ging die Beschäftigung in den genannten Städten um 20 bis 26 % zurück, im verarbeitenden Sektor fast um die Hälfte
Im Gefolge dieser Entwicklungen verändern sich auch die sozialen Strukturen der Innenstadtbezirke:
-Die Arbeitslosigkeit nimmt rapide zu.
— In diesen Bezirken sind die Hauptrisikogruppen der Arbeitslosigkeit konzentriert: Altere, Unqualifizierte und Immigranten.
— Die Abwanderung der einheimischen Bevölkerung schafft zwar Wohnraum für die Einwanderer, fördert aber auch deren Gettoisierung.
— Die Wohnverhältnisse sind unterdurchschnittlich; ganze Bezirke verfallen. Modernisierungen unterbleiben, häufig fehlt es an den nötigen sanitären Einrichtungen.
— Kriminalität und Vandalismus sind verbreitet. Der Scarman-Report beschreibt das Wohnungsproblem in Brixton — einem der ethnischen Problembezirke von London — in düsteren Farben: über 12 000 Wohnungen seien selbst nach Einschätzung der Lokalbehörden „ungeeignet“, in weiteren 8 000 fehlten die wichti 000 Wohnungen seien selbst nach Einschätzung der Lokalbehörden „ungeeignet“, in weiteren 8 000 fehlten die wichtigsten Sanitäreinrichtungen. Dies bedeute, daß etwa 20% der Wohnungen in Brixton als „sub-standard“ einzuschätzen und weitere 12 % dringend renovierungsbedürftig seien 10). Nach einer Erhebung des Department of Environment waren im April 1985 rund 85 % aller Sozial-wohnungen in unterschiedlichem Ausmaß renovierungsbedürftig; der Finanzbedarf für diese Arbeiten wird auf knapp 19 Milliarden Pfund (gegenwärtig über 57 Milliarden DM) geschätzt 11). Eine Aufgabe dieser Größenordnung würde auch einen wirtschaftlich gesunden Staat vor unlösbare Probleme stellen.
Brixton ist nicht etwa ein durch die Unruhen von 1981 spektakulär gewordener Einzelfall. Vielmehr zeigt sich in anderen Städten ein ähnliches Bild, das mancherorts sogar die Zustände in Süd-London übertrifft. In Sandwell beispielsweise, einem 1974 durch Verbindung mehrerer Stadtteile geschaffenen Verwaltungsbezirk im Westen Birminghams, hat sich der drittgrößte prozentuale Anteil von Immigranten an der Gesamtbevölkerung konzentriert (nur zwei Londoner Stadtteile haben höhere Immigrantenanteile). Von der Gesamtbevölkerung Sandwells (310 000) sind — der Volkszählung von 1981 zufolge — 11,4%, nach Schätzungen der Lokalbehörden jedoch mindestens 17% farbigen Minderheiten zuzurechnen. Der Bezirk ist durch industriellen und sozialen Verfall gekennzeichnet: In den ältesten und verfallensten Gebäuden sind 80 % der Asiaten und 35 % der West-Inder, aber nur 15 % der Weißen untergebracht. Fast die Hälfte der Asiaten und rund ein Drittel der West-Inder leben in Wohnverhältnissen, die nach dem nationalen Standard als „überbelegt“ gelten.
Diese Situation kommt nicht von ungefähr: Neben dem Arbeitsmarkt ist der Wohnungsmarkt zweifellos der Bereich, in dem die Immigranten die Diskriminierungspraktiken der britischen Gesellschaft besonders deutlich zu spüren bekommen:
— Der Zugang zu Sozialwohnungen (Council Houses) wird in Großbritannien über Wartelisten geregelt. Neuankommende Immigranten finden sich am Ende dieser Listen wieder. In Lambeth (London) beispielsweise umfaßt die Warteliste 18 000 Haushalte. Die Zahl der obdachlosen farbigen Haushalte ist dort fast doppelt so hoch wie die der weißen. — Der freie Wohnungsmarkt ist den Immigranten besonders im wirtschaftlich starken Südosten aufgrund überhöhter Preise verschlossen. Ihnen bleiben häufig nur die preisgünstigen älteren Wohnungen, die aufgrund ihres Zustandes von den Einheimischen abgelehnt werden.
— Schon 1975 belegte eine Studie, daß farbigen Haushalten mit höherer Wahrscheinlichkeit Vorkriegswohnungen zugewiesen wurden als weißen Haushalten. Der Befund wurde durch eine Folge-studie des Greater London Council GLC bestätigt (die eigentlich das Gegenteil beweisen sollte).
Die Situation in den Groß-und Industriestädten des Landes beschrieb ein Bericht der anglikanischen Staatskirche: „Die City ist nach wie vor ein Magnet für den benachteiligten Neuankömmling, ist ein Gefängnis für den Unqualifizierten, den Kranken oder Behinderten, den Entmutigten; sie ist ferner Sprungbrett für den Ehrgeizigen und Durchsetzungsfähigen, der in die Vororte ausweichen kann, und sie ist schließlich auch ein Schutz für Enklaven des Überflusses.“ 12) Diese Gegensätze — Überfluß und Verelendung — kennzeichnen die großen britischen Städte. Oftmals sind es nur wenige Straßenzüge, die die eleganten, weitläufigen „shopping centres“ von den verfallenden Hinterhöfen der Gettos und Slumbezirke trennen. Gerade hier zeigt sich, daß sich der Haß der benachteiligten farbigen Jugendlichen während der Unruhen der vergangenen Jahre nicht gegen die Konsumpaläste, sondern gegen die eigenen objektiven Lebensbedingungen in Gestalt trostloser Immigrantenviertel richtete, die das Ziel ihrer zerstörerischen Gewalt darstellten.
IV. Reaktionsformen der Immigranten
Die Situationsanalyse verdeutlichte, daß die Immigranten in der britischen Gesellschaft gravierenden Benachteiligungen ausgesetzt sind, die praktisch alle Bereiche ihres Alltags tangieren. Die Vernetzung der vier im vorigen Kapitel aufgeführten Faktoren Rechtsstatus, Bildung, Arbeitsmarkt und Wohnen ist offenkundig. Wer unter solchen Bedingungen zu leben hat, für den erhält nicht nur die Frage nach dem Sinn seines Daseins eine andere Qualität, sondern auch die Reflexion über mögliche Schuldzuweisungen — an sich selbst, an die soziale Umwelt, an das System.
In diesem Abschnitt soll die Frage nach den Reaktionsformen der Immigranten gestellt werden. Vor allem die Unruhen der letzten Jahre, das Kriminalitätsproblem und die Verbreitung von jugendlichen Subkulturen (und problematischen Jugendsekten) sind als Indizien für das gestörte Verhältnis der britischen Gesellschaft insbesondere zu den Jugendlichen aus den ethnischen Minderheiten zu kennzeichnen. Sie sind zugleich (primär jugendliche) Artikulationsformen, die die Hoffnungslosigkeit der heranwachsenden farbigen, zu über 40% in Großbritannien geborenen Generation geradezu als Strukturprinzip der Rassenbeziehungen auch in der Zukunft erscheinen lassen. Doch gibt es auch hoffnungsvolle Ansätze: erfolgreiche Assimilation und Integration, häufig begleitet (und wohl auch untrennbar verbunden) mit wirtschaftlichem Erfolg. 1. Jugend-und Rassenunruhen in den achtziger Jahren Seit dem Beginn der achtziger Jahre kommt es in Großbritannien immer wieder zum Ausbruch von Straßenunruhen und Kämpfen zwischen — meist farbigen — Jugendlichen und der Polizei. Die wichtigsten Ereignisse lassen ein gewisses Muster von Zusammenhängen zwischen den Ursachen und Wirkungen erkennen, das für die meisten Eruptionen der Gewalt zuzutreffen scheint.
— In Bristol kam es im April 1980 zu Straßenschlachten jugendlicher Farbiger mit der Polizei. Auslöser war eine Razzia im Distrikt St. -Paul’s, die sich gegen die lokale Drogenszene richtete.
— Im April 1981 brachen in Brixton (London) Unruhen aus, als deren Ursache der Scarman-Report den Versuch mehrerer Polizisten anführt, einem durch Messerstiche verletzten farbigen Jugendlichen zu helfen. Diese Hilfeleistung wurde von einer rapide anwachsenden Gruppe schwarzer Jugendlicher als Verhaftung interpretiert. Die daraus sich entwickelnden Unruhen dauerten drei Tage. Den Ereignissen war allerdings eine Polizei-operation unter der provokatorischen Bezeichnung „Swamp ’ 81“ (Sumpf) vorausgegangen, die sich gegen Raubüberfälle richtete und die zu stark erhöhter Polizeiaktivität, zahlreichen Überprüfungen, Visitationen und Verhaftungen geführt hatte.
— Die Ereignisse in Brixton wurden durch die Eruptionen der Gewalt weit übertroffen, die sich im Juli 1981 ereigneten. In Southall (West-London), einem Bezirk mit einem hohen Anteil asiatischer Einwanderer, wurden die Unruhen durch von weißen Skinheads provozierte Straßenkämpfe mit asiatischen Jugendlichen ausgelöst. Kurz darauf brachen auch in Toxteth (Liverpool) Unruhen zwischen Jugendlichen und der Polizei aus, deren Beziehungen zueinander schon lange zuvor als problematisch gegolten hatten. Im Verlauf des Juli 1981 erfaßten die Unruhen insgesamt rund 30 Orte. Abend für Abend erlebten die Briten auf den Fernsehbildschirmen bürgerkriegsähnliche Szenen.
— Nach vier Jahren relativer Ruhe kam es in Tottenham (London) und Handsworth (Birmingham) im Herbst 1985 erneut zu Unruhen im Anschluß an Polizeirazzien in Jugendzentren.
— Im September 1986 schließlich wiederholte sich in Bristol der Vorgang einer Polizeirazzia gegen die Drogenszene und führte dort erneut zu Straßenschlachten. Der Überblick über diese wichtigsten Ereignisse der letzten Jahre macht deutlich, daß den Methoden und dem Verhalten der Polizeikräfte im Umgang mit den farbigen Minderheiten zentrale Bedeutung für die Erklärung der unmittelbar auslösenden Ursachen der Unruhen zuzukommen scheint. Scarman erklärt dazu: „Die Gewalt eruptierte aus einer spontanen Reaktion der Menge auf Ereignisse, die sie als polizeiliche Schikane auffaßten .. . Die Unruhen waren im wesentlichen ein Ausdruck der Verbitterung und Wut junger Schwarzer gegenüber der Polizei.“ Mit dieser Einschätzung steht der Scarman-Report nicht allein: Die schlechten Beziehungen zwischen den Farbigen und der Polizei in den Gettos werden auch in den Untersuchungsberichten über die Unruhen in Manchester (Hytner-Report, 1981) und Tottenham (Gifford-Report, 1985) mit-bzw. hauptverantwortlich gemacht. Die Vorwürfe dürften jedenfalls nicht ohne Berechtigung erhoben werden. Die britische Polizei verfügt über 142 200 Polizisten ist hochgradig dezentralisiert und damit auch relativ schwer zu kontrollieren, da die regionalen Polizeichefs eine beachtliche Entscheidungsfreiheit genießen. Im Vergleich zu anderen Institutionen des demokratischen Staates ist die britische Polizei relativ geringen demokratischen Kontrollmechanismen unterworfen. Das politische System — und wohl auch die Öffentlichkeit — scheint in der Polizei eine Institution zu sehen, die „irgendwie über der Politik steht“ und die im Zusammenhang mit ihrer so gewährleisteten Autonomie kaum zur Rechenschaft gezogen werden kann Wie wenig sich die Polizei bislang um die Verbesserung der Beziehungen zu den Farbigen bemüht hat, zeigt die völlig unzureichende Rekrutierung von Polizisten aus diesen Bevölke-rungsgruppen. 1985 stammten von 120 700 Polizisten in England und Wales nur 761 bzw. 0, 6 % aus nicht-weißen Minderheitsgruppen, von denen allein 290 in London stationiert waren
In dem Maße, in dem die rassistisch motivierten Angriffe auf West-Inder, Bangladeshi, Pakistani und andere ethnische Minoritäten (vereinzelt auch auf Juden) zunahmen, geriet auch die Polizei ins Kreuzfeuer der Kritik. Vorgeworfen werden ihr vor allem eine gewisse Gleichgültigkeit sowie Verzögerungstaktik bei der Bearbeitung von Zwischenfällen und Angriffen. In den Polizeiprotokollen und in Erklärungen gegenüber den Medien werden Angriffe auf Immigranten verschiedentlich als nicht rassistisch motiviert abgewiegelt; mitunter werden die Opfer selbst von der Polizei als Aggressoren behandelt.
Daß durch Rassenhaß motivierte Angriffe auf Immigranten ein häufig unterschätztes, aber zunehmend ernstes Problem darstellen, bestätigte ein Bericht des Joint Commitee Against Racialism, einem parteienübergreifenden Gremium von Parlamentariern, sowie eine Untersuchung des Innenministeriums, bei deren Vorlage der damalige Innenminister Whitelaw erklärte, die Ergebnisse „zeigten ganz klar, daß die Befürchtungen über die rassistischen Überfälle berechtigt sind. Rassistisch motivierte Angriffe, vor allem auf Asiaten, sind verbreiteter, als wir bislang angenommen hatten, und es gibt Hinweise darauf, daß sie zunehmen werden.“ 2. „Black Crime"
Jugendliche karibischer Herkunft befinden sich in einer einzigartigen Situation: Nach ihrer Abstammung und ihrem kulturellen Hintergrund gehören sie nicht zur traditionellen britischen Alltagskultur, * auch wenn sie sich selbst als „black Britons“ betrachten. Sie erfahren die Ablehnung durch die britische Gesellschaft bei fast jedem Kontakt mit ihr. Diese Ausgrenzung findet in ihrer Unterbringung in den schlechtesten Wohnungen und verfallensten Bezirken einen direkten Ausdruck. Das von den Weißen für weiße Kinder gestaltete Schulwesen ignoriert zwar nicht mehr — wie noch bis in die siebziger Jahre hinein — ihren kulturellen Hintergrund, behandelt ihn aber gleichwohl als nicht ebenbürtig. Die Lehrpläne sind auch heute noch nahezu ausschließlich auf die Vermittlung der britischen Kultur, Zivilisation und Geschichte ausgerichtet. Nach wie vor ignoriert werden jedoch ihre charakterlichen Eigenarten. Vorurteile und (unbewußte) Benachteiligung durch die Lehrer stempeln sie als „under-achievers" ab: Ihnen wird von vornherein weniger zugetraut. Soziale Kontakte mit weißen Schulkindern sind selten. Im Arbeitsleben setzt sich diese Situation fort. Mit der mangelhaften Vorbereitung durch die Schule und den schlechten Abschlüssen fehlen die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Start der beruflichen Laufbahn. Für zahlreiche farbige Jugendliche eröffnet sich nach der Schule der Ausblick auf eine unbegrenzt dauernde Arbeitslosigkeit; das Pensionsalter dieser Menschen liegt sozusagen bei 19 Jahren. Der Eintritt in die Arbeitslosigkeit ist zugleich der Eintritt in die Hoffnungslosigkeit. Die jungen Arbeitslosen leben in einer strukturlosen Situation: ohne zwingende Zeitplanung, ohne geregelten Tagesablauf, ohne Ehrgeiz, ohne Aussichten, ohne Zukunft.
Um sie herum jedoch herrscht ein Konsumgüterangebot und eine Konsummentalität, die ihre Begehrlichkeiten wecken, ihnen die Erfüllung ihrer Konsumwünsche jedoch infolge fehlenden Einkommens versagen. Das Fehlen von Orientierungen, brüchige Moralkodizes und gestörte Beziehungen in ihren Familien fördern bei einer großen Anzahl Jugendlicher das allmähliche, aber früh einsetzende Abdriften in eine kriminelle Karriere. Vandalismus-Vergehen im Alter von zehn Jahren, Drogen mit elf, kleinere Diebstähle mit zwölf, schließlich ab 14 sich immer verlängernde Aufenthalte in Erziehungsheimen und Gefängnissen: solche Biographien sind längst nicht mehr die Ausnahme. Die Betroffenen nehmen ihren Abstieg fatalistisch zur Kenntnis: „Ich werde überleben. Es gibt sowieso nichts anderes zu tun.“ In einer solchen Situation und mit einer solchen Einstellung erscheint die kriminelle Karriere möglicherweise als eine durchaus logische Entscheidung, die angesichts der sehr knappen Sozialhilfen nicht zuletzt von der Not beeinflußt sein dürfte. „Black Crime“ gehört zu den Lieblingsthemen der britischen Massenpresse. Konstatiert wird ein rapider Anstieg der Kriminalität Farbiger, impliziert wird die zunehmende Bedrohung der weißen Einheimischen. Verbrechen, die Schwarze an Weißen begehen, wird größere — häufig nationale — Auf-merksamkeit zuteil; werden Schwarze jedoch von Weißen angegriffen, werden die Ereignisse häufig von der Polizei heruntergespielt und gelangen selten über die lokalen Medien hinaus.
Eine ähnliche Tendenz der Schuldzuweisung für bestimmte Vergehen an die farbigen Minderheiten zeigt sich beim Drogenproblem. Allerdings lassen zahlreiche Äußerungen der Politiker, die mediale Berichterstattung, die Erfassung der Straftaten durch die Polizei und vor allem deren Interpretation wie auch das Strafbemessungsverhalten der in ihren Fundamenten unverändert von den Ober-schichten dominierten Justiz vermuten, daß das britische Kriminalitätsproblem teilweise auch von den Ordnungsgewalten des weißen Staates beeinflußt wird.
Obwohl offiziell seit 1983 abgeschafft, führen städtische Polizeibehörden dennoch weiterhin rassenspezifisch differenzierte Statistiken zu bestimmten Straftaten und schaffen so die Grundlage für eine publizistische Kriminalisierungskampagne, unter der besonders arbeitslose, farbige Jugendliche zu leiden haben. Dieses Meinungsbild in der Öffentlichkeit wirkt wiederum auf das Verhalten und die Methoden der Polizei zurück — ein spiralförmiger Prozeß der steten Verschlechterung der Beziehungen zwischen den ethnischen Minderheiten und der Polizei. Straßenkontrollen, Leibesvisitationen, vorbeugende Inhaftierungen ohne ausreichende Verdachtsmomente sind — durch das konservative Polizeigesetz jetzt noch verbesserte — „ordnungspolitische“ Maßnahmen, die — werden sie so rigoros und einseitig gegen eine Minderheit ergriffen — Wirkungen zeigen, die über die eigentliche Zielsetzung einer Demoralisierung potentieller Straftäter hinausgehen. Die tägliche Erfahrung gezielter Erniedrigungen durch die Ordnungsmacht des (weißen) Staates führt zur Verbitterung der farbigen Bevölkerung gegen ein System, das sie nicht nur ökonomisch und sozial degradiert, sondern auch kriminalisiert.
England steht schon heute im Ruf eines „Europameisters im Einsperren“ 1983 nahm Großbritannien nach der Zahl der Verwahrungsurteile per 100 000 Einwohner nach der Türkei einen Spitzen-platz in der westlichen Welt ein Die Gefängnisse sind überfüllt; rund ein Drittel der Strafgefangenen leben in überbelegten Zellen Die Regierung leitete 1984/85 das größte Gefängnisbauprogramm seit über 100 Jahren ein; etwa 13 000 neue Gefängnisplätze sollen geschaffen werden Gleichzeitig werden die Mittel für Rehabilitationsprogramme und vorbeugende Maßnahmen gekürzt und Stellen für Sozialarbeiter gestrichen. Die Zahl der Strafund Untersuchungsgefangenen lag 1985 bei 53 500 — gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 6 %.
Im Landesdurchschnitt gehört jeder fünfte Strafgefangene einer Minderheitengruppe an, im Großraum London beträgt der Anteil der Farbigen in den Gefängnissen rund 30% Der Anteil Farbiger an den rechtskräftig verurteilten Strafgefangenen betrug für alle Straftaten 1985 12% und lag damit fast dreimal so hoch wie der Anteil der Farbigen an der Gesamtbevölkerung. West-Inder und Afrikaner stellten davon allein 7 %, ihr Anteil an bestimmten Straftaten wie Drogenvergehen und Raub lag sogar bei 15% Farbige werden oft schon wegen geringfügiger Vergehen in die Gefängnisse eingewiesen: 70% aller Schwarzen, die des einfachen Diebstahls beschuldigt werden, landen in Untersuchungshaft. Für Weiße stehen die Chancen besser, gegen Kaution in Freiheit auf ihren Prozeß warten zu dürfen
Es läßt sich festhalten: „Black crime“ ist längst nicht mehr primär ein Problem von „law and Order“, sondern wird zunehmend zu einem Problem der Rassendiskriminierung Denn die Kriminalisierung der farbigen Bevölkerungsteile hat zweifellos eine tiefere soziale Bedeutung: Das vom langfristigen ökonomischen Niedergang erschütterte Gesellschaftssystem findet in dem „unbritischen“, fremden Bevölkerungsteil eine Art Ventil, durch dessen Manipulation sich der aus dem Niedergang resultierende soziale Druck-bzw. Spannungszustand regulieren läßt. Die Unruhen in den achtziger Jahren haben gezeigt, daß auch diesem Vorgang Grenzen gesetzt sind. 3. Subkulturen Können die jugendlichen Subkulturen der sechziger Jahre noch als konsumorientiert gelten, so hat sich der Schwerpunkt in den achtziger Jahren auf den erzwungenen Konsumverzicht, auf die Konsum-frustration verlagert. Dies trifft fürjugendliche Farbige in besonderer Weise zu. Sie dürfen zwar zentrale gesellschaftliche Werte wie Konsum und Leistung, die durch Schule, Medien und Politik propagiert werden, internalisieren; die Möglichkeiten zur Befriedigung der so intensiv stimulierten Bedürfnisse bleiben ihnen jedoch in dem Maße verwehrt, in dem ihnen Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Arbeit und Einkommen verwehrt wird.
Jugendliche Subkulturen finden in dieser Tantalus-Situation einen ihrer Ausgangspunkte, der in enger Verbindung mit den Wertmustern der unteren Schichten der Arbeiterklasse steht, denen sie in der Mehrzahl entstammen. Besonders deutlich wird dies in der Punk-Bewegung, deren Nihilismus und radikaler Nonkonformismus sich in der Kultivierung von Häßlichkeit und Obszönität manifestiert und die als Parodie auf die unkritische Konsum-mentalität der bürgerlichen Massengesellschaft interpretiert werden kann.
Besonders Farbige karibischer Herkunft stehen der Punk-Bewegung schon aus politischen Gründen — die gemeinsame Ablehnung des „Systems“ — näher als andere Immigrantengruppen. Die Punk-Bewegung ihrerseits ist eher dem Anti-Rassismus verbunden, der sich auch in ihrer Übernahme „schwarzer“ Musik-und Tanzformen (Reggae) dokumentiert. Demgegenüber sind Skinheads geradezu auf rassistische Überfälle auf Immigranten spezialisiert; ihre Gruppen gelten als Hauptbetätigungsfeld neofaschistischer Organisationen wie National Front oder British Movement, die Freizeitaktivitäten wie „Paki-bashing“, Randale in Immigrantenvierteln, Überfälle und Demolierung asiatischer Läden nach Kräften fördern.
Der Rastafarier-Kult entstand ursprünglich in Jamaika und breitete sich von dort in den USA, Australien, Neuseeland aus. Nirgendwo war der Kult jedoch erfolgreicher als in Großbritannien: Hier entwickelten die Farbigen karibischer Herkunft mit ihrer Reggae-Musik und ihrer fanatischen Religiosität Elemente einer zutiefst antibritischen Subkultur, deren konsequent totale Fremdheit die Abkehr von der aus ihrer Sicht perspektivlosen Industriegesellschaft und die Sehnsucht nach einer Reversion der historischen Zwangsmigration Afrika-Jamaika-England thematisiert. Ihre Selbsteinschätzung als entwurzelte Gemeinschaft, zerrissen zwischen der west-indischen Kultur ihrer Eltern und der britischen Kultur, in der sie aufwuchsen, führte zu ihrer — durch ihre äußere Erscheinung dokumentierten — Ablösung vom verabscheuten „Babylon“ (England). Durch diese Negierung des Systems und der Gesellschaft Großbritanniens kommt dieser Sekte auch eine gewisse politische Bedeutung zu. 4. Assimilation und Integration Die vorstehenden Abschnitte thematisieren sozialpolitisch problematische Reaktionsformen der Immigranten auf die mannigfaltigen Benachteiligungen durch die britische Gesellschaft. Obwohl die Kemaussagen der Situationsanalyse — die gravierende Benachteiligung und Diskriminierung der Immigranten in bezug auf ihren Rechtsstatus wie auch in den Bereichen Bildung, Arbeitsmarkt und Wohnen — zweifellos auch für die Mehrheit der Einwanderer zutreffen, darf der generalisierende Unterton, der bei der Darstellung der problematischen Reaktionsformen fast unvermeidlich mitschwingt, nicht zu der Einschätzung führen, daß die Mehrheit der Immigrantenbevölkerung zu diesen Formen abweichenden Verhaltens — sei es nun Straßenkrieg mit der Polizei, Kriminalität, Drogen oder Sektiererei — neige.
Bei der Einschätzung der Integrationsfähigkeit und Assimilationswilligkeit der Immigranten stoßen jedoch generalisierende Aussagen der Art, wie sie etwa für die Analyse der konkreten Lebensumstände und Lebenschancen noch zulässig schienen, an Grenzen. Sowohl Assimilation als auch Integration setzen den Willen voraus, mehr oder weniger umfassende Elemente der eigenen ethnischen und religiösen Kultur und der Verbundenheit mit dem Herkunftsland zugunsten der Einfügung in den neuen gesellschaftlichen Gesamtkontext aufzugeben. Die Verteidigung kultureller Eigenständigkeit einzelner ethnischer Minderheiten hätte als Alternative zur Anpassung oder Integration längerfristig selbst dann keinen Erfolg, wenn sie als bewußte Politik betrieben würde. Denn zu total wäre die Abhängigkeit auch solcher „ethnischer Inseln“ von den gesellschaftlichen Grundbedingungen, vom Arbeitsmarkt, von den Medien, von den Konsumgütern, als daß eine solche Abkoppelung sinnvoll erschiene. Daß sich dennoch die Immigranten — zumindest in den ersten Jahren nach ihrer Einwanderung — bemühen, in Sprache, Kleidung, Eßgewohnheiten usw. ihre je ethnischen oder religiösen Eigenarten beizubehalten, ist eine angesichts der tiefgreifenden Umstellung, die ihnen der neue gesellschaftliche Kontext abverlangt, nur allzu verständliche Reaktion.
In den einzelnen ethnischen Minoritäten sind jedoch die Fähigkeiten zur Assimilation und Integration recht unterschiedlich ausgeprägt. Gerade hier zeigt sich ein zentrales Paradoxon der britischen Immigrationsproblematik: Asiatische Einwanderer, deren religiöser und kultureller Hintergrund nicht nur größte Unterschiede zur britischen Kultur aufweist, sondern die auch untereinander durch zahlreiche Differenzierungen bis hin zu scharfen Gegensätzlichkeiten (Hindus, Sikhs, Muslims, Buddhisten chinesischer Herkunft etc.) gekennzeichnet sind, haben offenbar relativ geringe Schwierigkeiten, sich den Gegebenheiten der britischen Umwelt anzupassen. West-Inder hingegen, die kulturell der britischen Gesellschaft am nächsten stehen dürften (Jamaika war bis 1962 britische Kronkolonie, ist heute Commonwealth-Mitglied und wirtschaftlich eng mit England verbunden), die mehrheitlich der anglikanischen Kirche angehören und in einem von den englischen Kolonialherren aufgebauten Bildungssystem und politischer Kultur aufwuchsen, unterscheiden sich nach ihrer Wesens-art stärker von der einheimischen Bevölkerung und stehen Integrationsbestrebungen eher gleichgültig gegenüber.
Mit Ausnahme der Pakistani haben Asiaten — besondersjene, die Ende der sechziger Jahre aus Kenia vertrieben wurden — nicht nur geringere Arbeitsmarktprobleme als andere Immigranten-gruppen, sondern sind auch eher bestrebt, den Nutzen des britischen Bildungssystems für ihre Kinder voll auszuschöpfen und dafür auch finanzielle Opfer zu erbringen. Höhere Schulbildung, universitäre Ausbildung sowie ein hohes berufliches Qualifika41 tionsniveau, ein im Vergleich zu den schwarzen Immigranten weit höherer Anteil nicht-manuell Beschäftigter und größerer Ehrgeiz bei der Verfolgung einer beruflichen Karriere sind bei Indem und afro-asiatischen Einwanderern in weit höherem Maße verbreitet als bei den West-Indern. Wirtschaftliche Erfolge von Immigranten — der Aufbau eigener Geschäfte, Kleinfabriken, Labors, Wäschereien und sonstigen Dienstleistungsunternehmen (in deren Kundschaft wiederum die Immigranten-bevölkerung dominiert) sind praktisch ausschließlich auf Einwanderer asiatischer Herkunft beschränkt. Viele dieser Asiaten gründen ihren Erfolg auf der Überzeugung, sich nur durch wirtschaftliche Stärke gegen die Diskriminierung wappnen zu können. Für diese Strategie finden die „neuen Juden“ — wie sie sich mitunter in Anlehnung an die vergleichbare Grundhaltung jüdischer Immigranten in der Vergangenheit selbst nennen — in den leerstehenden Produktionsstätten und Bürohäusern und unter einer Regional-, Struktur-und Industriepolitik, die primär auf die Förderung der Privatinitiative abhebt, geradezu ideale Bedingungen.
Von West-Indern hingegen sind keine Berichte über aufsehenerregende wirtschaftliche Erfolge bekannt. Die Einwanderung aus der Karibik brachte primär die schlecht gebildeten und gering oder nicht qualifizierten Bevölkerungsteile nach Großbritannien, die damals ohne Probleme in den britischen Arbeitsmarkt aufgenommen werden konnten. Die West-Inder der ersten Einwanderer-generationen in den fünfziger und frühen sechziger Jahren wurden primär für die rapide expandierenden großstädtischen Verkehrsbetriebe (besonders in London und Birmingham), für Müllabfuhr und Straßenreinigung benötigt. Im Privatsektor wurden ihnen die schmutzigsten, gefährlichsten und eintönigsten Arbeiten der Schwerindustrie zugewiesen — Arbeiten also, die keine oder nur geringe berufliche Qualifikationen voraussetzten. Die Diskriminierung, der sie sich ausgesetzt sehen, ist letztlich nicht nur die Folge ihres Andersseins, also ihrer Hautfarbe und Rassenzugehörigkeit, ihrer „UnBritishness", sondern auch Resultat ihrer gesellschaftlich außerordentlich gering bewerteten Tätigkeiten. Den Jamaikanern bot die weiße Gesellschaft keine Gelegenheit zur Assimilation oder Integration, sondern trieb sie zeitgleich mit ihrem abnehmenden ökonomischen Nutzen in eine soziale Gettoisierung. Während diese Situation jedoch von den älteren Einwanderern, denen noch die Lebens-umstände in der west-indischen Heimat in Erinnerung sind, fatalistisch akzeptiert wird, löst sie bei den jungen, in Großbritannien geborenen Schwarzen antagonistische Grundhaltungen aus, die sich in ihren unterschiedlichen Reaktionsformen — von religiös-fanatischen „Heimkehr-und Erlösungsideologien“ wie dem Rasta-Kult über Drogenmißbrauch bis hin zu Straßenunruhen und Kriminalität — manifestieren.
V. Immigration als gesellschaftspolitisches Problem
Der Überblick über die historische Entwicklung und die statistische Dimension der Immigrationsproblematik sollte ebenso wie die Darstellung der Situation der Einwanderer und ihrer Reaktionsformen verdeutlichen, daß die Einwanderung zahlreicher Menschen aus fremden Kulturkreisen und von unterschiedlicher Rassen-und Religionszugehörigkeit gerade für eine Gesellschaft ein gewaltiges Problem darstellen muß, die ohnehin mit gravierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Es ist im heutigen Großbritannien offenkundig, daß die „Fremden“ (aliens) in der einheimischen Bevölkerung nicht willkommen sind. Schon der sprachliche Umgang mit dem Problem zeigt eine wahrhaft unnachahmliche, aber sehr britische Grenzziehung. So bezeichnet der Wortstamm „alien“ in dem Begriff „alienism“ auch die Erforschung und Behandlung von Geisteskrankheiten. Ein Ausländer, der die britische Staatsangehörigkeit erwirbt, wird „naturalized", in des Wortes wahrster Bedeutung „in einen natürlichen Zustand überführt“ — nämlich den britischen.
Diese Konnotationen sind nicht zufällig; „British“ zu sein (nicht: zu werden) gilt vielen Engländern noch immer als eine der höchsten irdischen Weihen. Die Ablehnung des Fremden findet nicht zuletzt ihre Ursache in der Insellage sowie in der Tatsache, daß das Land seit der normannischen Eroberung (1066) keine Invasion erlebt hat und infolgedessen auch nicht gezwungen war, immer wieder neue Elemente des Fremdseins in einem den kontinentalen Staaten vergleichbaren Ausmaß zu integrieren. Tatsächlich läßt sich diese Grundhaltung der Briten historisch an zahlreichen Beispielen belegen; bis in die Gegenwart hinein findet diese Ablehnung in gemilderter Form in der „Vorstellung von der notorischen Inferiorität der Kontinentaleuropäer“ auch einen für die europäischen Integrationsbemühungen relevanten politischen Ausdruck. Diese Grundhaltungen, die eher quasi gesamtkultureller Art sind und im Alltag dem Touristen kaum begegnen dürften, bleiben auch von den schockierendsten Entwicklungen des britischen Sozialprodukts oder vom Verlust eines Weltreiches offensichtlich unberührt. „Eigene Schwierigkeiten nach außen zu projizieren ist eine alte Übung. Die eigene Vergangenheit schön zu finden, wenn die Gegenwart so beängstigend ist, das muß Engländern naheliegen. So erklärt sich die historische Nostalgie, Chauvinismus und Blödeleien auf Kosten des Fremden inbegriffen, aus einem Instinkt, überleben zu wollen, ohne das Gesicht zu verlieren . . . England ist ein Narziß, der nicht müde wird, sich im Spiegel zu betrachten.“
Eine solche scharfe Beurteilung mag zwar jedem, der das Land und seine Bewohner kennen und schätzen gelernt hat, überzeichnet erscheinen; im Kem enthält sie jedoch auch eine unbequeme Wahrheit. Farbige Immigranten jedweder Herkunft leben in Großbritannien in einer sozialen Isolation, in einer Situation gravierender Benachteiligungen in allen Lebensbereichen, die in der Tat (zumindest latente) rassistische Grundzüge aufweist. Rassismus und Diskriminierung sind deshalb im heutigen Großbritannien als zentrale, den Alltag der Einwanderer prägende Problemfaktoren zu kennzeichnen. In dem Maße, in dem es dem Land nicht gelingt, die sozialpolitische Brisanz des Einwanderungsproblems zu entschärfen, wird der bislang eher latente Rassismus immer deutlicher hervortreten. Den Medien könnte dabei eine sinnstiftende und realistische Möglichkeiten einer neuen gesellschaftlichen Normalität aufzeigende Rolle zukommen — die sie bisher jedoch vernachlässigen. Zumindest das Fernsehen beschränkt sich noch immer (gerade in den erfolgreichsten Serien) auf die Darstellung totaler kultureller Enklaven — hie Arbeiterklasse, dort Mittelklasse —, thematisiertjedoch höchst selten das Zusammentreffen verschiedener Klassen oder gar verschiedener ethnischer Gruppen. Diese problembehafteten, „schweren“ Themen bleiben den weniger massenwirksamen politischen Dokumentationen und Magazinen vorbehalten.
Die gegen Rassismus und Diskriminierung gerichteten gesetzgeberischen Maßnahmen des Staates erweisen sich jedenfalls bislang noch als unzureichend — eher als Reagieren auf die der staatlichen Kontrolle entgleitenden Entwicklungen denn als zukunftsorientierte gesamtgesellschaftliche Strategie. Vielmehr haben gerade zahlreiche Einzelmaßnahmen der konservativen Regierung, die in ihrer Summe einen allmählichen Abbau des Wohlfahrtsstaates erkennen lassen, ein Element der sozialen Härte eingeführt, das auf die in mehrfacher Hinsicht ungesicherte Existenz der farbigen Bevölkerungsteile besonders gravierend einwirkt. Nicht zuletzt deshalb kritisierte die sonst politisch völlig abstinente Königin die „sozial entzweiende Politik“
der Regierung Thatcher.
Die britische Rassenproblematik wird von einer Gesellschaft produziert, die sich weigert, die Immigrantenbevölkerung am knapper werdenden Nutzen des nationalen Wirtschaftspotentials teilhaben zu lassen. Als Konsumenten sind sie zwar inzwischen zu einem bedeutenden Nachfragefaktor auf dem Binnenmarkt geworden — mehr noch als die Gastarbeiter in der Bundesrepublik, die beträchtliche Teile ihres Einkommens in die Heimatländer transferieren. Als Produzenten sind sie jedoch in dem Maße unerwünscht, in dem die ihnen zunächst zugestandenen Beschäftigungen vernichtet wurden, ihre Abhängigkeit vom sozialen Sicherungsnetz zunimmt und ihre Jugendlichen mit ihren weißen Altersgenossen in eine sich verschärfende Konkurrenz um die verbleibenden Arbeitsplätze treten.
Eine politische Artikulation der farbigen Minderheiten auf nationaler Ebene ist bislang weitgehend ausgeblieben. Selbst in der Labour Party wurde beim Parteitag 1986 ein Vorstoß zur Einrichtung von „black sections“ in der Parteistruktur abgelehnt. Im Unterhaus saß seit Kriegsende kein farbiger Abgeordneter mehr; für das House of Lords scheint eine solche Entwicklung ohnehin kaum denkbar. Da das britische Mehrheitswahlrecht keine Zweitstimmen kennt, sämtliche Abgeordneten also direkt gewählt werden, bestehen angesichts des relativ geringen Bevölkerungsanteils der Farbigen kaum Chancen für eine adäquate parlamentarische Repräsentanz der Minderheiten — jedenfalls solange nicht, wie das politische System am Mehrheitswahlrecht festhält (das allerdings angesichts der eklatanten Benachteiligung der „Alliance“ der Liberalen und der Sozialdemokraten inzwischen heftig kritisiert wird). Über eine andere Möglichkeit, die quotenmäßige Zuteilung einer bestimmten Zahl von Mandaten an die farbigen Bevölkerungsteile, wurde bislang kaum diskutiert. Zwar gibt es zahlreiche farbige Abgeordnete in den Stadträten, doch lediglich einen farbigen Bürgermeister (in Bradford). So beschränkt sich die politische Artikulation dieser Minderheiten auf eine Reihe von Privatinitiativen und (teilweise mit kommunaler Unterstützung finanzierte) Race Relations Groups und Aktionskomitees. Dies ist um so problematischer, als die konkrete Produktion der Marginalität der ethnischen Minderheiten nicht zuletzt durch die verschiedenen, sie tangierenden Politikbereiche erfolgt, die im politischen System Großbritanniens mit seiner sehr starken Betonung der Exekutive relativ geringen demokratischen Kontrollmechanismen unterworfen sind. Zwischen der Praxis dieser Politikbereiche und den verbalen Bekenntnissen und programmatischen Erklärungen der „hohen“ Politik zur ethnischen Problematik bestehen beträchtliche Diskrepanzen.
Wenn in den regierungsamtlichen Verlautbarungen zur Bildungspolitik immer wieder die „besonderen Erfordernisse“ der farbigen Minderheiten betont werden, die es zu berücksichtigen gelte, so kann dies in der Bildungspraxis so interpretiert werden, daß farbige Schulkinder — jedenfalls die west-indischer Abstammung — von Natur aus „under-achievers“ seien. Diese Einschätzung setzt sich in anderen Politikbereichen wie der Sozial-oder der Arbeitsmarktpolitik fort. Die britische Sozialpolitik geht von der Prämisse aus, daß besonders in westindischen Familien relativ schwache Bindungen bestünden. Die Entfremdung westindischer Jugendlicher vom gesamtgesellschaftlichen Kontext findet nach dieser Überzeugung in einer geringen Sozialisationsleistung der Institution Familie ihre Begründung. Mit der gleichen Berechtigung könnte dies jedoch auch für das abweichende Verhalten weißer Jugendlicher angeführt werden. Die Sozial-behörden können jedenfalls nicht aus ihrer Mitverantwortung beispielsweise für die Obdachlosigkeit junger Schwarzer mit der Begründung entlassen werden, familiale Generationenkonflikte hätten zum Auszug der Jugendlichen aus dem Elternhaus geführt, die Obdachlosigkeit könne demzufolge nicht den unzureichenden Wohnverhältnissen angelastet werden.
Dem strukturellen Verfall der Innenstädte stemmt sich keine zielorientierte Politik entgegen; die Umwandlung demolierter Fabriken und Docks in Parkanlagen und Freizeitzentren (z. B. in Bristol, Liverpool, Swansea, London) mutet angesichts der infolge der innerstädtischen Arbeitslosigkeit sicherlich reichlich vorhandenen „Freizeit“ der Bewohner wie ein Sarkasmus an; Beschäftigungswirkungen jedenfalls entfalten solche städtebaulichen Programme nur für kurze Zeit. Abgesehen von dieser Stadtkosmetik, orientiert sich die Mittelzuweisung der Zentralregierung für innerstädtische Infrastrukturmaßnahmen nicht zuletzt an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Gemeinden. Verfallende Bezirke erhalten so geringere Zuweisungen für Bildungseinrichtungen, Bibliotheken und dergleichen. Besonders in der Arbeitsmarktpolitik ist es nicht gelungen, rassenspezifische Verzerrungen abzubauen. Daß die Benachteiligung der Farbigen sich nicht nur auf die untersten Qualifikationsstufen beschränkt, sondern im Gegenteil mit steigender Qualifikation zunimmt, kennzeichnet eine Grundstruktur der beruflichen Diskriminierungsprozesse: den Versuch, Angehörige ethnischer Minderheiten aus verantwortlichen Positionen femzuhalten.
Ob es nun darum geht, Zugang zu besseren Wohnverhältnissen zu bekommen, Sozialhilfen zu beantragen, die Kinder in besseren Schulen unterzubringen, einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle zu finden (bzw. zu verlieren) oder befördert zu werden — farbige Minderheiten erfahren eine im Verhältnis zu den Weißen durchgängig überproportionale Benachteiligung. Jene Behauptung „spezieller Bildungserfordernisse“, gestörter Familienverhältnisse, Konzentrationsschwäche, Arbeitsunlust u. a. m. erscheinen als Kennzeichnungen der Rassenproblematik, die — vordergründig betrachtet — die Schuld für die Diskriminierung bei deren Opfern suchen. Doch diese Erklärung greift zu kurz: „Häufig ist weniger die Schuldzuweisung an das Opfer offenkundig als vielmehr die Zuweisung der Verantwortung für seine Probleme an seine Kultur oder Brauchtümer. Zwar kann er selbst kaum für seine Kultur verantwortlich gemacht werden, und doch richtet sich die Politik auf die Veränderung dieser Kultur oder dieser Brauchtümer.“ Letztlich ist es also der kulturelle Hintergrund der Farbigen, der als defizitär und fragmentiert empfunden wird. Benachteiligung, Diskriminierung und Rassismus können so als Produkt der Differenzen und Diskrepanzen zwischen den Kulturen der Farbigen und der dominanten britischen Kultur verstanden werden. Trifft diese Einschätzung zu, so folgt daraus ein grundsätzlicher Pessimismus im Hinblick auf die mittel-oder auch längerfristige „Lösung“ der britischen Rassenproblematik: die Einschätzung nämlich, daß angesichts dieser tiefgreifenden kulturellen Phänomene die „Lösungsansätze“ des politischen Systems wirkungslos bleiben werden. Die britische Gesellschaft wird auch in Zukunft mit diesem Erbe der imperialen Vergangenheit des Landes zu leben haben, das allmählich traumatische Züge anzunehmen droht.
Karlheinz Dürr, Dr. rer. soc., geb. 1947; Studium der Politikwissenschaft und Anglistik in Tübingen und Konstanz; seit 1980 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen; Übersetzer und Redakteur. Veröffentlichungen u. a.: Konflikt und Kooperation. Die Situation der Arbeitsbevölkerung, das System der Arbeitsbeziehungen und die Strategien der Gewerkschaftsbewegung in Großbritannien, Frankfurt 1981; Die Britische Krankheit. Krisenphänomene und Lösungsstrategien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/82; Von der Orientierungslosigkeit zur Ohnmacht: Zur Situation der britischen Gewerkschaftsbewegung, in: Zeitschrift für Politik, (1983) 4; Massenarbeitslosigkeit und ihre sozialen und politischen Wirkungen in Großbritannien, in: W. Bonß/R. G. Heinze (Hrsg.), Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt 1984; Der Bergarbeiterstreik in Großbritannien, in: Politische Vierteljahresschrift, (1985) 4.
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