Die Betroffenen verweigern sich dem Krisenmanagement Der Nordirlandkonflikt
Roland Sturm
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Zusammenfassung
Das erste Jahrzehnt nordirischer Politik nach dem gewaltsamen Ausbruch des Konflikts Ende der sechziger Jahre war gekennzeichnet von wiederholten Bemühungen, im direkten Kontakt der Kontrahenten (der protestantischen Unionisten und der katholischen Nationalisten), beispielsweise durch das Modell der Machtbeteiligung der katholischen Minderheit bei der Regelung nordirischer Angelegenheiten (powersharing), das Konfliktpotential zu begrenzen. Diese Politik scheiterte ebenso wie die wiederholten Anläufe zur Schaffung eines von beiden Konfliktpartnern akzeptierten nordirischen Parlaments (1973, 1975, 1982). das den 1972 aufgelösten Stormont ersetzen sollte. Das Versagen interner Lösungsmodelle veranlaßte die britische Regierung, nach Konfliktbegrenzungsstrategien auf der internationalen Ebene (durch Absprachen mit der Regierung der Republik Irland) zu suchen, zumal die Republik in den achtziger Jahren eine deutlich konziliantere Haltung gegenüber Nordirland entwickelte. Zum ersten Mal (New Ireland Forum 1984) wurden in der Republik bei allen politischen Parteien Alternativen zur Vereinigung des Nordens mit der Republik als Lösungsmöglichkeiten des Nordirlandproblems diskutiert. In Verhandlungen der britischen mit der irischen Regierung entstanden dauerhafte Kooperationsstrukturen beider Länder, und es kam zum Abschluß eines anglo-irischen Abkommens (1985). das der Republik ein begrenztes Mitspracherecht in nordirischen Angelegenheiten gibt. Die eigentlich Betroffenen aber waren weder für interne, noch für auf der internationalen Ebene entwickelte Konfliktlösungsmodelle zu gewinnen. Die katholischen Nationalisten sehen sich weiterhin als diskriminierte Minderheit und fordern den Anschluß des Nordens an die Republik. Die protestantischen Unionisten fürchten um ihre Rechte, wenn der Republik Irland Einflußmöglichkeiten auf die nordirische Politik gegeben werden. Das britische Krisenmanagement fand und findet bei keiner Seite Unterstützung, ja. es wird immer wieder für die sporadisch eskalierende Konfliktintensität verantwortlich gemacht.
„Most British voters would be delighted ifthe Irish Sea rose up and swallowed the troublesomeprovince ofNorthern Ireland. “ The Economist, 29. 11. 1986, S. 19.
Überdruß und Gewöhnung sind die vorherrschenden Gefühle, die sich für die Mehrzahl der britischen Politiker mit dem Gedanken an den Nordirlandkonflikt verbinden. Zu dieser resignierten Haltung trägt nicht nur die Zählebigkeit des Konflikts bei, der seit nunmehr zwanzig Jahren fast täglich Todesopfer fordert; ein Gefühl der Ohnmacht der politisch Verantwortlichen in London hat sich vor allem deshalb eingestellt, weil alle bisherigen Anläufe zur „Lösung“ oder mindestens doch zur „Befriedung“ des Nordirlandkonflikts in der Sackgasse endeten.
Die nordirische Gesellschaft ist ein soziales Gefüge, dem der Konsens über die Bedingungen des Zusammenlebens der beiden, diese Gesellschaft bildenden Bevölkerungsgruppen, nämlich der protestantischen und katholischen, welche schon immer weitgehend fehlte. Sie ist heute auch eine Gesellschaft, in der die moralischen und sozialen Barrieren gegen den Einsatz von Gewalt als Mittel der Politik weit niedriger liegen als in anderen westeuropäischen Ländern -Die Unmöglichkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne ein Mindestmaß an Übereinstimmung der beiden Bevölkerungsgruppen über die Grundlagen der politischen Gemeinschaft und der Methoden des gesellschaftlichen Konfliktaustrags bestimmt die Dynamik des Nordirlandkonflikts.
Alle Interpretationsmuster, die primär Außeneinflüsse für den Nordirlandkonflikt verantwortlich zu machen versuchen, argumentieren an den eigentlichen Konfliktursachen vorbei. Nordirland ist weder eine der letzten britischen Kolonien, die im Auftrag der Londoner Zentralregierung (oder gar — wie gelegentlich vermutet wurde — im Interesse der NATO von den protestantischen Stellvertretern des britischen Imperialismus und der britischen Armee mit Gewalt im Vereinigten Königreich gehalten wird, noch ist das Land Austragungsort archaischer Konflikte, wie der Religionskriege oder des Klassenkampfs zwischen protestantischer Ober-und katholischer Unterschicht.
I. Das unionistische Nordirland
Mit dem Government of Ireland Act von 1920 entstanden zwei politische Einheiten in Irland mit getrennten Parlamenten für den Norden (sechs Grafschaften) und den Süden (26 Grafschaften) des Landes. Das vom britischen Parlament verabschiedete Gesetzeswerk verkörperte einen Kompromiß zwischen der nationalistischen Forderung nach Anerkennung der autonomen Herrschaftsbefugnisse des 1919 nach dem Auszug der meisten irischen Abgeordneten aus dem Unterhaus in London konstituierten gesamtirischen Parlaments in Dublin (Däil Eireann) und dem vor allem von Ulster ausgehenden unionistischen Begehren nach Erhalt der britisch-irischen Union.
Mit der Gesetzgebung von 1920 erhielt der innerirische Interessenkonflikt zwischen Unionisten und Nationalisten erstmals eine territoriale Dimension. Die Unterschiedlichkeit der vorherrschenden politischen Zielvorstellungen der beiden Teile des Landes bestätigten auch die Ergebnisse der 1921 abgehaltenen Wahlen zu den beiden parlamentarischen Vertretungen. Während die nationalistische katholische Sinn Fin im Süden 124 der 128 Sitze gewann, erhielten die Unionisten im Norden bei der dortigen ebenfalls nach dem Verhältniswahl-system gefallenen Wahlentscheidung 40 der 52 Sitze.
Mit der faktischen Anerkennung der irischen Teilung durch den Süden, dessen Repräsentanten 1921 den anglo-irischen Vertrag, die Gründungsurkunde des (süd-) irischen Freistaats (Saorstät Eireann) unterzeichneten, wurde die durch die Teilung hervorgerufene „doppelte Minderheitenposition“ für die Bevölkerung Nordirlands festgeschrieben. Zum einen waren nun die katholischen Nationalisten eine Minderheit in Nordirland. Zum anderen gehörten sie aber immer noch der gesamtirischen nationalistischen Mehrheit an, die das sich aus dieser Perspektive in einer Minderheitenposition befindliche unionistische Nordirland zu bedrohen schien. Diese Bedrohung war greifbare Realität, solange der irische Bürgerkrieg zwischen den Gegnern und den Befürwortern des anglo-irischen Vertrages (Juni 1922 — Mai 1923) noch andauerte. Vor allem die Logik der Politik im Bezugsrahmen der erwähnten doppelten Minderheitenposition erklärt die einschneidenden Weichenstellungen der ersten Jahre nordirischer Autonomie, die dazu beitrugen, Nordirland zu einer Bastion der politischen und gesellschaftlichen Macht der Unionisten auszubauen. Aus der faktischen Minderheitsposition der Nationalisten und der Abwehrhaltung der Unionisten entstand ein Mißtrauenspotential, das die gesellschaftlichen Realitäten bestimmte und damit, wie bei einer Spirale ohne Ende, immer wieder erneuten Anlaß zu Mißtrauen schuf.
Mit der irischen Teilung war die Oppositionshaltung der katholischen Minderheit gegenüber der nordirischen Autonomie keineswegs gebrochen. In ihrer Mehrheit stellte sie nach wie vor die Legitimität der nordirischen Regierung in Frage und verhielt sich reserviert gegenüber der nordirischen Verwaltung. Viele Lehrer an katholischen Schulen weigerten sich beispielsweise anfänglich, ihren Unterricht nach den Curricula-Vorgaben des nord-irischen Erziehungsministeriums abzuhalten. Statt dessen bezogen sie ihren Lehrstoff aus Dublin, von wo sie auch ihr Gehalt erhielten. Verwaltung und Polizei blieben für die Nationalisten Instrumente einer fremden Macht — eine Haltung, die unionistischen Interessen eher entgegenkam. Katholiken in öffentlichen Ämtern standen auf unionistischer Seite im Geruch der „fünften Kolonne“ des nationalistischen Staates im Süden.
Die unionistischen Bedrohungsvorstellungen schienen durch die politischen Entscheidungen in der Republik Irland in den folgenden Jahrzehnten immer wieder gerechtfertigt zu werden. Bis heute gilt Artikel 2 der irischen Verfassung von 1937, der als Staatsgebiet der Republik „die ganze Insel Irland, ihre Inseln und Territorialgewässer“ definiert, und erst 1972 tilgte ein Referendum Artikel 44 (2) der irischen Verfassung, der auch de jure der katholischen Kirche als Schützerin des Glaubens der großen Mehrheit der Bürger Irlands eine „besondere Stellung“ gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen einräumte.
Die Defensivhaltung der protestantischen Mehrheit hatte Konsequenzen, die weit über ein legitimes Schutzbedürfnis hinausreichten, die aber im Laufe der Zeit nicht mehr als „Überreaktion" erkannt wurden, sondern bald als integraler Bestandteil des unionistischen Besitzstandes galten. Mit der protestantischen Vorherrschaft verband sich so untrennbar die Diskriminierung der Katholiken. Unionistischer Politik ist es zuzuschreiben, 1. daß die Vorschläge der Grenzziehungskommission, die im Zusammenhang des Abschlusses des anglo-irischen Vertrages eingerichtet worden war, um für Nordirland Grenzziehungen zu finden, die besser als die alten Grafschaftsgrenzen die nationalen Loyalitäten der Bevölkerung widerspiegeln, ignoriert wurden. Mit der Bestätigung der alten Grenzlinien im Jahre 1925 vergaben die Unionisten zugunsten des territorialen Vorteils die Chance, den Bevölkerungsanteil nationalistischer Gegner des nordirischen Staatswesens zu verringern und damit einen Teil des Konfliktpotentials zu entschärfen; 2. daß die Polizei und vor allem die Polizeireserve (B-specials) zur Domäne der Protestanten wurden. Damit war im Falle des Konfliktes zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen Nordirlands die „Parteilichkeit“ der Staatsmacht ebenso vorprogrammiert wie die Stationierung britischer Truppen als einziger nicht kompromittierter Ordnungsinstanz bzw.der Wunsch der katholischen Minderheit nach Verteidigung ihrer Sicherheit im Extremfall ebenfalls durch eine von ihr getragene Macht wie der Irisch Republikanischen Armee (IRA); 3. daß durch die Einführung des Mehrheitswahlsystems sowohl für die Wahlen zum nordirischen Parlament (1929) als auch bei Kommunalwahlen (1923) die Chance einer fairen Repräsentation der Bevölkerungsminderheit vertan wurde, zumal als flankierende Maßnahme an Einschränkungen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts festgehalten wurde. Das Wahlrecht blieb bei Kommunalwahlen auch nach der Abschaffung der Besitzqualifikation in Großbritannien im Jahre 1946 in Nordirland an das Führen eines Haushaltes gebunden. Zusätzlich eingeführt wurde hier 1946 das sogenannte „business vote“, ein Mehrfachstimmrecht für Unternehmen, das Limited Companies für jeden in ihrem Besitz befindlichen Grundstückswert von 10 britischen Pfund bei Kommunalwahlen eine zusätzliche Stimme gab — bis zu einem Maximum von sechs Stimmen. Nicht nur das Wahlrecht und das Wahlsystem, auch die Wahlkreiseinteilung wurden politisch manipuliert. Die Wahlkreiseinteilung wurde so vorgenommen, daß in katholischen Gebieten viel mehr Wähler erforderlich waren für die Wahl eines Repräsentanten als in protestantischen. Mit der Manipulation des Wahlrechts wurde der Kreis der Wahlberechtigten bei Kommunalwahlen im Vergleich zu den Wahlen zum nordirischen Parlament (Stormont) um etwa ein Drittel verringert, wobei deutlich mehr Katholiken als Protestanten aufgrund des Fehlens der Besitzqualifikation das Wahlrecht verwehrt blieb. Vor allem Protestanten waren es, die wohlhabend genug waren, um vom „business vote“ zu profitieren. Mit den Wahlkreis-manipulationen wurden zudem künstliche protestantische Mehrheiten durch entsprechende Festlegung der Wahlkreisgrenzen auch in Gebieten erzeugt, in denen eine überwiegend katholische Bevölkerung lebte. Das Ergebnis der Wahlmanipu-, lationen war eine fast durchgängige unionistische Kontrolle der Politik und Verwaltung Nordirlands auch weit über jene sozialen Zusammenhänge hinaus, in denen das Mehrheitsprinzip ohnehin die protestantische Vormachtstellung begründet hätte; daß diese unionistischen Machtpositionen auf lokaler Ebene zur aktiven Diskriminierung der nationalistischen Minderheit genutzt wurden. Bevorzugt wurden Protestanten von den überwiegend protestantischen Kommunalverwaltungen bei deren Einstellungspolitik, bei der Wohnungszuteilung und bei der Vergabe von Aufträgen an Handwerk und Industrie. Die Diskriminierung im öffentlichen Sektor wurde „ergänzt“ durch die Diskriminierung im Privatsektor mit dem Ergebnis, daß bis heute der Anteil der katholischen Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor überproportional groß ist und daß die Arbeitslosenquote unter Katholiken doppelt so hoch ist wie diejenige unter Protestanten.
II. Bürgerrechtsbewegung und unionistische Reformen
Abbildung 14
Tabelle 2: Gewünschte Lösungen für den Nordirland-Konflikt (in Prozent), Umfrage 1984 Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland Föderation Nordirlands mit der Republik Irland Gemeinsame Regierung Nordirlands durch die Republik Irland und Großbritannien Andere Lösung Von denjenigen, die eine andere Lösung wollten, sprachen sich aus für: Londoner Direktregierung Machtbeteiligung der Katholiken an der Regierung Protestantische Mehrheitsregierung Neue Grenzen Nordirlands zur Verringerung des katholischen 挐٦?
Tabelle 2: Gewünschte Lösungen für den Nordirland-Konflikt (in Prozent), Umfrage 1984 Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland Föderation Nordirlands mit der Republik Irland Gemeinsame Regierung Nordirlands durch die Republik Irland und Großbritannien Andere Lösung Von denjenigen, die eine andere Lösung wollten, sprachen sich aus für: Londoner Direktregierung Machtbeteiligung der Katholiken an der Regierung Protestantische Mehrheitsregierung Neue Grenzen Nordirlands zur Verringerung des katholischen 挐٦?
Dieses Gebäude unionistischer Dominanz erwies sich in den Jahrzehnten vor und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als äußerst stabil. Den unzufriedenen Angehörigen der katholischen Minderheit blieb nur die Alternative Unterwerfung oder Emigration. Für die Unionisten hatte die anhaltende Emigration nicht nur die Funktion eines „Sicherheitsventils“ zum Schutze vor nationalistischer Militanz, sie verhinderte aus ihrer Sicht auch die allmähliche Aushöhlung ihrer Machtpositionen durch den von der höheren Geburtenrate der Katholiken herbeigeführten Wandel des demographischen Kräfteverhältnisses.
Die besseren Bildungschancen für breite Teile der Bevölkerung im Zuge des Ausbaus des britischen Wohlfahrtsstaates nach dem Zweiten Weltkrieg und die Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen führten in den fünfziger und sechziger Jahren der katholischen Minderheit die sozialen und politischen Grenzen ihrer Einbindung in die nordirische Gesellschaft deutlicher als bisher vor Augen. Der Wunsch nach Teilhabe am gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß im britischen Kontext schien stärker als die traditionalistische Forderung der Vereinigung des Nordens mit der Republik, was aus der damaligen Perspektive ja auch die Anbindung des im Modernisierungsprozeß befindlichen Nordens an ein — an diesem gemessen — rückständiges Agrarland bedeutet hätte. Hier war die bisher einmalige und wohl unwiederbringliche Chance gegeben, durch demokratische Reformen zugunsten der diskriminierten katholischen Minderheit eine Basis für einen gesellschaftlichen Konsens in Nordirland zu schaffen.
Der unionistische Staat wurde zu dieser Zeit von katholischer Seite nicht wegen seiner Einbindung in das Vereinigte Königreich attackiert, sondern wegen der undemokratischen Qualität, die diese angenommen hatte. Die Formen des Protestes wurden von den in allen westlichen Demokratien auf-flackernden Studenten-und Bürgerrechtsbewegungen übernommen, wobei das Vorbild des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King sicherlich am meisten Eindruck auf die nordirische Bür-
machte. Die Forderungen der serrechtsbewegung 1967 gegründeten Northern Ireland Civil Rights Association (NICRA) lauteten: 1. Allgemeines und gleiches Wahlrecht bei Kommunalwahlen („one man, one vote!“);
2. ein Ende der Wahlkreismanipulationen;
3. Gesetze gegen die Diskriminierung von Katholiken durch die Kommunalverwaltungen;
4. Vergabe von Wohnraum nach einem Punktesystem; 5. Abschaffung des Special Powers Act, der die Internierung von Verdächtigen ohne Gerichtsverhandlung zuließ;
6. Auflösung der Polizeireserve (B-specials).
Zunächst schien es so, als wollten die Unionisten — oder zumindest doch die Mehrzahl ihrer politischen Führer — mit einer reformbereiten Haltung katholischen Interessen entgegenkommen. Konzilianz wurde erstmals auch im Verhältnis des Nordens zur Republik demonstriert. Der Premierminister der Republik Irland, Lemass, und der nordirische Premier O’Neill trafen sich 1965. Diskussionsgegenstand war unter anderem der Vorschlag, daß die Republik Irland die irische Teilung im Gegenzug für eine Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen mit dem Norden anerkennen könnte. Die von O’Neill vorsichtig betriebene Annäherung der beiden Teile Irlands rief unter den militanten Verfechtern unionistischer Dominanz allerdings zunehmenden Widerstand hervor. Symbolfigur einer extrem ablehnenden Haltung gegen Konzessionen an die Katholiken bzw. die Republik Irland wurde der Prediger und Kirchengründer (Free Presbyterian Church) Ian Paisley, der erfolgreich vor allem die innerhalb des politischen Unionismus durchaus eigenständige fundamentalistische protestantische Strömung bis heute zu mobilisieren weiß 4).
Die Organisatoren der friedlichen Bürgerrechtsmärsche der NICRA, an denen sich auch Protestanten beteiligten, sahen sich in einem Dilemma als Paisley dazu überging, zu Gegendemonstrationen aufzurufen, mit der Konsequenz, daß die Demonstrationen der NICRA zur Vermeidung von gewaltsamen Auseinandersetzungen regelmäßig verboten wurden. Vor die Frage nach den Möglichkeiten ihrer weiteren Arbeit gestellt, entschloß sich die NICRA nach einer Weile, das Demonstrationsverbot zu durchbrechen. Die Folge war eine Zunahme der Auseinandersetzungen der Bürgerrechtler mit der Polizei, aber auch ein Anwachsen der Gewalt zwischen den katholischen und protestantischen Bevölkerungsgruppen. O’Neills Initiative von 1968, die die meisten Forderungen der NICRA aufgriff, kam zu spät. Die Bürgerrechtler lehnten das Reformpaket als unzureichend ab, vielen Protestanten gingen die vorgesehenen Konzessionen an die Katholiken zu weit. Als O’Neill auch nach Neuwahlen die mehrheitliche parlamentarische Unterstützung versagt blieb, trat er 1969 zurück.
Der Bürgerrechtskonflikt nahm immer mehr den Charakter eines Bürgerkrieges zwischen Protestanten und Katholiken an, und immer weniger schien die häufig parteiische Polizei fähig, die katholische Bevölkerung vor Übergriffen zu schützen. Als im August 1969 britische Armeeinheiten nach Nordirland gebracht wurden, wurde dies von den Katholiken zunächst als eine in ihrem Interesse liegende Schutzmaßnahme begrüßt. Diese positive Haltung erwies sich nach den wenig rücksichtsvollen Haus-durchsuchungen der Armee nach Waffen in katholischen Wohngebieten allerdings nur als von kurzer Dauer.
Die katholische Untergrundarmee IRA reagierte erstaunlich langsam auf die Chance, die ihr das Schutzbedürfnis der Katholiken bot. Noch 1969 buchstabierte man IRA an den Hauswänden Belfasts: „I ran away“. Erst die Spaltung der IRA in einen marxistischen (Officials, heute: Workers’ Party) Flügel und einen zum bewaffneten Kampf bereiten (Provisionals) 1970 begründete die heutige militärische Präsenz der IRA in Nordirland Anfang der siebziger Jahre war mit der IRA und der protestantischen UDA (Ulster Defence Association) — um nur die wichtigsten paramilitärischen Gruppierungen zu nennen, die zusätzlich zu den staatlichen Sicherheitskräften (britische Armee und nordirische Polizei) das Feld der gewaltsamen Auseinandersetzungen beherrschen — jenes Terrorpotential entstanden, das seither das Erscheinungsbild Nordirlands bestimmt (vgl. Tabelle 1).
Die britische Regierung war nicht bereit, die Armee für die Aufrechterhaltung der Diskriminie-rung gegenüber der katholischen Minderheit einzusetzen. Dies bedeutete eine Londoner Ablehnung von Zugeständnissen an protestantische „hardliner“ wie Paisley. Für die Regierung stand aber auch Die britische Regierung war nicht bereit, die Armee für die Aufrechterhaltung der Diskriminierung gegenüber der katholischen Minderheit einzusetzen. Dies bedeutete eine Londoner Ablehnung von Zugeständnissen an protestantische „hardliner“ wie Paisley. Für die Regierung stand aber auch außer Frage, daß über die Zukunft Nordirlands auf dem Wege der Mehrheitsfindung zu entscheiden sei und daß sie nicht bereit sein könne, das Gewaltmonopol des Staates — aus welchen Gründen auch immer — paramilitärischen Organisationen wie der IRA oder der UDA auch nur teilweise oder zeitweilig abzutreten. Ziel der Londoner Regierung mußten deshalb innere Reformen in Verbindung mit der Bekämpfung der politischen Gewalt und einer Berücksichtigung der Mehrheitsmeinung in der nationalen Frage sein.
1972 wurde das offensichtlich reformunfähige nord-irische Parlament von der britischen Regierung aufgelöst. London übernahm die Direktregierung Bis 1973 wurden fast alle Forderungen der Bürgerrechtsbewegung durchgesetzt. Das vom britischen Parlament 1973 verabschiedete Verfassungsgesetz für Nordirland wies sogar über die Frage der Gleichstellung der katholischen Minderheit hinaus und bezog die mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen Anfang der siebziger Jahre neubelebte nationale Frage mit ein. Es sah die Wahl einer nord-irischen Vertretung (Northern Ireland Assembly)
vor und die Einrichtung einer nordirischen Exekutive unter Beteiligung der Katholiken (power-sharing). Entsprechende Wahlen, nun wieder nach einem System der Verhältniswahl, fanden im Juni 1973 statt. Ende November des gleichen Jahres erklärten sich der von Brian Faulkner geleitete Unionistenflügel, die 1970 von Bürgerrechtlern gegründete SDLP (Social Democratic and Labour Party) als stärkste Kraft des katholischen Lagers, und die überkonfessionelle Allianzpartei bereit, gemeinsam die Regierungsgeschäfte in Nordirland zu übernehmen. Im Dezember 1973 tat die britische Regierung einen weiteren Schritt, der auf die Anerkennung der gesamtirischen Dimension des Nordir-
landkonflikts abzielte. Premierminister Edward Heath veranlaßte eine Zusammenkunft von Repräsentanten der neuen Exekutive und der irischen und britischen Regierungen in Sunningdale, einem College in der Nähe Londons. Hier kam man überein, einen gesamtirischen Rat (Council of Ireland) einzurichten, der sich um Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse für die irische Republik und Nordirland kümmern sollte.
Diese Initiativen der britischen Regierung waren der erste ernsthafte Versuch, zu einer umfassenden Lösung des Nordirlandkonflikts zu gelangen — ein Versuch, zu dem die unionistische Führung nicht fähig schien. Bis zum Auftreten der Bürgerrechtsbewegung hatten die Unionisten die Probleme der katholischen Minderheit ignorieren können. Ihre mangelnde Bereitschaft, der katholischen Bevölkerung auch nur in Fragen der Gleichbehandlung vor dem Gesetz entgegenzukommen, hatte nicht nur den Konflikt in eine gewaltsame Auseinandersetzung verwandelt und die nordirische Autonomie gekostet, sie hatte auch zur Folge, daß der unversöhnbare Konflikt zwischen katholischem Nationalismus und protestantischem Unionismus die Auseinandersetzung um Bürgerrechte als zentrale Konfliktkonstellation verdrängte.
Beinahe folgerichtig wurden eine Regierungsbeteiligung der Katholiken und vor allem die im Sunningdale-Abkommen vorgesehene gesamtirische Dimension der Regierung Nordirlands von den in ihrer Mehrheit weiterhin in der Selbstbehauptungstradition denkenden Unionisten skeptisch beurteilt. Die Mehrheit der protestantischen Bevölkerung sah im geplanten Regierungsexperiment eine eindeutige Gewichtsverschiebung in der nationalen Frage zugunsten der Nationalisten und der irischen Republik. Es griff eine Verweigerungshaltung um sich, die sich nicht nur in Meinungsumfragen widerspiegelte, sondern auch im Frühjahr 1974 zu einem, von paramilitärischen protestantischen Arbeitern in strategisch wichtigen Industriezweigen (Ulster Workers’ Council) organisierten Streik führte, der in kurzer Zeit Nordirland paralysierte Die britische Regierung entschied sich gegen den Einsatz des Militärs zur Niederschlagung des Streiks, was diese aus katholischer Sicht wieder näher an die unionistische Position heranrückte. Sie interpretierte den Streik als Ausdruck der Tatsache, daß ihre Vorschläge zum power-sharing ohne ausreichende Konsultation der protestantischen Mehrheit umgesetzt wurden, weshalb auch der Verzicht auf das Experiment der Machtbeteiligung der Katholiken in dieser Lage die angemessene Reaktion sei.
IV. Nordirland als Polizei-Problem
Ein neuer Anlauf der britischen Regierung, das Nordirlandproblem in die Hände der Betroffenen zu legen, wurde 1975 mit den Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung in Nordirland (Northern Ireland Constitutional Convention) unternommen. Vor diesen Wahlen legte London allerdings drei Vorbedingungen für die Anerkennung eventueller Beschlüsse des Verfassungsrates fest:
1. „power-sharing“, also Machtbeteiligung der Katholiken, 2. eine „irische Dimension“, also das Anerkennen einer besonderen Beziehung Nordirlands zur Republik, und 3. die Anerkennung des Rechts des britischen Parlaments auf die letztendliche Entscheidung über die nordirische Gesetzgebung.
Das Ensemble der Vorbedingungen bedeutete im Grunde genommen den Versuch der Neuauflage des von der protestantischen Mehrheit nicht mitgetragenen Power-sharing-Experiments des Vorjahres — nun auf der Basis freiwilliger Selbstverpflichtung. Das Ergebnis dieses Versuches war vorhersehbar. Die unionistischen Gegner der Machtbeteiligung der Katholiken gewannen im Verfassungskonvent eine solide Mehrheit (47 von 78 Sitzen). Dies bedeutete das faktische Scheitern dieses erneuten Lösungsversuches des Konfliktes.
Die weitergeltende Londoner Direktregierung konzentrierte sich in den Folgejahren auf flankierende ökonomische und sozialpolitische Maßnahmen zur Befriedung des Nordirlandkonflikts, konnte aber nicht verhindern, daß die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Lande den Nordirlandkonflikt zu einem permanenten Polizei-Problem machten. Absprachen zwischen der britischen Regierung und der IRA führten nach einem Stillhalteabkommen von 1972 zu einem zweiten Waffenstillstand zwischen den Provisionals auf der einen und der Armee und Polizei auf der anderen Seite, der von Anfang 1975 bis Januar 1976 anhielt. Zur Vermeidung militärischer Konfrontationen wurden Konfliktschlichtungszentren in den Großstädten eingerichtet (incident centres) und die IRA übernahm quasi Polizei-funktionen in den katholischen Wohngebieten. Ziel der britischen Politik schien es — angesichts der „Unlösbarkeit“ des Konflikts — vor allem zu sein, ein „akzeptables“ Niveau der Gewaltanwendung zu erreichen.
Der so erreichte Status quo erwies sich jedoch als äußerst labil:
1. Die IRA konnte ihre Kooperation mit der Staatsgewalt nicht lange durchhalten. Ihr radikalerer Flügel forderte die Durchbrechung des Stillstandes und die Weiterführung des Kampfes bis zum Erreichen der irischen Einheit.
2. 1975 wurde die 1971 eingeführte Politik der Internierung von Verdächtigen ohne Gerichtsverfahren nicht zuletzt auf internationalen Druck aufgegeben. Die irische Regierung hatte die britische Intemierungspraxis bereits 1971 vor die Europäische Kommission für Menschenrechte gebracht. 1978 entschied der Europäische Gerichtshof zum Schutz der Menschenrechte, daß die Internierungen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt hätten. Die Aufhebung der Internierung schien zunächst ein weiterer Schritt zum Abbau der Konfrontation vor allem mit der IRA zu sein. Die von der britischen Regierung nun als Alternative gewählte Regelung, nämlich die Behandlung der terroristischen Gewalttäter als „normale“ Kriminelle, rief jedoch noch wütenderen Widerstand der IRA hervor. Beide Entwicklungen führten zum Ende des Waffenstillstandes mit der IRA und für letztere zu einer Verlagerung des für die Öffentlichkeit besonders sichtbaren Teils des Nordirlandkonflikts in die Gefängnisse. 1976 begannen die nordirischen Behörden alle des Terrorismus Verdächtigen von sogenannten „Diplock courts“ aburteilen zu lassen. Die nach ihrem „Erfinder“ Lord Diplock benannten Gerichtshöfe operieren ohne die im angelsächsischen Recht sonst übliche Jury. Begründet wird diese Abweichung von der Rechtstradition mit der Möglichkeit einer parteiischen Jury (meist ist die Mehrzahl der Jury-Mitglieder protestantisch, der Angeklagte katholisch bzw. die Mehrzahl möglicher Jury-Mitglieder ist politisch voreingenommen) und der Gefahr für das Leben und die Sicherheit der Bürger, die bei Terroristenprozessen in einer Jury mitarbeiten müssen. Die Arbeit der Diplock courts im Rahmen des „Prevention of Terrorism Acts“ von 1984 wird von katholischer Seite als Willkürjustiz kritisiert und ist bis heute Streitpunkt zwischen der Republik Irland und Großbritannien geblieben
Spektakulärer als die Auseinandersetzung um die Rechtmäßigkeit der Diplock courts waren die Konsequenzen der Gleichstellung „politischer“ Gefangener mit Kriminellen im Strafvollzug ab 1. März 1976. Die meisten IRA-Mitglieder weigerten sich, Gefängniskleidung zu tragen oder zu arbeiten. Als sie ihre eigene Kleidung nicht erhielten, blieben sie nackt und hüllten sich in Decken („went on the blanket“) Als ihnen daraufhin der Hofgang und andere Vergünstigungen verwehrt wurden, begannen sie eine Schmutzkampagne und beschmierten ihre Zellen mit ihren Exkrementen. 1980 und 1981 kam es schließlich zu Hungerstreikwellen zur Durchsetzung der von den IRA-Häftlingen aufgestellten folgenden fünf Forderungen
1. Keine Gefängniskleidung;
2. Befreiung von der Arbeit im Gefängnis;
3.freie Wahl des Zusammenseins politischer Gefangener (in der Praxis bedeutete dies den Wunsch nach Trennung der katholischen und der protestantischen Häftlinge);
4. angemessene Bildungs-und Freizeitmöglichkeiten, einschließlich Besuchen, Briefen und Paketen; 5. Möglichkeit des Straferlasses. Für diese Forderungen starben in den H-Blocks des nordirischen Maze-Gefängnisses zehn hungerstreikende Häftlinge. Ihr langsames Sterben beherrschte nicht nur in Nordirland, sondern auch in der Republik Irland und teilweise auch in Großbritannien die Schlagzeilen. Der hungerstreikende Bobby Sands wurde bei einer Nachwahl in Fermanagh and South Tyrone im April 1981 in das Westminster Parlament gewählt, die beiden ebenfalls am Protest beteiligten Kieran Doherty und Paddy Agnew wurden im Juni 1981 zu Abgeordneten des Dail, des Parlaments der Republik Irland, gewählt. Am 3. Oktober brach der Hungerstreik zusammen.
Die britische Regierung hatte während des Hungerstreiks keinerlei Konzessionen gemacht. Nach dessen Beendigung erlaubte Nordirlandminister Prior den „politischen“ Häftlingen, ihre eigene Kleidung zu tragen, außerdem wurden die Haftbedingungen erleichtert. An der Verpflichtung aller Häftlinge zur Gefängnisarbeit wurde allerdings festgehalten. Mit diesen Konzessionen endete auch der „Deckenprotest“. Das Interesse am Nordirlandkonflikt verlagerte sich wieder außerhalb der Gefängnismauem auf die anhaltenden gewaltsamen Auseinandersetzungen — aber auch auf neue Versuche, zur Konfliktlösung beizutragen.
V. Das New Ireland Forum
Nach der Beendigung des Hungerstreiks sah die 1979 neu ins Amt gekommene Regierung Thatcher erstmals in ihrer Regierungszeit weiterreichende Handlungsmöglichkeiten in ihrer Nordirlandpolitik. Im Oktober 1982 wurden Wahlen zu einer von ihr initiierten nordirischen Versammlung (Assembly) abgehalten, die nach dem Modell der „rolling devolution“ Einfluß auf die Gestaltung der nordirischen Politik nehmen sollte. Der Modus der „rolling devolution“ beinhaltete, daß der Versammlung zugestanden wurde, sie könne immer größere Teile der Selbstverwaltung Nordirlands übernehmen, sofern sie für die Übernahme von Verantwortung im jeweiligen Einzelfall eine 70 %-Mehrheit finden würde. De facto bedeutete diese Regelung den erneuten Zwang zum „power-sharing“ — nun aber nicht mehr wie früher in einem Schritt und umfassend für alle Politikfelder, sondern graduell und nach Politikbereichen getrennt, je nach Einigungsbereitschaft der Unionisten und der Nationalisten. Dieses Modell war allerdings schon zum Zeitpunkt der Assembly-Wahlen gescheitert, weil sich die Mehrheitspartei der Nationalisten, die SDLP, zwar an diesen beteiligte, aber erklärt hatte, sie werde die gewonnenen Sitze nicht einnehmen.
Für die SDLP war dies aus ihrer Sicht die einzige Möglichkeit nach der Phase der innenpolitischen Polarisierung im Gefolge der Hungerstreiks, ihre Position im katholischen Lager zu wahren. Wie real die Bedrohung ihrer Position als Sprecherin der katholischen Minderheit bereits geworden war, machte auch das Wahlergebnis von 1982 deutlich. Während die SDLP 18, 8% der Stimmen erhielt, erreichte Sinn Fein, der politische Arm der IRA, bereits 10, 1 %.
Das Dilemma, in dem sich die SDLP Anfang der achtziger Jahre befand, nämlich ihre Position zwischen den bewaffneten Nationalisten und dem Verfassungsangebot der britischen Regierung, brachte die Partei in große Bedrängnis bei Fragen nach der von ihr bevorzugten Strategie. Als Ausweg aus diesem Dilemma sollte ihr eine eigenständige politische Initiative dienen, die mit der Unterstützung und der „Legitimation“ der Republik Irland formuliert werden sollte. Auf Drängen der SDLP richte-ten Vertreter der Regierungs-und Oppositionsparteien der Republik, von Fianna Fäil, Fine Gael und Labour Party, mit ihr zusammen 1983 in Dublin ein New Ireland Forum ein. Das Forum sammelte monatelang Informationen zur Lage in Nordirland, über die Ursachen des Nordirlandkonfliktes und zu Lösungsmöglichkeiten in der Form von Hearings, schriftlichen Eingaben, Spezialberichten und Reisen durchs Land und nach London.
Als Ergebnis präsentierte das New Ireland Forum drei Lösungsmodelle für den Nordirlandkonflikt
1.den irischen Einheitsstaat (Integration Nordirlands in die Republik), 2. eine föderale oder konföderale Verbindung der Republik und des Nordens sowie 3. ein britisch-irisches Kondominium über Nordirland.
Die ablehnende Haltung der protestantischen Mehrheit Nordirlands zu all diesen Optionen war vorauszusehen. Die britische Regierung betrachtete sie als unrealistisch, zumal das Forum von der Freiwilligkeit der Übernahme einer dieser Vorschläge durch eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung ausging. Margaret Thatcher lehnte alle drei Vorschläge mit einem dreimaligen „out“ rundweg ab. Die Situation, von der man auszugehen habe, so Margaret Thatcher, sei die Einbindung Nordirlands in das Vereinigte Königreich, die auch dem Mehrheitswunsch seiner Bevölkerung entspreche Selbst in der Republik Irland wurde von den beteiligten Parteien eine erstaunlich reservierte Haltung gegenüber dem Bericht des New Ire-land Forums eingenommen. Am deutlichsten betonte der damalige Oppositionsführer Charles Haughey (Fianna Fäil), daß nach seiner Ansicht die Arbeit des Forums keine neue Situation geschaffen habe. Der einzig gangbare Weg für Nordirland sei die in der irischen Verfassung vorgesehene Integration der sechs Grafschaften in die irische Republik. *
VI. Das anglo-irische Abkommen
Neben den Bemühungen der SDLP und dem Versuch einer internen Lösung mit Hilfe der „rolling devolution“ bahnten sich auch auf bilateraler Ebene zwischen den Regierungen in London und Dublin Versuche an, auf die Situation in Nordirland einzuwirken. Der gesprächsbereite irische Premier Fitzgerald (Fine Gael), dessen Partei weit eher als Fianna Fäil geneigt ist, die Bindungen Nordirlands an das Vereinigte Königreich anzuerkennen und entsprechend zu handeln vereinbarte bereits 1981 mit der britischen Regierung die Einrichtung eines zwischenstaatlichen Rates (Anglo-Irish Intergovernmental Council) als erstes Ergebnis der seit 1980 stattfindenden regelmäßigen Treffen der Regierungschefs beider Länder Aus diesem Prozeß der Konsultation erwuchs 1985 ein im Grunde an das Sunningdale Abkommen anknüpfendes Regierungsabkommen (Anglo-Irish Agreement), das als Gegenleistung für eine stärkere Rolle der Republik bei der Bekämpfung von IRA-Aktivitäten dieser ein Vorschlagsrecht zur Behandlung von Nordirland betreffenden Problemen durch die britische Regierung einräumt
Dieses Abkommen wurde von der protestantischen Mehrheit in Nordirland, wie schon Sunningdale 1974, als Einfallstor der Einflußnahme der Republik Irland auf die nordirische Innenpolitik interpretiert. Auch der politische Flügel der IRA lehnte das Abkommen ab. Für ihn ist die im Abkommen enthaltene Anerkennung des jetzigen Status von Nordirland ein Instrument zur Aufrechterhaltung der irischen Teilung. Eine erste Folge des Abkommens war die Mobilisierung der militanten protestantischen Opposition und damit eine Vertiefung der Spaltung der nordirischen Gesellschaft. Katholiken wurden aus gemischten Wohngebieten vertrieben, protestantische Märsche endeten mit Konfrontationen mit der Polizei. Die unionistische Mehrheit, vereint in der Zusammenarbeit der traditionell größten protestantischen Partei, der Official Unionists (OUP), und der radikaleren Democratic Unionists (DUP) unter Paisley, versuchte vergeblich, jedes verfügbare Mittel des Protestes zur Untergrabung des anglo-irischen Abkommens zu nutzen: 1. Nachwahlen zum britischen Unterhaus, provoziert durch den freiwilligen Rücktritt der fünfzehn unionistischen Abgeordneten, sollten für ein nordirisches Veto gegen das Abkommen genutzt werden. Das Wahlergebnis vom Januar 1986 blieb allerdings hinter den Erwartungen zurück. Einer der Parlamentssitze ging an die SDLP, die das Abkommen unterstützt, verloren. 2. Für den 3. März 1986 riefen die Führer der unionistischen Parteien zu einem Generalstreik auf.
Aber auch er verfehlte die geplante demonstrative Wirkung auf die britische Politik. Die britischen Medien porträtierten ihn als Fehlschlag aufgrund der Gegenmaßnahmen der Ordnungskräfte. 3. Die unionistischen Parteien funktionierten die 1982 gewählte, von ihnen beherrschte Versammlung in ein Forum gegen das anglo-irische Abkommen um. Daraufhin zog sich die Allianz-partei von der parlamentarischen Arbeit zurück, und die britische Regierung löste 1986 die Versammlung auf.
4. Die angekündigte Strategie der Unionisten, durch Verweigerung der Arbeit in den Kommunalverwaltungen die Provinz unregierbar zu machen, erwies sich rasch als relativ folgenlos.
Zum einen unterschätzten sie die Möglichkeiten Londons, Aufgaben zentral zu erledigen, zum anderen bröckelte die Verweigerungsfront angesichts drohender Gerichtsverfahren und hoher Geldstrafen schnell ab.
5. Zwar wurde im November 1986 zum Jahrestag des Hillsborough-Abkommens, wie das angloirische Abkommen nach dem Ort des Vertragsschlusses auch genannt wird, im Beisein von Paisley die „Ulster Resistance“ — eine neue paramilitärische Organisation — aus der Taufe gehoben, dies war aber keineswegs ein Zeichen der Massenopposition der protestantischen Bevölkerung. Meinungsumfragen belegten, daß 20% der Protestanten das Abkommen befürworten. 6. Der Versuch schließlich, durch Massenmobilisierung und die Beteiligung bei Nachwahlen in England die irische Isolation zu durchbrechen und die britische Öffentlichkeit für die Sache der Protestanten zu mobilisieren, scheiterte kläglich am Desinteresse der Briten.
Die Festigkeit, mit der die Regierung Thatcher am Abkommen mit der Regierung Irlands festhielt, verhinderte zwar nicht eine Verschärfung der Polarisierung der nordirischen Gesellschaft, sie vereitelte aber eine Wiederholung der Niederlage von 1974. Im Vergleich zur damaligen Situation befindet sich die britische Regierung allerdings auch in einer besseren Verhandlungsposition. War für die Verwirklichung des Power-sharing-Modells die Kooperation der Unionisten unabdingbar, so ist die Verwirklichung des Hillsborough-Abkommens am anglo-irischen Abkommen war bezeichnenderweise die Klage darüber, sie seien bei dessen Zustandekommen nicht konsultiert worden. Nach den vielen Fehlschlägen ihrer Obstruktionspolitik scheint die Gesprächsbereitschaft auf unionistischer Seite gewachsen. Deutliches Indiz hierfür ist der sich erstmals abzeichnende Strategiewechsel. Sowohl aus jüngsten Äußerungen Paisleys als auch aus Verlautbarungen der UDA geht hervor, daß der militante Flügel der Unionisten als Gegenleistung für die Aufgabe des Abkommens und damit das Herausdrängen der Republik Irland aus der nordirischen Politik bereit sein würde, ein Modell des power-sharing, der Machtbeteiligung der katholischen Minderheit an der Verwaltung Nordirlands, zu akzeptieren.
VII. Chancen für ein Umdenken?
Dennoch sind die Chancen für ein Umdenken in der nordirischen Gesellschaft eher gering. Die Verbitterung auf nationalistischer Seite gegenüber den Unionisten sitzt mindestens ebenso tief wie das pro-testantische Mißtrauen gegenüber der Republik Irland Die Zukunftsvorstellungen zur politischen Gestalt Nordirlands sind in beiden Lagern zu unterschiedlich, um kompatibel zu sein.
Die Versuche, einen Mittelweg zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen zu finden, erwiesen sich als kurzlebig und ohne bleibende Konsequenzen. Die unionistische Mitte, die Anfang der siebziger Jahre das Power-sharing-Experiment mittrug, wurde bald im eigenen Lager marginalisiert, die überkonfessionelle Allianzpartei kommt bei Wahlen allenfalls auf 10 % der Wählerstimmen. Unversöhnlich stehen sich der 50 (+) %-Block der Unionisten und der 30%Block der Nationalisten gegenüber (vgl. Tabelle 3). Die Stimmabgabe bei über 80% der Wähler wird vom Lagerdenken diktiert.
Auch außerparlamentarische Versöhnungsversuche sind immer wieder gescheitert — am spektakulärsten wohl die Initiative der Belfaster Friedens-frauen. Ihre Bewegung, die „peace people", die 1977 sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, erreichte in Nordirland nie die Ausstrahlung, die sie im Ausland hatte. In den Gettos der nordirischen Großstädte blieben die heute in den USA lebende Betty Williams und die Mitbegründerin der Bewegung, Mairead Corrigan, Fremde — wohlhabende Mittelklassefrauen, die mit der Not ihres Landes sich die Welt des Jet-set-Tourismus erschlichen hatten. Heute reden beide Frauen nicht mehr miteinander. Nur Mairead Corrigan arbeitet bei den peace people weiter mit, deren Arbeit heute noch von knapp 200 Menschen unterstützt wird
Die Bevölkerung Nordirlands lebt in zwei getrennten sozialen Welten mit eigenen Erziehungssystemen, eigenem Freizeitangebot, eigenem Glauben und eigenen Hoffnungen. Das Potential der Homogenisierung der Gesellschaft, das die wirtschaftliche Boomperiode der sechziger Jahre bereitzuhalten schien, ist angesichts des grauen Alltags einer tief-greifenden und langanhaltenden Wirtschaftskrise Nordirlands dahingeschmolzen. Auch politisch bewegt sich in Nordirland von selbst nur wenig. Die fehlende gesellschaftliche Dynamik kann aber auch die Londoner Politik nur unzureichend wettmachen. Oktroyiertem Krisenmanagement von außen haben sich die Nordiren bisher stets verweigert.
Roland Sturm, Dr. phil., geb. 1953; Studium der Politikwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Freien Universität Berlin, Stanford University und der Universität Heidelberg; Promotion 1981 in Heidelberg; Hochschulassistent am Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Brian Girvin) Nationalismus in Schottland und Wales, Bochum 1981; Politics and Society in Contemporary Ireland, Aldershot 1986; Der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages, Opladen 1987; zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen Entwicklung des Vereinigten Königreiches und Irlands, zur vergleichenden Analyse der Wirtschafts-und Haushaltspolitik sowie zur Dritten Welt.
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