Ostdeutsche und Westdeutsche auf dem Prüfstand psychologischer Tests
Peter Becker
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Zusammenfassung
Der Beitrag handelt von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Ost-und Westdeutschen in zwei Bereichen: 1. Persönlichkeitseigenschaften und Mentalitäten, 2. körperliche und psychische Beschwerden 15 Monate nach der „Wende“. Zunächst werden die bisher in den Medien geäußerten kontroversen Auffassungen zu diesen Fragen aus methodischer Sicht kritisch beleuchtet, wobei auf Fehlerquellen bei der Urteilsbildung hingewiesen wird. Es folgt die Darstellung einer Studie an 300 Ostdeutschen und 298 Westdeutschen, die mit drei psychometrischen Testverfahren untersucht wurden. Die wichtigsten Ergebnisse besagen: 1. Ostdeutsche sind verhaltenskontrollierter als Westdeutsche. Sie legen mehr Wert auf Ordnung und das Befolgen von Prinzipien, sind stärker normorientiert, zuverlässiger und besonnener. Auf der anderen Seite sind sie weniger erlebnishungrig, weniger spontan, weniger offen und weniger bereit, gesundheitliche Risiken einzugehen. Pointiert formuliert erweisen sie sich in ihren Wertvorstellungen und ihrer Mentalität als die „deutscheren“ Deutschen. 2. Westdeutsche zeigen mehr Improvisationsfreude und Autonomie. Ostdeutsche sind „liebesfähiger“. 3. Keine Unterschiede lassen sich in der Fähigkeit zur Bewältigung von Lebensanforderungen und im Selbstwertgefühl nachweisen. Ostdeutsche haben zwar keine schlechtere Arbeitsmoral, wohl aber eine größere Vorhebe für Arbeit im Kollektiv und für vorstrukturierte Abläufe. 4. Die Unterschiede in den körperlichen und psychischen Beschwerden sind überraschend gering. Zwar klagen Ostdeutsche über mehr Angst-, Ärger-und Streßsymptome, sie kommen jedoch -zum Untersuchungszeitpunkt -mit den vielfältigen Belastungen erstaunlich gut zurecht. Zusammenfassend korrigieren die Ergebnisse einige Vorstellungen, die auf der Ebene persönlicher Meinungen sowie in den Medien häufig anzutreffen sind. Dies gilt auch für bestimmte Expertenurteile, wie zum Beispiel die These von der „charakterlichen Deformation“ vieler Ostdeutscher durch das SED-Regime.
I. Einleitung
Sind Deutsche einander fremd geworden? Haben 40 Jahre Sozialismus bzw. Marktwirtschaft die Persönlichkeitseigenschaften und Mentalitäten der Ost-und Westdeutschen so entscheidend beeinflußt, daß es schwerfällt, sich gegenseitig zu verstehen und zu akzeptieren? Diese Fragen drängen sich auf angesichts kontroverser Diskussionen. über beispielsweise die Arbeitsmotivation, das Selbstwertgefühl, die Anpassungsfähigkeit oder die „charakterliche Deformation“ der Menschen in den neuen und alten Bundesländern.
Im April 1991 gelangte Katharina Belwe in einer Analyse des Gesamtdeutschen Instituts zu der Einschätzung, daß die Einstellungen der Menschen in den neuen Bundesländern und erst recht ihre sozial-psychologische Befindlichkeit weder in der Breite noch in der Tiefe hinreichend erforscht sind“ Informationsbedarf besteht aber nicht nur auf westdeutscher Seite; Ostdeutsche sind ihrerseits auf Erkenntnisse über die Menschen aus den alten Bundesländern angewiesen.
Wir wollen im folgenden aus psychologischer Sicht einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leisten, indem wir erörtern, auf welchen Wegen Informationen über die Menschen in Ost und West gewonnen werden können und welche Vor-und Nachteile zum Beispiel mit persönlichen Erfahrungen oder Expertenurteilen verbunden sind. Gestützt auf Erkenntnisse der Psychologie weisen wir auf Fehlerquellen bei der Urteilsbildung hin und hoffen dadurch, das Bewußtsein des Lesers für die Gefahren einer vorschnellen, einseitigen Lagebeurteilung zu schärfen.
II. Persönliche Erfahrungen
Wenn sich ein Bürger aus den alten Bundesländern ein Bild von den Menschen im anderen Teil Deutschlands machen möchte (und umgekehrt), bietet es sich an, den direkten Kontakt zu suchen und persönliche Erfahrungen zu sammeln. So wünschenswert und subjektiv befriedigend dieser Weg ist, so begrenzt sind die Erfahrungsmöglichkeiten, wenn es um verallgemeinerbare Aussagen über die Menschen in Ost bzw. West geht. Man wird im Regelfall nur wenige Menschen näher kennenlernen, so daß der eigene Eindruck erheblich davon bestimmt ist, auf wen man zufällig getroffen ist.
Aus der psychologischen Forschung zur Person-wahrnehmung sind darüber hinaus Fehlerquellen bei der Fremdbeurteilung bekannt. So neigen Menschen dazu, andere, die ihnen ähnlich sind, zu mögen, und Personen, die von ihnen in bestimmten Merkmalen (z. B.der Hautfarbe oder der Art der Kleidung) verschieden sind, abzulehnen. Aus derartigen oberflächlichen Unterschieden können Vorurteile erwachsen. Auch ist mit einer Tendenz zu abwärts gerichteten Vergleichen zu rechnen, d. h. Menschen sind der Versuchung ausgesetzt, sich selbst aufzuwerten und ihr Wohlbefinden zu verbessern, indem sie auf andere herabblicken, denen es in bestimmter (z. B. materieller) Hinsicht schlechter geht. Diesbezüglich besonders gefährdet sind Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl, das sie über Fremdabwertungen aufzubessern versuchen. Bei der Interpretation eines bestimmten Verhaltens einer Person A ist ferner zu beachten, daß Außenstehende und die Person A unterschiedliche Erklärungsvorlieben haben. Dies läßt sich am Beispiel des Arbeitsplatzverlustes oder eines Autounfalls erläutern. Der Außenstehende neigt dazu, solche Ereignisse auf Eigenschaften der betreffenden Person A (z. B.deren mangelnde Kompetenz) zurückzuführen, während Person A die Situation bzw. die Umwelt (z. B. die Unternehmensleitung, die schlechte Konjunktur bzw. -beim Unfall -das Glatteis auf der Straße) verantwortlich macht. Auch hier besteht die Ge27 fahr, daß der äußere Eindruck der Realität nicht gerecht wird (und natürlich auch umgekehrt).
III. Expertenurteile
Angesichts der Komplexität vieler Lebensbereiche sind moderne Gesellschaften auf das Urteil von Experten angewiesen. Es ist daher verständlich, wenn nach der überraschend schnell herbeigeführten „Wende“ der Ruf nach Experten laut wurde, und es ist prinzipiell zu begrüßen, daß sie sich zu Wort gemeldet haben. So bestand insbesondere in Westdeutschland ein großer Bedarf an Informationen über das „unbekannte Land“ im Osten und seine Menschen. Am Beispiel von Hans-Joachim Maaz und seinem 1990 erschienenen Buch „Der Gefühlsstau“ läßt sich sowohl das Verdienst als auch die Gefahr von Expertenurteilen erläutern.
Maaz, Arzt und Leiter der Psychotherapeutischen Klinik im Evangelischen Diakoniewerk Halle, hat in seinem Buch und in den Medien eine stark beachtete (tiefen-) psychologische Interpretation der früheren DDR vorgelegt. Er beschreibt ein repressives System, an dessen unterdrückenden Herrschaftsmethoden sich seiner Meinung nach nicht nur die SED, der Staatssicherheitsdienst, die Justiz und das Schulsystem, sondern auch die familiäre Erziehung, das medizinische System und die Kirchen beteiligt haben. Seines Erachtens konnte in diesem Regime nur halbwegs unbehelligt leben, wer sich anpaßte, und das heißt, wer seine spontane Lebendigkeit, seine Offenheit und Ehrlichkeit, seine Kritikfähigkeit dem öden und einengenden Leben eines Untertanen opferte. Durch die Unterdrückung natürlicher Grundbedürfnisse entstand ein Mangelsyndrom, charakterisiert durch Spannung, Gereiztheit, Unzufriedenheit und Angst. Da auch die spontane Äußerung dieser Gefühle behindert wurde, verdichtete sich der Mangelzustand in einem chronischen Gefühlsstau. Aus Mangelsyndrom und Gefühlsstau resultierte eine Entfremdung der Menschen von ihrer Natürlichkeit, die in rigiden Charakterstrukturen ihren Niederschlag fand.
Maaz spricht gar von Charakterverformungen, deren häufigste Typen der gehemmte und der zwanghafte Charakter sind. Der gehemmte Charakter wird wie folgt beschrieben: „Dies war der Soldat der Repressionsmaschinerie, der Befehlsempfänger und Untertan, der unmündige Bürger, der die Abhängigkeit brauchte und zur Autoritätshörigkeit bis -gläubigkeit verurteilt war. Er war unfähig geworden, eine eigene Meinung zu vertreten... Es mangelte ihm an Selbstbestimmung und an Selbstwert, er wurde von Minderwertigkeitsgefühlen, Ängsten, Hemmungen und Unsicherheiten geplagt. Seine Einstellung zum Leben war Vorsicht ... In der Depressivität, Bequemlichkeit, Hilflosigkeit, im passiven Widerstand, im Leiden, Jammern und Klagen wurde unbewußt Rache geübt .. .“ Zum zwanghaften Charakter bemerkt Maaz: „Die autoritäre Erziehung deutscher Prägung zeigte in der DDR unter der über alles geliebten Norm: Disziplin, Ordnung und Sicherheit, eine massenhafte und intensive Ausprägung. Die Erziehungsideale von Sauberkeit, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Genauigkeit, Fleiß und Tüchtigkeit, der Hang zur Perfektion gestalteten das individuelle familiäre und gesellschaftliche Leben.“
Mit diesem Portrait und der von Maaz verwendeten Analysemethode setzten sich andere Experten, darunter Horst-Eberhard Richter sowie Christa und Harry Schröder , kritisch auseinander. Die zuletzt genannten Leipziger Psychologen wenden sich gegen die generelle Pathologisierung des Lebens im DDR-Alltag, die eher zu einem tendenziösen Zerrbild führe. „Es ist in höchstem Maße zweifelhaft, ehemaligen Bürgern der DDR massenhaft die Fähigkeit des Schutzes ureigenster Bedürfnisse abzusprechen und darin eine spezifische Qualität ihrer psychischen Struktur zu erkennen. Im Gegenteil, die durchschaubaren Entmündigungsabsichten ließen die Potenzen der Selbstbehauptung nie versiegen, weil sie den Rang einer persönlichen Herausforderung gewannen.“
Auch aus unserer Sicht sind gegenüber der Analyse von Maaz Bedenken anzumelden. Maaz, als Psychoanalytiker, stützt seine Aussagen primär auf Beobachtungen an Psychotherapiepatienten; darin ist sein Expertentum begründet. Als Bezugssysteme zur Beurteilung von Persönlichkeiten dienen ihm die psychoanalytische Charaktertheorie sowie das psychoanalytische Ideal eines „seelisch gesunden“ Menschen. Wird dieses Idealbild zugrunde gelegt, fällt das Urteil über beinahe alle Menschen in Ost und West in dem Sinne negativ aus, daß bestimmte charakterliche Deformationen diagnostiziert werden. So attestiert Hans-Joachim Maaz in seinem neuen Buch „Das gestürzte Volk“ den Westdeutschen narzißtische Ichbezogenheit und hysterische Charakterstrukturen. Aus der Sicht eines Therapeuten mag die Mehrheit der Zeitgenossen unter psychischen Deformationen leiden, es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß hier von einer Idealnorm und einem bestimmten Bild des seelisch gesunden Menschen ausgegangen wird, zu dem durchaus Alternativen vorliegen
Große Bedeutung messen wir dem Einwand bei, daß durch die von Maaz verwendete, stark wertende klinische Terminologie eine Verletzung vieler Menschen erfolgt, die in der jetzigen Situation, in der es auf wechselseitiges Verständnis und nicht auf Verurteilungen ankommt, Schaden anrichten kann. Und wir bezweifeln, daß es einer einzelnen Person -sei sie West-oder Ostdeutscher -ohne systematische empirische Studien möglich ist, zu einem hinreichend objektiven Bild der Eigenarten und Unterschiede der Menschen in Ost und West zu gelangen.
IV. Mittelung von Fremdurteilen
Da das Fremdurteil einer Einzelperson subjektiv gefärbt und möglicherweise verzerrt ist, bietet es sich an, die Urteile mehrerer Personen zu mitteln. Auf diese Weise kann -unter bestimmten Voraussetzungen -die Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Aussagen verbessert werden. (Dieser Methode bedient man sich erfolgreich bei der Bewertung sportlicher Leistungen, die nicht in physikalischen Größen gemessen werden können, also zum Beispiel im Eiskunstlauf.) Vorausgesetzt werden muß dabei, daß die Beurteiler den Beurteilungsgegenstand gut kennen, daß sie unabhängig voneinander ihre Stimme abgeben und daß ein gemeinsamer Maßstab (bzw. eine Skala) vorliegt, der die Urteile vergleichbar macht und eine arithmetische Mittelung zuläßt (beim Eiskunstlauf ist dies die Notenskala von 1 bis 6).
Als Beispiel für die Erhebung und Mittelung von Fremdurteilen sei die im Auftrag des Spiegels in der Jahresmitte 1991 durchgeführte Befragung von Ost-und Westdeutschen genannt. Anhand von 16 Eigenschaftspaaren (Beispiel: fleißig -faul) sollten die alten und neuen Bundesbürger sich selbst und die anderen Deutschen einschätzen. Ein Ergebnis besagt, daß die Bürger aus den alten Bundesländern davon überzeugt sind, in nahezu jeder Hinsicht die besseren Deutschen zu sein. Bei einem Vergleich der Urteile der Ostdeutschen über sich selbst mit denen der Westdeutschen über Ostdeutsche fallen die Urteile der Westdeutschen weit kritischer aus, insbesondere in puncto „fleißig -faul“.
Mit anderen Worten: Ostdeutsche halten sich für fleißig, während Westdeutsche ihnen mehr Faulheit zuschreiben. Wie zu zeigen sein wird, liegen empirische Ergebnisse vor, die erhebliche Zweifel an dieser westdeutschen Sichtweise aufkommen lassen. Hier handelt es sich offenbar um den oben beschriebenen Beurteilungsfehler, wonach der Außenstehende dazu neigt, für ein bestimmtes Ereignis -in diesem Fall eine schwächere Wirtschaftskraft -Eigenschaften der Menschen statt Defizite des betreffenden politischen und wirtschaftlichen Systems verantwortlich zu machen.
Aus unserer Sicht liegt eine deutliche Begrenztheit der Aussagekraft der im Spiegel publizierten Daten darin, daß hier lediglich Meinungen, nicht jedoch Fakten erfaßt werden (ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den der Spiegel mit seiner Überschrift suggeriert: „Wie faul oder fleißig sind die Ostdeutschen?“). Die Glaubwürdigkeit der Daten leidet darunter, daß nicht kontrolliert wurde und auch fraglich ist, ob die Beurteiler den Beurteilungsgegenstand -Ostdeutsche -hinreichend gut kennen. Es besteht die Gefahr, daß Vorurteile weitergegeben werden, die in diesem Fall der Mehrheit der Bundesbürger, also den Westdeutschen, gelegen kommen -in Überein-stimmung mit dem oben beschriebenen Hang zu abwärts gerichteten Vergleichen.
V. Selbstauskünfte
Sowohl im alltäglichen Umgang als auch bei wissenschaftlichen Untersuchungen erhält man einen guten Einblick in die Persönlichkeit eines anderen Menschen, wenn der Betreffende über sich selbst berichtet, über seine Gefühle, Einstellungen, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen, Interessen und so weiter. Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Person motiviert ist, aufrichtige Auskünfte zu erteilen. Die systematische Erhebung von Selbstauskünften kann auf verschiedenen Wegen erfolgen. 1. Selbstbeschreibungen mittels Eigenschaftsbegriffen Dabei wird ähnlich vorgegangen wie bei der oben diskutierten Fremdbeschreibung: Zum Beispiel werden einer Person semantische Differentiale (Paare von entgegengesetzten Eigenschaften, wie „fleißig -faul“) vorgegeben: Sie soll sich auf der Skala ‘Zwischen diesen beiden Eigenschaftspolen einstufen. Diese Methode wurde in den Spiegel-Umfragen verwendet. Sie zeichnet sich durch besonders große Ökonomie aus, weist jedoch auch Nachteile auf. Eine Begrenztheit ist in der Mehrdeutigkeit, Unschärfe bzw. Abstraktheit von Eigenschaftsbegriffen begründet. Was ist bspw. unter „sensibel“ oder unter „selbstbewußt“ zu verstehen? Hier bleibt dem Antwortenden ein Interpretationsspielraum, der zu Lasten der Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Antworten geht. Ferner besteht die Gefahr, daß Personen in sozial erwünschter Richtung antworten. Je nach vorhandener oder fehlender sprachlicher Verankerung der einzelnen Stufen auf der Skala hat der Befragte Schwierigkeiten, zu entscheiden, wo genau er sein Kreuz auf der Skala setzen soll. Da in der Regel nicht präzise angegeben ist, mit wem die Befragten sich bei der Selbstbeschreibung vergleichen sollen, wenn sie sich eine Eigenschaft in einem bestimmten Ausmaß zuschreiben, verbleibt auch hier eine Mehrdeutigkeit. Ferner steht und fällt die Methode mit der Selbsteinsicht; bei unrealistischem Selbstbild werden auch unrealistische Urteile abgegeben. 2. Selbstbeschreibungen mittels psychometrischer Fragebogentests Zur Überwindung dieser Schwierigkeiten wurden von Psychologen sogenannte psychometrische Fragebogentests entwickelt. Diese Tests setzen sich in der Regel aus mehreren Untertests bzw. Skalen zusammen, wobei hier unter Skala eine Anzahl homogener Items (Aussagen, zu denen Stellung genommen werden soll) verstanden wird. Zur Messung des individuellen Ausprägungsgrades einer Eigenschaft (z. B. Zuverlässigkeit) werden etwa zehn bis zwanzig Items herangezogen, die sich in vorangehenden Untersuchungen als geeignet („trennscharf“) herausgestellt haben. Moderne psychometrische Fragebogentests werden in einem aufwendigen, mehrstufigen Prozeß entwickelt und genügen testtheoretischen Gütekriterien, deren wichtigste sind: Standardisierung der Durchführungsbedingungen, Objektivität der Auswertung, nachgewiesene Meßzuverlässigkeit (z. B. Stabilität der Ergebnisse bei einer Meßwiederholung), Meßgültigkeit (Grad, zu dem der Test das interessierende Merkmal tatsächlich erfaßt) und Normierung (Vorliegen von Vergleichswerten an geeigneten Eichstichproben). Ein weiterer Vorteil dieser Verfahren gegenüber einfachen semantischen Differentialen besteht in der größeren Differenzierungsfähigkeit zwischen Personen aufgrund eines breiteren Bereichs individueller Werte. Zwar sind auch psychometrische Fragebogentests nicht frei von Schwächen (z. B. prinzipielle Verfälschbarkeit der Antworten), doch haben sie sich für viele Fragestellungen als nützlich erwiesen.
Wir berichten im folgenden über eine Untersuchung, bei der psychometrische Fragebogentests eingesetzt wurden.
VI. Eine eigene Untersuchung
1. Fragestellungen Mit der Untersuchung werden zwei Fragestellungen bearbeitet: 1. In welchen Persönlichkeitseigenschaften unterscheiden sich Ost-und Westdeutsche voneinander? Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei die Persönlichkeitsbereiche Verhaltenskontrolle, Soziabilität und Aktivität sowie neurosenrelevante Persönlichkeitszüge. 2. Zeigen sich etwa 15 Monate nach der „Wende“ und den einschneidenden Veränderungen in den Lebensbedingungen der Ostdeutschen Unterschiede in körperlichen und psychischen Beschwerden im Vergleich zu Westdeutschen? Sind -wie von einigen Experten vermutet -in Ost-deutschland gehäuft neurotische und psychosomatische Beschwerden zu registrieren, oder wurden die Ostdeutschen bis zum Untersuchungszeitpunkt erstaunlich gut mit den Belastungen fertig? 2. Methode Die Untersuchung basiert auf der Zusammenarbeit zwischen Klaus-Dieter Hänsgen von der Humboldt Universität zu Berlin und dem Verfasser a) Verwendete Fragebogentests Es gelangten drei Fragebogentests mit insgesamt 600 Items zum Einsatz, d. h. es handelt sich um eine aufwendige Befragung. Wir geben zunächst einen kurzen Überblick über die verwendeten Tests und deren Skalen und gehen im Ergebnisteil genauer auf die Bedeutung der Skalen ein. Das vom Verfasser entwickelte Trierer Inventar zur Verhaltenskontrolle (TIV) dient primär der Messung der facettenreichen Persönlichkeitseigenschaft Verhaltenskontrolle sowie ihrer verschiedenen Komponenten. Menschen mit starker Verhaltenskontrolle haben ein ausgeprägtes Kontrollbedürfnis, d. h. sie orientieren sich vor ihrem Handeln an einem internen Kontrollsystem (beachten Normen und langfristige Ziele, sind besonnen, vorausschauend usw.), während sich Personen mit geringer Verhaltenskontrolle durch Impulsivität (Spontaneität, Ausgelassenheit, Risikofreude, Erlebnishunger usw.) auszeichnen. Im einzelnen enthält das TIV folgende Skalen: Verhaltenskontrolle, Ordnungsstreben und Prinzipientreue, Normorientierung, Zuverlässigkeit, Zukunfts-und Vernunftsorientierung, Sparsamkeit, Ausgelassenheit und Begeisterungsfähigkeit, Erlebnishunger und Improvisationsfreude.
Der gleichfalls vom Verfasser konstruierte Trierer Persönlichkeitsfragebogen (TPF) wurde primär zur Diagnostik der seelischen Gesundheit (verstanden als Fähigkeit zur Bewältigung externer und interner Anforderungen) sowie ihrer Teilkomponenten entwickelt. Neben einer seelischen Gesundheitsskala enthält der TPF drei Skalen zur Mes-sung des (habituellen) körperlich-seelischen Wohlbefindens (Sinnerfülltheit, Selbstvergessenheit, Beschwerdefreiheit), zwei Skalen zur Messung der Selbstaktualisierung (Expansivität, Autonomie) sowie zwei Skalen zur Messung der selbst-und fremdbezogenen Wertschätzung (Selbstwertgefühl, Liebesfähigkeit).
Das Berliner Verfahren zur Neurosendiagnostik (BVND) wurde von Klaus-Dieter Hänsgen konstruiert. Es umfaßt einen Beschwerdenteil mit 16 Skalen zur Erfassung spezifisch körperlich-funktioneller Beschwerden (z. B. Herz-KreislaufBeschwerden), unspezifischer Befindlichkeitsstörungen (z. B. psychovegetative Erschöpfung) und spezifisch psychischer Beschwerden (z. B. Zwangs-beschwerden), einen Teil mit 14 Skalen zu Selbstkonzeptmerkmalen (z. B. Leistungsmotivation, Selbstsicherheit, Frustrationstoleranz) sowie zwei Kontrollskalen für Antworttendenzen. b) Personenstichproben Die Datenerhebung erfolgte im Zeitraum von Dezember 1990 bis Februar 1991 bei 300 Ostdeutschen und 298 Westdeutschen. Die Personen wurden nach einem Quotenplan aus sämtlichen alten und neuen Bundesländern so ausgewählt, daß deren relativer Anteil den Einwohnerzahlen der Bundesländer entspricht. Die Probanden wurden mit Unterstützung von je 50 Hauptfach-studierenden der Psychologie aus den beiden beteiligten Universitäten rekrutiert. Jeder Studierende sollte an seinem Heimatort sechs Personen nach einem Quotenschlüssel auswählen, wobei je eine Frau und ein Mann aus den Altersstufen 18-35, 36-50 und 51-65 Jahre, darunter maximal eine Person mit Abitur und maximal eine Person aus der eigenen Verwandtschaft, zu ermitteln waren. Die gesamte Befragung erfolgte anonym. Tabelle 1 informiert über ausgewählte demographische Daten der westdeutschen und ostdeutschen Stichproben.
Die untersuchten Ost-und Westdeutschen unterscheiden sich nicht signifikant im Geschlecht, Lebensalter sowie Familienstand, wohl jedoch in folgenden demographischen Merkmalen: Ostdeutsche haben etwas höhere Schulabschlüsse, wobei die begrenzte Vergleichbarkeit zu beachten ist; unter den Westdeutschen befinden sich mehr Hausfrauen und mehr Auszubildende, während im Osten mehr Arbeitslose anzutreffen sind; die Weststichprobe umfaßt eine größere Anzahl Freiberufler und selbständige Geschäftsleute, im Osten gibt es mehr Facharbeiter; Westdeutsche haben ein wesentlich höheres Einkommen; Westund Ostdeutsche unterscheiden sich in der Parteienpräferenz.
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die ost-und westdeuschen Stichproben in wichtigen demographischen Variablen übereinstimmen. Abweichungen spiegeln in erster Linie tatsächlich vorhandene Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen wider. Es können jedoch keine Zufallsauswahl und keine vollständige Repräsentativität behauptet werden. 3. Ergebnisse zur ersten Fragestellung:
In welchen Persönlichkeitseigenschaften unterscheiden sich Ost-und Westdeutsche voneinander?
Wir beschränken uns primär auf Ergebnisse auf Skalenebene 15, ergänzen diese jedoch durch Befunde auf Itemniveau, um die Skaleninhalte zu verdeutlichen. Aus Platzgründen wird auf die Darstellung der Zusammenhänge mit dem Geschlecht und dem Lebensalter verzichtet. Die mitgeteilten Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen gelten für beide Geschlechter und für alle Altersstufen. Zu berücksichtigen ist, daß diese Ergebnisse erst im Gruppenvergleich zu erzielen sind und sowohl innerhalb der Gruppe der Ostdeutschen als auch innerhalb der Gruppe der Westdeutschen große Unterschiede zwischen den Menschen bestehen. Mit anderen Worten: Viele Westdeutsche und Ostdeutsche sind sich ähnlich; beide Häufigkeitsverteilungen der Merkmalsausprägungen überschneiden sich beträchtlich. a) Ergebnisse zum Bereich „Verhaltenskontrolle“
Das sehr konsistente Ergebnis lautet: Ostdeutsche sind verhaltenskontrollierter als Westdeutsche. Statistisch signifikante Unterschiede zeigen sich nicht nur in der übergeordneten Skala „Verhaltenskontrolle“, sondern in mehreren Teilkomponenten dieser facettenreichen Eigenschaft: )
Im Vergleich zu Westdeutschen legen Ostdeutsche mehr Wert auf Ordnung und das Befolgen von Prinzipien: So plädieren sie etwa dafür, daß man an seinen Grundsätzen festhalten sollte; bewundern ordentliche Menschen; halten die Bewahrung alter Traditionen für sehr wichtig.
Ostdeutsche sind stärker normorientiert, d. h. für sie haben Normen eine höhere Verbindlichkeit: Zum Beispiel treten sie für strenge Beachtung von Geschwindigkeitsbeschränkungen ein, haben weniger Verständnis für Falschparker; verurteilen stärker den Seitensprung eines Mannes oder einer Frau.
Die Bürger der früheren DDR sind zuverlässiger: Sie erwarten von anderen Pünktlichkeit; erledigen Dinge mit der Gründlichkeit deutscher Beamter. Sie richten ihr Verhalten stärker aufdie Zukunft aus und verhalten sich vernunftgesteuert.
Die Ostdeutschen sind -der Tendenz nach (knapp signifikant) -sparsamer: So achten sie zum Beispiel bei Einkäufen mehr darauf, durch Preisvergleiche Geld zu sparen.
Auf der anderen Seite sind Ostdeutsche weniger erlebnishungrig als Westdeutsche: Sie neigen weniger dazu, über ihre Verhältnisse zu leben; sie begeben sich ungern in Situationen, die ihnen weitgehend unbekannt sind; ein Leben, das in gewohnten Bahnen verläuft, ist für sie weniger langweilig und ohne Reiz.
Die in der DDR sozialisierten Deutschen sind nicht so spontan wie Westdeutsche: Sie verspüren stärker das Bedürfnis, ihr Verhalten gut unter Kontrolle zu haben; gehen in ihrer Arbeit so auf, daß Unterbrechungen sie sehr stören. Sie sind weniger offen; halten sich für weniger schadenfroh; geben weniger an; sagen angeblich häufiger die Wahrheit.
Ostdeutsche zeigen eine geringere Gesundheits-Risikobereitschaft: Sie achten stärker darauf, sich vor Erkrankungen zu schützen (wahrscheinlich, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden); gehen Gesundheitsrisiken eher aus dem Weg.
Sie sind von der Tendenz her (knapp signifikant) weniger ausgelassen und begeisterungsfähig: Es macht ihnen zum Beispiel weniger Spaß, verrückte Dinge zu tun.
Diese Ergebnisse lassen sich -pointiert -auf die Formel bringen, daß Ostdeutsche die „deutscheren“ Deutschen sind. Bei ihnen haben klassische „deutsche Tugenden“ (wie z. B. Ordnungsstreben, Zuverlässigkeit oder Normorientierung) eine stärkere Ausprägung; sie vertreten konservativere Wertvorstellungen, während Westdeutsche Selbstentfaltungs-und hedonistischen Werten einen höheren Stellenwert einräumen. Dieser Befund steht im Einklang mit Aussagen von Helmut Klages der für Westdeutsche seit Anfang der sechziger Jahre einen Wertwandelschub von Pflicht-und Akzeptanz-zu Selbstentfaltungswerten und für Ostdeutsche durchweg konservativere Werte konstatiert.
Es scheint, daß sich die Menschen im Osten eine Mentalität bewahrt haben, die in Deutschland eine lange Tradition hat. In Westdeutschland wird sie seit etwa einem Vierteljahrhundert durch amerikanische Wert-und Lebensvorstellungen überlagert. Bei vielen Ostdeutschen dürfte die westliche Mentalität mit ihrer Betonung egoistischer und hedonistischer Züge Unbehagen auslösen Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung gelangt Irma Hanke Sie weist darauf hin, daß „... viele der radikalen Gerechtigkeitsvorstellungen, die diesem Umbruch zugrunde lagen, von den folgenden Generationen verinnerlicht wurden und -in Verbindung mit dem Glauben an die distributive Gerechtigkeit des Kollektivs -den Kern eines egalitären Sozialismus-konzepts bildeten, das vermutlich fester verankert ist, als die heute geäußerte Sozialismuskritik erkennen läßt. Zumindest trägt es vermutlich zu Vorbehalten gegenüber einer kapitalistischen Ordnung bei, die als eigentlich’ historisch überholt angesehen wurde.“ b) Ergebnisse zum Bereich „Aktivität“
In diesem Bereich erzielen Westdeutsche signifikant höhere Werte in den Skalen „Improvisationsfreude“ und „Autonomie“. Keine bedeutsamen Unterschiede ergeben sich jedoch in den Skalen „Aktivität“, „Expansivität", „seelische Gesundheit“ und „Selbstwertgefühl“.
Die größere Improvisationsfreude der Westdeutschen äußert sich unter anderem wie folgt: Es fällt ihnen leichter, ihren Tagesablauf völlig umzustoßen; in heiklen Situationen fällt ihnen schneller eine Ausrede ein; es bereitet ihnen größeren Spaß, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Westdeutsche erzielen höhere Werte in Autonomie: wichtige Entscheidungen treffen sie gern allein; sie gehen gern ihre eigenen Wege.
Die größere Improvisationsfreude und Autonomie der Westdeutschen dürften das Produkt einer Sozialisation sein, in der diese Eigenschaften in der Schule, der Familie, dem Arbeitsbereich bzw.der Politik systematisch gefördert und „belohnt“ wurden, während Ostdeutsche aufgrund der größeren Fremdbestimmtheit vieler Lebensbereiche und Bestrafungen für „allzu viel“ Eigenständigkeit und Entscheidungsfreude zu diesbezüglicher Vorsicht angehalten wurden.
Für sehr bemerkenswert halten wir die fehlenden Unterschiede in den restlichen vier Skalen dieses Bereichs. So unterscheiden sich Ost-und Westdeutsche nicht in der seelischen Gesundheit, d. h. sie sind in gleichem Ausmaß fähig, die äußeren Lebensanforderungen zu bewältigen sowie im Einklang mit sich selbst zu leben. Entgegen weitverbreiteten Vorurteilen werden die folgenden beiden Items signifikant stärker von Ostdeutschen bejaht: „Ich glaube, daß ich sehr anpassungsfähig bin und mich auf die unterschiedlichsten Lebensbedingungen einstellen kann.“ „Ich handele nach der Devise, daß ich für mein Glück selbst verantwortlich bin.“
Es trifft nach unseren Ergebnissen nicht zu, daß Ostdeutsche ein signifikant geringeres Selbstwertgefühl haben. So bejahen -im Gegenteil -Westdeutsche signifikant häufiger, daß sie einen Minderwertigkeitskomplex haben. Wieso ist dennoch so oft vom fehlenden Selbstvertrauen der Ostdeutschen die Rede? (So verwendete beispielsweise Der Spiegel vom 12. November 1990 die Über-schrift „Den Neuen fehlt Selbstvertrauen.“) Hier ist eine Unterscheidung zwischen nach außen zur Schau getragenem Selbstbewußtsein und echtem Selbstwertgefühl erforderlich. Zweifellos treten viele Westdeutsche -vor allem in der direkten Begegnung mit Ostdeutschen -nach außen hin selbstbewußter auf. Dies deckt sich mit Beobachtungen von Ingrid Stratemann beim Vergleich ost-und westdeutscher Stellenbewerber und sollte eigentlich nicht überraschen, haben doch Westdeutsche mehr Training in Selbstpräsentation und kennen sich im westdeutschen System besser aus als ihre ostdeutschen Mitbewerber. Stratemann berichtet andererseits darüber, daß Techniken der Selbst-präsentation von Ostdeutschen relativ schnell erworben werden.
Aus Unterschieden in der Selbstpräsentation auf Unterschiede im Selbstwertgefühl zu schließen, ist jedoch voreilig. So dürften introvertierte Westdeutsche gleichfalls weniger selbstbewußt auftreten als extravertierte, ohne daß der Schluß auf ein geringeres Selbstwertgefühl der Erstgenannten zulässig wäre. Glücklicherweise stützt sich echtes Selbstwertgefühl nur zu einem geringen Teil auf äußere Werte wie materieller Wohlstand. Vielmehr werden Erfolgs-und Statussymbole (z. B. Luxusautos, teure Kleidung) nicht selten zur Schau gestellt, um . latente Minderwertigkeitsgefühle zu kaschieren. c) Ergebnisse zum Bereich „Soziabilität“
Ost-und Westdeutsche unterscheiden sich nicht signifikant in den Skalen „Soziale Orientierung“ und „Anpassungs-und Einfühlungsfähigkeit“, wohl jedoch in der „Liebesfähigkeit“ (höhere Werte der Ostdeutschen). Da diese Skalenbezeichnungen die Skaleninhalte nur angenähert wiedergeben können, werden im folgenden die Items aufgezählt, bei denen sich signifikante Unterschiede zeigen (ein „W“ bzw. „O“ hinter einem Item bedeutet, daß das betreffende Verhalten bzw. die Einstellung häufiger von Westdeutschen bzw. Ostdeutschen gezeigt wird): „Es macht mir Freude, anderen behilflich zu sein (O).“ „Ich kann einem anderen Menschen viel Liebe geben (O).“ „Ich mache mir Gedanken darüber, womit ich einem Menschen, den ich gerne mag, eine Freude bereiten kann (O).“ „Ich komme mit anderen Leuten immer gut aus (O).“ „Eigentlich muß immer jemand um mich herum sein, wenn ich mich wohlfühlen soll (O).“ „Man sagt mir oft, daß ich kein Gefühl habe (W).“
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß zwischen Ost-und Westdeutschen im Bereich Soziabilität keine markanten Unterschiede bestehen. Die Tendenz ist jedoch eindeutig: Ostdeutsche zeigen sich stärker an ihren Mitmenschen interessiert. Vergleichbare Ergebnisse erzielte Ingrid Stratemann. Sie berichtet von einer höheren Sensibilität für soziale Aspekte sowie von ausgeprägteren Fähigkeiten der Ostmanager, sich auf Wünsche und Verhaltensweisen des Kommunikationspartners einzustellen Ähnlich äußert sich auch Roland Stimpel, der Ostdeutschen mehr Sensibilität und Einfühlungsvermögen gegenüber Kollegen, Chefs und Untergebenen zuspricht d) Ergebnisse zum Bereich „Arbeit“
Im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion steht die Frage, ob es zwischen Ost-und Westdeutschen Unterschiede in der Arbeitsmoral, im Fleiß und ähnlichen Eigenschaften gibt. Hierzu werden kontroverse Auffassungen vertreten. Wie oben erwähnt, vermitteln die Spiegel-Ergebnisse den Eindruck einer größeren „Faulheit“ der Ostdeutschen. Helmut Klages meint, es fehle die Bereitschaft zum bedingungslosen „Ärmelaufkrempeln“. Dieser Sichtweise widersprechen unter anderem Thomas Koch und Manfred Stelter Ihres Erachtens charakterisiert weite Kreise der ostdeutschen Bevölkerung eine stark ausgeprägte Disposition für Leistung, Anerkennung und Einfügungsbereitschaft. Nicht wenige Menschen seien konditioniert, weit mehr als acht Stunden täglich zu arbeiten.
Wir stellen im folgenden aus unserer Studie einige signifikante Unterschiede auf Itemebene dar: „Für mich nimmt der Beruf die erste Stelle in meinem Leben ein (O).“ „Wenn die Arbeit nicht richtig klappt, fühle ich mich auch körperlich schlecht (O).“ „Ich lasse mich nicht lange bitten, wenn zusätzliche Arbeiten oder Aufgaben zu erledigen sind (O).“ „Am liebsten sind mir genau vorgegebene Aufgaben, bei denen ich kaum Fehler machen kann (O).“ „Arbeit im Kollektiv ziehe ich einer Arbeit, wo ich auf mich allein gestellt bin, vor (O).“ „Ich brauche ein gutes Arbeitskollektiv, wenn ich mich bei der Arbeit wohlfühlen soll. (O).“
Diese Ergebnisse belegen einerseits eine hohe Arbeitsmoral der Ostdeutschen; andererseits spiegeln sie eine größere Vorliebe für Arbeit im Kollektiv und vorstrukturierte Abläufe wider. Die ermittelte höhere Arbeitsmoral steht im Einklang mit Befunden, über die auch von Stratemann berichtet wird. Sollte diese positive Arbeitshaltung der Ostdeutschen unverändert bestehen bleiben, ist mit einer ähnlichen Aufbauleistung zu rechnen, wie sie Westdeutsche nach dem Krieg vollbracht haben. 4. Ergebnisse zur zweiten Fragestellung:
Zeigen sich 15 Monate nach der „Wende“
Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen in körperlichen und psychischen Beschwerden?
Wir listen zunächst jene Skalen auf, in denen keine signifikanten Unterschiede bestehen: Beschwerdefreiheit, Verdauungsbeschwerden, Herz-Kreislauf-Beschwerden, allgemeine körperliche Sensibilität, motorische Beschwerden, Selbstwertprobleme, Leistungsinsuffizienzgefühle, Sinnerfülltheit, Selbstvergessenheit, Zwangsbeschwerden, Beschwerden in der sozialen Kommunikation, Selbstsicherheit, Frustrationstoleranz.
Signifikant höhere Werte weisen Ostdeutsche in folgenden Bereichen auf: generalisierte Angst (vor allem Angst vor der Zukunft), phobische Beschwerden (z. B. Angst davor, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden), Schlafbeschwerden (z. B. Einschlafprobleme) und -der Tendenz nach -Erschöpfung (z. B. sich ständig müde fühlen) sowie Erregung/Gespanntheit (z. B. manchmal ein richtiges Nervenbündel sein). Vergleichbare Ergebnisse werden von Klaus-Dieter Hänsgen, Edith Kasielke, Lothar Schmidt und Peter Schwenkmezger aus einer Untersuchung berichtet, die im September/Oktober 1990 durchgeführt wurde Die Bürger im Ostteil erlebten sich ängstlicher und empfanden mehr Ärger als im Westteil.
Zusammenfassend sind wir überrascht darüber, wie gering die Unterschiede in den körperlichen und psychischen Beschwerden sind bzw. wie gut die Ostdeutschen mit den Belastungen nach der „Wende“ zurechtkommen. Sie klagen in erster Linie über Angst-, Ärger-und Streßsymptome, die angesichts vielfältiger Frustrationen zu erwarten sind.
Nach unseren Befunden kann nicht die Rede davon sein, daß große Teile der ostdeutschen Bevölkerung -im Vergleich zu Westdeutschen -unter deutlichen psychischen Beeinträchtigungen leiden. Dieses überraschende Ergebnis erscheint vor dem Hintergrund folgender Überlegungen plausibel: Zwar wurden Ostdeutsche mit einschneidenden Veränderungen ihrer Lebensbedingungen konfrontiert, doch beinhalten diese neben negativen Entwicklungen (z. B. hohe Arbeitslosigkeit, Kurz-arbeit, steigende Lebenshaltungskosten) auch zahlreiche Fortschritte (z. B. lang ersehnte Freiheiten, steigende Einkommen, verbesserte berufliche Qualifikations-und Aufstiegschancen). Es ist ferner zu bedenken, daß politische und wirtschaftliche Veränderungen von den Menschen angestrebt und aktiv herbeigeführt wurden.
Zum Zeitpunkt der Untersuchung erscheinen vielen Ostdeutschen die unerfreulichen Aspekte der Gegenwart als vorübergehende Begleiterscheinungen („Durststrecke“) auf einem Weg nach vorne. Es herrscht nach wie vor ein weitverbreiteter Zukunftsoptimismus Da breite Schichten der Bevölkerung von den Belastungen betroffen sind, resultieren nach Vergleichsniveautheorien nur ge-ringe Beeinträchtigungen des Wohlbefindens 28 (man sitzt in einem Boot: den Mitbürgern in den neuen Bundesländern geht es auch nicht viel besser) und günstige Ursachenzuschreibungen (der nicht konkurrenzfähige Betrieb ist verantwortlich für die eigene Arbeitslosigkeit, nicht das eigene Versagen), die vor Beschädigungen des Selbst-wertes schützen. Auch unter dem SED-Regime gelang es vielen Ostdeutschen, Fähigkeiten zur Bewältigung externer und interner Anforderungen (zum Beispiel zur Anpassung an die schwierigen Lebensbedingungen in der Ex-DDR; Aktivierung sozialer Stützsysteme) zu entwickeln. Beim Ost-West-Vergleich dürfen die auch in Westdeutschland vorhandenen Belastungen und negativen gesellschaftlichen Bedingungen sowie die damit im Zusammenhang stehenden körperlichen und psychischen Beschwerden nicht aus dem Blick geraten.
Zieht man aus unseren Ergebnissen Bilanz, so korrigieren sie an mehreren Stellen Vorstellungen, die auf der Ebene persönlicher Meinungen, in den Medien und in der Fachliteratur anzutreffen sind. Unseres Erachtens besteht Anlaß zu verhaltenem Optimismus. Ost-und Westdeutsche bringen positive Eigenschaften in die „gesamtdeutsche Ehe“ ein. Wenn es -wie in einer guten Ehe -gelingt, die Eigenarten des Partners zu achten und sich davon bereichern zu lassen, steht einer positiven Entwicklung -gelegentliche Frustrationen und Konflikte einbegriffen -nichts Entscheidendes im Weg, sofern die äußeren politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorhanden sind.
Peter Becker, Dr. phil., geb. 1942; Professor für Psychologie an der Universität Trier. Veröffentlichungen u. a.: Studien zur Psychologie der Angst, Weinheim 1980; Psychologie der seelischen Gesundheit, Band 1, Göttingen 1982, und Band 2 (zus. mit Beate Minsel), Göttingen 1986; (Hrsg. zus. mit Andrea Abele) Wohlbefinden: Theorie, Empirie, Diagnostik, Weinheim 1991.
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