Psychologische Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern
Ingrid Stratemann
/ 22 Minuten zu lesen
Link kopieren
Zusammenfassung
Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern wird in der breiten Öffentlichkeit vor allem aus betriebswirtschaftlicher und technischer Sicht diskutiert und geplant, ohne darüber zu reflektieren, daß auch psychologische Probleme diese Entwicklung behindern. Auf beiden Seiten des ehemals geteilten Deutschlands besteht weitgehendes Unverständnis für die andere „Kultur“, für Mentalitätsunterschiede. Die gleiche Sprache erschwert die Akzeptanz psychologischer Unterschiede. Bei anderen europäischen Partnern werden aufgrund der verschiedenen Sprachen Mentalitätsunterschiede eher toleriert. Die fehlende Kenntnis und damit häufig verbundene geringe Sensibilität für den adäquaten Umgang miteinander zeigt bereits deutlich negative Auswirkungen. Diese werden sich bei steigenden Arbeitslosenzahlen und nach Auslaufen der Kündigungsschutzvereinbarungen noch verstärken. Ziel des Beitrages ist es, die bestehenden Informationsdefizite unter Einbezug der psychologischen Erklärungskonzepte für den „Laien“ verständlich darzustellen und mit dazu beizutragen, Sensibilität für die jeweils andere Seite zu wecken, das wechselseitige Verständnis zu fördern und bei der Verbesserung der Gestaltung der Bewerbersuche und Bewerberauswahl, der Führung von Mitarbeitern und der Kommunikation zu helfen.
In der Anfangsphase der deutschen Wiedervereinigung wurden die psychologischen Unterschiede, die sich nach 40 Jahren DDR-System in den neuen Bundesländern ergeben mußten, hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Aufbau einer marktwirtschaftlich orientierten Volkswirtschaft viel zu gering eingeschätzt. Wenn man die damaligen Stellungnahmen von Politikern und Spitzenmanagern kritisch betrachtet, scheint die Vorstellung dominiert zu haben: „Die Geschwindigkeit des Aufschwungs ist nur abhängig von der Höhe des Investitionskapitals.“
Dabei ist übersehen worden, daß die finanziellen und technischen Rahmenbedingungen zwar unverzichtbar sind, diese aber nur durch das Verhalten von Menschen, die diese Bedingungen aktiv nutzen, in konkrete Erfolge umgesetzt werden können.
In den folgenden Abschnitten werden die Untersuchungsergebnisse des Instituts für Wirtschaftspsychologie in Dortmund (WIP) hinsichtlich der wirtschaftlich relevanten psychologischen Besonderheiten in den neuen Bundesländern zusammengefaßt
I. Systembedingte Auswirkungen auf psychologische Basismechanismen
Wirtschafts-und Gesellschaftssysteme prägen, vor allem wenn sie mit ihrer Wirkung schon in der frühen Jugend einsetzen, die Persönlichkeit der Menschen in markanter Weise. Aus der Vielzahl dieser Einflüsse werden zwei für den wirtschaftlichen Wiederaufbau besonders bedeutsame herausgegriffen. 1. Motivationsunterschiede Die Unterschiede in den relevanten subjektiven Bedürfnissen, den Wünschen, Zielen und Hoffnungen zwischen der alten BRD und der alten DDR waren offensichtlich. Sie lassen sich zweckmäßig durch eine bewährte psychologische Motivationstheorie erklären, die in Abbildung 1 dargestellt ist. Sie nimmt Bedürfnisebenen des Menschen an, die hierarchisch geordnet sind. Die unterste ist die Existenzbedürfnisebene, dieser folgt die Beziehungsbedürfnisebene und als oberste Möglichkeit der Zielerreichung steht die Wachstums-und Selbsterfüllungsebene.
Die Motive der untersten Bedürfnisebene, welche die menschliche Existenz garantieren und die Erfüllung der physiologischen Erfordernisse sowie die Sicherung des Einkommens beinhalten, müssen in ausreichendem Maße erfüllt sein, um Bedürfnisse auf einer höheren Ebene zu entwickeln.
Dabei steht die „ausreichende“ Erfüllung stets in Relation zu den Bedingungen in der eigenen sozialen Bezugsgruppe. Werden die Existenzbedürfnisse weitgehend befriedigt, gewinnt die zweite Ebene -die Ebene der Beziehungsbedürfnisse (das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Kommunikation, nach sozialer Akzeptanz) -an besonderer Bedeutung. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse verstärkt das Streben nach Befriedigung von Macht-bzw. Gestaltungswünschen (Ebene der Wachstums-und Selbsterfüllungswünsche).
In gleicher Weise, wie die Erfüllung der Bedürfnisse auf der jeweils unteren Ebene die Bedeutung der nächsthöheren steigert, führt eine Frustration auf der „oberen“ Ebene zu einer Zunahme der erlebten Attraktivität auf der unteren Ebene. Hat also ein Mensch keine Gestaltungsmöglichkeiten, nimmt für ihn die Wichtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen zu. Das gilt z. B. auch für die Anerkennung des Sozialstatus. Besteht keine Möglichkeit der Befriedigung auf der Beziehungsebene, steigt die Bedeutung materieller Bedürfnisse.
Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Theorie die Situation in der ehemaligen DDR, so fällt auf, daß im Vergleich zu anderen Comecon-Ländern die fundamentalen Existenzbedürfnisse in ausreichender Weise erfüllt waren, wenn auch der Lebensstandard nicht westlichem Niveau entsprach. Da der Westen -die Bundesrepublik Deutschland und andere westliche Staaten -jedoch eine unerreichbare, meist nur durch Medien vermittelte Welt war, spielte er als unmittelbare Vergleichsgruppe eine untergeordnete Rolle. Innerhalb des direkt zugänglichen Bezugssystems war eine die vorhandenen Grundbedürfnisse dekkende Nahrungsmittelversorgung erreichbar, der Wohnraum entsprechend den bescheidenen Ansprüchen vorhanden, und selbst Luxusartikel, wie z. B. Autos, waren -wenn auch mit langer Wartezeit -zu bekommen. Es ist daher davon auszugehen, daß die Existenzbedürfnisse subjektiv weitgehend erfüllt waren.
Folgt man der oben angesprochenen Motivationstheorie, so ergibt sich aus diesem Umstand ein erhöhtes Bedürfnis nach positiven zwischenmenschlichen Beziehungen. Bezüglich der höchsten Bedürfnisebene -der der Wachstums-und Selbsterfüllungswünsche -gab es für die meisten DDR-Bürger, mit Ausnahme einer sehr kleinen Anzahl von Spitzenfunktionären und führenden Kadern, kaum Möglichkeiten für eine ausreichende Erfüllung. Wenn überhaupt, konnten Macht-und Gestaltungsbedürfnisse in der unmittelbaren persönlichen Umgebung verwirklicht werden, aber auch hier mit starken gesellschaftlichen Restriktionen. Im Westen dagegen ist in vielen Unternehmen das Thema der Selbstverwirklichung von Mitarbeitern an ihrem Arbeitsplatz zum zentralen Motiv geworden. Das Gehaltsniveau ist allgemein hoch, die Mitarbeiter haben viel freie Zeit, um ihre Bedürfnisse nach sozialen Kontakten zu befriedigen, also müssen die Unternehmen in Form eines sogenannten „Zusatznutzens“ den Mitarbeitern die Möglichkeit zur Mitgestaltung, zur Einflußnahme und zur Selbstverwirklichung als zusätzlichen Anreiz bieten.
In der ehemaligen DDR hat sich als Konsequenz aus der Blockierung der Macht-und Gestaltungsbedürfnisse sowie aus der weitgehenden Erfüllung der Existenzbedürfnisse eine Konzentration auf die „mittleren“ Bedürfnisse ergeben, also ein besonders starkes Streben nach positiven zwischenmenschlichen Beziehungen, Achtung und Anerkennung in der akzeptierten sozialen Bezugs-gruppe. Gerade die Wünsche nach sozialer Anerkennung und Geborgenheit wurden aber durch den Anschluß an den Westen stark frustriert: Von „Anerkennung“ durch die oder gar „Liebe“ der Westdeutschen kann kaum gesprochen werden. Man denke nur an die Darstellung der öffentlichen Meinung in den Massenmedien. Ähnliche Erfahrungen machen engagierte Bürger in den neuen Bundesländern auch in politischen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen, Vereinen und Verbänden aller Art. Zwar gibt es hin und wieder einen „Renommier-Ostler“ in einer herausragenden Repräsentationsfunktion, der im Einzelfall auch aufgrund seiner Persönlichkeit akzeptiert wird. Im allgemeinen sind aber die entscheidenden Machtzentren mit Personen aus den alten Bundesländern besetzt.
Für die Bürger in den neuen Bundesländern bedeutet dies, daß ihre sozialen Bedürfnisse nicht ausreichend erfüllt werden, was als starke Beeinträchtigung empfunden wird. Da außerdem -in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft -kaum echte Entscheidungsmöglichkeiten gegeben sind, werden auch die Gestaltungs-bzw. Machtbedürfnisse frustriert. Die theoretische Konsequenz ist eine Konzentration auf die materielle Bedürfnisebene oder ein enttäuschter Rückzug in den privaten Lebensbereich. Zusätzlich muß, wenn auch die finanziellen Aspekte hinter den Erwartungen Zurückbleiben, mit einem erheblichen Aggressionspotential gerechnet werden. Leider zeigt die Entwicklung der letzten Monate, daß sich diese drei Folgen in sehr markanter Weise zeigen, z. B. hinsichtlich der Aggression von Teilgruppen gegen Ausländer. 2. Ursachenzuschreibung Menschen neigen generell dazu, für wichtige Vorgänge eine „Ursache“ identifizieren zu wollen. Weiß man, wer der Verursacher ist, kann man sich besser auf die jeweilige Situation ein-und sein eigenes Verhalten darauf abstellen.
Man unterscheidet in der Psychologie zwischen der sogenannten „internalen“ Attribuierung (Ursachenzuschreibung), bei der die eigene Person als Quelle des relevanten Geschehens aufgefaßt wird, und einer sogenannten „externalen" Attribuierung, bei welcher der Verursacher außerhalb des eigenen Einflußbereichs gesehen wird.
In der spezifischen DDR-Situation war objektiv für die meisten wichtigen beruflichen und zum Teil auch privaten Gegebenheiten nur eine externale Ursachenzuschreibung möglich. Aus der Sicht des normalen Mitarbeiters wurden alle wichtigen Entscheidungen von einer oft anonymen, jedenfalls kaum beeinflußbaren Instanz getroffen. Erste Untersuchungen von WIP in ehemaligen „Personalabteilungen“ der Kombinate zeigten, daß weder auf individuelle Aufstiegs-noch Personalentwicklungswünsche besonders Rücksicht genommen wurde. Die Entscheidungsstrategien der Kaderchefs waren undurchsichtig und höchstens durch „linientreues“ Verhalten zu beeinflussen. Selbst in so wichtigen persönlichen Entscheidungen wie z. B.der Frage des Ausbildungsganges oder der angestrebten beruflichen Beschäftigung gab es nur geringe Möglichkeiten, eigene Wünsche durchzusetzen. Bei grundlegenden Entscheidungen konnte daher nur eine externale Attribuierung angenommen werden, d. h. wesentliche Lebensentscheidungen waren von äußeren Einflüssen, wie der politischen „Linientreue“, den Planvorgaben etc. abhängig.
Für den größten Teil der Menschen, die jahrzehntelang solchen Lebensbedingungen unterworfen waren, sind daraus folgende Schlußfolgerungen zu erwarten:
-Alle lebensentscheidenden Situationen sind kaum beeinflußbar, nicht einmal die wirklich entscheidenden Aspekte sind zu steuern.
-Alltägliche Entscheidungen, die wirklich wichtig sind, hängen zwar ebenfalls von anderen ab, es ist aber möglich, diese durch gezieltes Verhalten „günstig“ zu stimmen.
Eine solche Verhaltensstrategie war innerhalb des geschilderten Systems die einzig rationale. Sie verbindet die Wahrscheinlichkeit, Erfolg zu haben, mit der Vermeidung von unnötigen, nicht zum Ziel führenden Aufwendungen. Dies ist die Erklärung für die von West-Gesprächspartnern immer wieder bedauerte „Entscheidungsschwäche“ von Ost-Kollegen, der Verweis auf „da muß sich jemand Gedanken machen“ anstelle der eigenen Entscheidung, und auch für das aus der Übergangszeit berichtete passive Verhalten bei betrieblichen Störungen. All diese Sachverhalte haben in der über 40 Jahre lang gelernten externalen Ursachenzuschreibung ihren Ursprung. In einem bekannt gewordenen Fall hat der technische Leiter eines Produktionsbereichs völlig korrekt den Ausfall der einzelnen Maschinen protokolliert, er sah sich aber nicht dazu veranlaßt, von sich aus aktiv gegen die aufgetretenen Störungen vorzugehen.
Dieses in der ehemaligen DDR gelernte Verhalten zur externalen Ursachenzuschreibung hat wesentliche Auswirkungen auf das Erleben von Erfolg bzw. Mißerfolg. Besteht im Westen die Tendenz, Erfolge sich selbst zuzuschreiben und dementsprechend stolz und leistungsorientiert auch in der Zukunft zu sein, neigen Ost-Mitarbeiter zwangsläufig dazu, sowohl Erfolg als auch Mißerfolg Faktoren oder Personen in der eigenen Umwelt zuzuschreiben. Zwangsläufige Folge ist eine relative Resistenz gegenüber Persönlichkeitsveränderungen, da sowohl für Positives als auch für Negatives andere verantwortlich sind.
Vor dem Hintergrund dieser psychologischen Bedingungen verwundert es nicht, daß viele Unternehmer über mangelndes Engagement und schwach ausgeprägte Eigenverantwortung von Ost-Mitarbeitern und Führungskräften klagen. Es ist allerdings erstaunlich, daß es eine vergleichsweise hohe Zahl von Mitarbeitern in den neuen Bundesländern gibt, die sich erfolgreich diesen systembedingten Deformationen widersetzten oder sie in sehr kurzer Zeit nachträglich überwinden konnten. Generell ist die Lernfähigkeit der Mitarbeiter in den neuen Bundesländern auch im Persönlichkeits-und Verhaltensbereich wesentlich höher, als man üblicherweise unterstellen würde (vgl. dazu Kapitel V.).
II. Das Siegersyndrom
Abbildung 2
Abbildung 2: Kognitiver Potentialvergleich: Bewerber aus den alten und den neuen Bundesländern
Abbildung 2: Kognitiver Potentialvergleich: Bewerber aus den alten und den neuen Bundesländern
Die stark ausgeprägte internale Attribuierung von Erfolgen im Westen führt dazu, daß sich ein großer Teil der Bevölkerung als „Sieger“ gegenüber dem Ost-System erlebt, obwohl doch der Systemwechsel in der ehemaligen DDR durch die Ostdeutschen herbeigeführt worden ist. Umgekehrt führen selbst die an der Systemveränderung aktiv Beteiligten aus den neuen Bundesländern den Erfolg viel zu wenig auf das eigene Verhalten zurück.
In die gleiche Richtung wirken die besprochenen Motivstrukturen. Von Führungskräften aus dem Westen -nicht nur aus Wirtschaft und Politik, sondern auch aus zahlreichen Verbänden und anderen Organisationen -wird die ehemalige DDR als eine neue Möglichkeit der Befriedigung von Gestaltungsbedürfnissen gesehen. Dadurch, daß die „armen Ossis“ alles schlechter machen, nichts produzieren, zu keiner Anstrengung bereit sind, wie dies in den Massenmedien verbreitet wird, erfahren die Bürger der alten Bundesrepublik ohne jedes Zutun eine soziale Aufwertung. Die Reihe der aktuellen Negativ-Vorurteile könnte weiter fortgeführt werden. Die Notwendigkeit erheblicher finanzieller Aufwendungen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und der dadurch bedingten Reduzierung der öffentlichen Ausgaben im Westen bzw. zusätzlichen Abgaben-und Steuerbelastungen beeinträchtigen die Befriedigung der Existenzbedürfnisse gerade von Personen mit eher niedrigerem Einkommen. Dies verstärkt gemäß dem allgemeinen Motivationsmodell (Abb. 1) die Bedeutung der Beziehungsbedürfnisse und führt somit zu einer „In-Group-Tendenz", die eine soziale Abwertung der Mitbürger in den neuen Ländern auslöst. In Anbetracht dieser psychologischen Gegebenheiten ist in den alten Bundesländern keinerlei Änderungsbereitschaft im Sinne einer Anpassung der West-Verhältnisse an besondere Denkweisen oder Gepflogenheiten in den neuen Ländern zu erwarten: Das eigene System war gut und hat gesiegt, das andere war schlecht und hat verloren. Nach dem Prinzip der kognitiven Dissonanz (gleichgewichtstheoretischer Ansatz in der Motivationstheorie) folgt daraus, daß alles mit dem anderen System Verbundene, auch wenn es an sich positiv war, abgewertet und abgelehnt wird. Die Veränderung von Gepflogenheiten im West-System kommt folglich überhaupt nicht in Betracht. Vor diesem Hintergrund ist es fast überraschend, daß es doch eine knappe Mehrheit für einen Regierungssitz in den neuen Ländern (bzw. Berlin) gab.
Die Siegerhaltung auf westlicher Seite wird noch dadurch verstärkt, daß es auf der DDR-Seite ein „Verlierersyndrom“ gibt. Die große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung war es gewohnt, Bedürfnisse wie soziale Anerkennung, Achtung und zwischenmenschliche Zuneigung befriedigen zu können. Gerade dies wird ihnen -nach einer kur-B zen euphorischen Anfangsphase -vom Westen nicht geboten. Die Folge ist, daß man sich in den neuen Ländern zunehmend wieder auf die eigenen Bezugsgruppen besinnt; d. h., die Leistungen und Produkte der neuen Bundesländer werden subjektiv aufgewertet, sie gewinnen wieder an Attraktivität.
Es wäre fatal, wenn sich vor diesem Hintergrund eine dauernde „Spaltung“ in zwei verschiedene Gruppen von Deutschen, die sich wechselseitig ablehnend gegenüberstehen, ergeben würde. Hier sind sowohl die Politiker als auch die Journalisten gefragt. Die oft einseitige Darstellung der Verhältnisse in den Massenmedien hat in nicht unerheblichem Maße die Entfremdungstendenzen verstärkt. Man macht sich offensichtlich zu wenig Gedanken über die psychologischen Auswirkungen, welche die immer wieder reißerisch aufgemachten Berichte über die „unerträglichen“ Lebensbedingungen in den neuen Bundesländern (Umweltverschmutzung, hoch belastetes Trinkwasser, schlechte Wohnungssituation) auf die dort in der Vergangenheit gar nicht so unglücklich lebenden Menschen, aber auch auf die Bürger in den West-Bundesländern haben müssen, die sich in ihrer „Überlegenheit“ weiter bestärkt sehen.
III. Berufsrelevante Ost/West-Unterschiede
Abbildung 3
Abbildung 3: Management-Profilbereich bei Bewerbern aus den alten und den neuen Bundesländern
Abbildung 3: Management-Profilbereich bei Bewerbern aus den alten und den neuen Bundesländern
Um die psychologisch verständlichen, aber in ihrer Auswirkung unannehmbaren Vorurteile, die im Westen Deutschlands über die neuen Bundesländer weit verbreitet sind, kritisch zu überprüfen, wurden durch das WIP 1990/91 mehrere Stichproben durchgeführt, welche die bestehenden Ost/West-Unterschiede empirisch erfassen. Die den Abbildungen 2 und 3 zugrundeliegenden Daten wurden im Zeitraum von Juni bis November 1990 („Stichprobe Ost“, n = 450) und von August 1990 bis Februar 1991 („Stichprobe West“, n = 350) erhoben. Im Fall der Weststichprobe handelt es sich, bezogen auf Lebensalter und Ausbildungshintergrund, um recht homogene (Sub-) Probandengruppen. Die Teilnehmer, welche die Oststichproben bilden, sind bezüglich biographischer Merkmale weitaus heterogener (Alter, Ausbildung, ausgeübter Beruf). Hier realisiert sich (auch hinsichtlich regionaler Unterschiede) ein breiteres Spektrum.
Alle Teilnehmer hatten sich auf in der Tagespresse erschienene Stellenanzeigen beworben (unter-19 schiedliche Bewerbungsgänge für vertriebsnahe Bereiche mit und ohne Führungsverantwortung) und waren zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden. Die wichtigsten Ergebnisse der beiden Stichproben sind im folgenden zusammengefaßt. 1. Intellektuelle Leistung Hinsichtlich der kognitiven Leistungsfähigkeit, im allgemeinen Sprachgebrauch gern als „Intelligenz“ bezeichnet, gibt es keine verifizierte Hypothese für einen relevanten Systemunterschied. Soweit Differenzen bestehen sollten, sind diese eher durch unterschiedliche schulische Förderung oder aufgrund divergenter beruflicher Anforderungen zu erwarten.
Die Unterschiede im kognitiven Bereich sind erwartungsgemäß relativ gering. Das einzig signifikante Resultat betrifft rechnerisch-kalkulatorisches Denken. Eine Erklärung hierfür kann darin liegen, daß im beruflichen Alltag der ehemaligen DDR selbstverständliches Umgehen mit Zahlen und kleinen Berechnungen weit weniger vorkam als im Westen. Eine andere Erklärung liegt in dem ehemaligen Einheits-Schulsystem begründet. In den ersten zehn Schuljahren wurden alle Schüler, unabhängig von den intellektuellen Befähigungen, nach dem gleichen Mathematik-Curriculum unterrichtet. Da die Tendenz bestand, mathematische Spitzenleistungen zu trainieren, um diese Propaganda-und prestigewirksam bei internationalen Vergleichen (z. B. bei Rechen-Olympiaden) einzubringen, waren die Anforderungen für schwächere und mittlere Schüler zu hoch. Förderunterricht wurde auch kaum erteilt, so daß für das Gros der Schüler der Mathematik-Unterricht eine Überforderung darstellte.
Die Differenzen in den anderen intellektuellen Bereichen sind so gering, daß sie keinerlei praktische Konsequenz haben. Sollte für eine bestimmte Tätigkeit eine spezielle Rechenfertigkeit erforderlich sein, läßt sich der anforderungsbedingte Rückstand in kürzester Zeit aufholen. Hinsichtlich ihrer intellektuellen Befähigung spricht jedenfalls im Durchschnitt nichts gegen Mitarbeiter aus den neuen Bundesländern.
Etwas schwieriger kann die Situation dann sein, wenn nicht schwerpunktmäßig Basisfunktionen der Informationsverarbeitung gefordert sind, sondern ein Denken in vernetzten Systemen gefragt ist. Gerade für Positionen mit anspruchsvollen, bereichsübergreifenden Fachaufgaben -insbesondere im Führungskräftebereich -ist in Anbetracht der komplexer gewordenen wirtschaftlichen Realität die Berücksichtigung von vielen, in ihren Verknüpfungen nur zum Teil bekannten Systemkomponenten erforderlich. Die Fähigkeit, komplexe, nur partiell durchschaubare Zusammenhänge ziel-orientiert, unter Beachtung von Effizienzgesichtspunkten strukturiert zu handhaben, wurde bei berufserfahrenen Bewerbern im Westen, vor allem bei anspruchsvollen Positionen, in wesentlich höherem Maße eingeübt als in der DDR-Wirtschaft, wo ein solches „Mitdenken“ nicht nur nicht gefördert wurde, sondern in vielen Fällen auch gar nicht erwünscht war. 2. Führungsrelevante Persönlichkeitseigenschaften Im Westen herrscht die Einstellung vor, daß die meisten „Ostler“ für anspruchsvollere Führungsaufgaben nicht geeignet sind. Die unterstellte „Ost-Persönlichkeit“ soll angeblich einem Einsatz an verantwortlicher Position entgegenstehen. Diese negativ geprägte Erwartung läßt sich bei Betrachtung der objektiven Testergebnisse nicht, oder zumindest nicht in dem erwarteten Umfang, aufrechterhalten. Von allen Persönlichkeitsdimensionen dieses Tests zeigt der überwiegende Teil keine signifikanten Unterschiede zwischen der Ost-und der Westgruppe. Die sieben statistisch gesicherten Resultate sind in Abbildung 3 zusammengefaßt. Es wird deutlich, daß das Persönlichkeitsprofil der Bewerber „Ost“ nur geringfügig von dem der Bewerber „West“ abweicht. Die Nachteile der Ost-Bewerber fallen kaum ins Gewicht. In dem Bereich „Verantwortlichkeit für Mitarbeiter“ erbringen sie sogar positivere Ergebnisse als die westliche Vergleichsgruppe.
Alle gemessenen Unterschiede sind vor dem Hintergrund der in den unterschiedlichen Systemen gesammelten Erfahrungen plausibel: Soziales Auftreten und Flexibilität konnten in der DDR nicht im gleichen Maße wie im Westen trainiert werden, ebensowenig die Fähigkeit, sich flexibel auf Situationen und Anforderungen einzustellen. Die „Fähigkeit zum Erfolg“ wird durch die Tendenz zur externalen Attribuierung beeinträchtigt, die persönlichkeitsbedingten Leistungsgrundlagen wie die „intellektuelle Effizienz“ sind typische Konsequenzen einer eingeschränkten beruflichen Handlungsmöglichkeit. Es gab keine mit dem Westen vergleichbaren Entfaltungsmöglichkeiten.
Insgesamt kann trotz der Differenzen mit einem schnellen Abbau dieser Unterschiede gerechnet werden. Dennoch ist zur Beschleunigung dieser Anpassungsvorgänge dringend zu empfehlen, spe-21 zielle Trainingsmaßnahmen mit Führungskräften aus den neuen Bundesländern durchzuführen, wozu bereits entsprechende Konzepte erarbeitet und in der Praxis erprobt wurden. 3. Service-Orientierung Die deutsche Wiedervereinigung hat bei vielen Unternehmen einen besonderen Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern im Dienstleistungssektor ausgelöst. Schon vor der Wende gab es hier einen erheblichen Personalmangel, so daß der zusätzliche Bedarf nicht allein durch Transfer von Arbeitnehmern aus den alten in die neuen Bundesländer gedeckt werden kann. Aus diesem gestiegenen Bedarf nach qualifiziertem Personal im Dienstleistungsbereich, auch für die neuen Bundesländer, wurde als Konsequenz ein computergestütztes, einfach handhabbares und ökonomisches Testverfahren für die Auswahl bei hohen Bewerberzahlen entwickelt, das Persönlichkeitskomponenten an die Bestimmungsgrößen einer erfolgreichen
Dienstleistung koppelt. Dieses Verfahren wurde bei zwei ähnlich großen und hinsichtlich ihrer strukturellen Zusammensetzung annähernd vergleichbaren Bewerbergruppen aus den neuen und alten Bundesländern eingesetzt und hat sich insbesondere bei der Auswahl für den Zugang zu Assessment-Centers (spezifisches Personalauswahl-verfahren) bewährt.
Mit diesem Verfahren werden acht Persönlichkeitsdimensionen gemessen, die für den Service von Bedeutung sind: Aufgeschlossenheit gegenüber anderen (Extraversion), das Einfühlungsvermögen in andere (Empathie), die Fähigkeit, sein Verhalten kritisch zu prüfen und flexibel an Kundenwünsche anzupassen (self-monitoring), die Durchsetzungsfähigkeit bzw. Abschlußstärke (Dominanz), die Bereitschaft, anderen seine Dienste anzubieten (Hilfeleistungsmotivation), das Maß an Leistungsmotivation und Frustrationstoleranz sowie das Bestreben, mit der erfolgreichen Beratung soziale Anerkennung zu finden (vgl. Abbildung 4). Die an ca. 800 Personen erhobenen Daten entsprechen in keiner Weise den negativen Erwartungen. Bei den acht Testdimensionen gab es nur hinsichtlich der Fähigkeit, aufgeschlossen anderen gegenüberzutreten (Extraversion), ungünstige Werte für die Bewerber aus den neuen Bundesländern. Bei den übrigen sieben serviceorientierten Persönlichkeitsdimensionen zeigte sich zweimal ein statistischer Gleichstand und fünfmal eine Überlegenheit für die Bewerber aus den neuen Bundesländern.
Diese Befunde erklären, warum sich das dargestellte falsche Vorurteil durch persönliche Kontakte in den neuen Bundesländern eher verstärkt: Die für den Laien am deutlichsten spürbare Servicedimension, die Extraversion, ist bei den Bewerbern aus den neuen Bundesländern deutlich schlechter ausgeprägt. Im unmittelbaren Umgang zeigt sich dies in einer besonderen persönlichen Zurückhaltung, einem geringen aktiven Herbeiführen oder Fortführen von Gesprächssituationen und Schüchternheit. Abgesehen von dieser im Westen im Durchschnitt höheren persönlichkeitsbedingten Disposition werden diese Verhaltensmuster aber auch noch durch die konkrete soziale Lage, die oft vorhandenen Abhängigkeits-und Machtverhältnisse in der Zusammenarbeit mit Kollegen aus den alten Bundesländern und vielleicht auch durch ein manchmal überbetontes Dominanzverhalten der Westdeutschen gefördert.
Insgesamt kann man zusammenfassen, daß sich die wirtschaftsrelevanten Nachteile in der Leistungsund Persönlichkeitsstruktur bei Mitarbeitern in den neuen Bundesländern, wie es im Westen immer wieder behauptet wird, auf sehr wenige Teilbereiche beziehen. In vielen Dimensionen ist sogar von einer Überlegenheit der Ost-Mitarbeiter auszugehen, wobei sich alle diese Aussagen immer nur auf den Durchschnitt von Gruppen beziehen und nicht auf herausragende gute oder schlechte Einzelleistungen. Jedenfalls ist nach diesen Resultaten das negative Vorurteil gegenüber Mitarbeitern aus den neuen Bundesländern in entscheidenden Punkten zu revidieren. Dies sollte die Unternehmen motivieren, ihren Personalbedarf mehr als bisher mit Mitarbeitern aus den neuen Bundesländern zu decken, auch für verantwortungsvolle Aufgaben und für Marketingfunktionen. Allerdings sind speziell zugeschnittene Trainingskonzepte notwendig, um insbesondere instrumentelle Kompetenzen, wie Kommunikations-und Präsentationstechniken, zu vermitteln.
IV. West-Führungskräfte in den neuen Bundesländern
Abbildung 4
Abbildung 4: Management-Profilvergleich (Dienstleistungsbereich) bei Bewerbern aus den alten und den neuen Bundesländern
Abbildung 4: Management-Profilvergleich (Dienstleistungsbereich) bei Bewerbern aus den alten und den neuen Bundesländern
Ebenso wie es systembedingte Prägungen im Osten gibt, deren psychologische Analyse das Verständnis für die konkrete Aufbausituation erleichtert, kann man auch im Westen Besonderheiten feststellen -und diese erleichtern nicht immer die Aufbauleistung. Im besonderen Maße sind solche Aspekte für die Auswahl, die Schulung und die begleitende Beratung jener Führungskräfte relevant, die helfen sollen, den Aufschwung in den neuen Bundesländern herbeizuführen.
Qualifizierte, mobile Führungskräfte sind auch in den alten Bundesländern eine nur eingeschränkt zur Verfügung stehende Ressource. Der Wiederaufbau in den neuen Ländern führt naturgemäß zu einer Verschärfung dieser Mangelsituation. Es stellt sich daher die Frage, welche Manager der einzelnen West-Unternehmen für die erforderliche Aufbauarbeit delegiert werden können.
Wahrscheinlich werden viele der erfahrenen und erfolgreichen Führungskräfte aller Hierarchieebenen, die in die neuen Länder gewechselt haben, in der „Pionierarbeit“ eine subjektiv motivierende und zufriedenstellende Aufgabe sehen, für die sie sich voll engagieren wollen. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich die wichtigsten Träger des Aufbau-prozesses. Die Anzahl reicht aber bei weitem nicht aus.
Eine zweite, für die Aufbauarbeit ebenfalls gut einsetzbare Gruppe sind jene Führungskräfte, die weniger durch den Reiz der Aufbauarbeit animiert werden, sondern durch die Möglichkeit, dadurch externe Vorteile, insbesondere Karrierechancen und höhere Bezahlung, zu erreichen.
Neben diesen beiden erstgenannten, von der Leistungsfähigkeit her sehr gut in den neuen Bundesländern einsetzbaren Führungskräftegruppen gibt es zwei weitere Gruppen. Deren wesentliche Merkmale sind ihre spezifischen Gründe für die Entscheidung, in den neuen Bundesländern arbeiten zu wollen: a) Führungskräfte, die in ihrer beruflichen Entwicklung wegen nicht überragender persönlicher Leistungen stehengeblieben sind, sehen in Ostdeutschland eine „letzte Chance“ für einen erneuten beruflichen Aufstieg. Nicht selten werden Personen aus dieser Gruppe mit Negativ-Sanktionen zu einem Wechsel gedrängt. Es besteht bei Angehörigen dieser Gruppe die Ge23 fahr, daß sie die eigenen Enttäuschungen an die neuen Mitarbeiter weitergeben. b) Die zweite Gruppe sind „Überflieger“, die durch die Wende zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihrer beruflichen Entwicklung bei hohen persönlichen Fähigkeiten die Chance erhalten, in den neuen Bundesländern eine ungewöhnlich schnelle Karriere zu erreichen. Das Problem ist, daß diesen motivierten und hochleistungsfähigen Personen häufig die notwendige Sensibilität fehlt, sich auf die besonderen Bedingungen ihrer Kollegen und Mitarbeiter aus den neuen Bundesländern einzustellen. Das deutliche Herausstellen der meist objektiv gegebenen Überlegenheit gegenüber den Kollegen erschwert eine sinnvolle Zusammenarbeit.
Da die „High-Potentials“ eine besonders interessante Gruppe für den wirtschaftlichen Aufbau darstellen, müssen umgehend und gezielt Trainingsmaßnahmen insbesondere zur Erhöhung der Fähigkeit zur Empathie und der Akzeptanz von Leistungsschwächeren durchgeführt werden. Zusätzlich sind besondere Verhaltensweisen der Vorgesetzten gefordert.
Hierbei ist vor allem daran zu denken, daß in regelmäßig stattfindenden Gesprächen deutlich gemacht wird, daß gerade von einer hochleistungsfähigen Führungskraft nicht nur gute Sachergebnisse, sondern auch eine Anerkennung und Förderung der Persönlichkeit bei den Mitarbeitern erwartet wird.
Die besonderen Selektions-und Einsatzbedingungen bringen auch die Gefahr mit sich, daß die West-Führungskräfte in den neuen Bundesländern ein völlig übersteigertes Selbstbild entwickeln. Sie sind gerade in Sozialtechniken meist besser geschult als die Ost-Kollegen. Sie verfügen in vieler Hinsicht über bessere „Kampftechniken“ bei der individuellen Durchsetzung. Sie haben in ganz anderem Ausmaß Einkommen, Besitz und Statussymbole. Überdies wird der generelle wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Ländern auch bei nicht überragender persönlicher Leistung für Erfolgserlebnisse sorgen. Solche Selbstüberschätzungsmechanismen erschweren die Kooperation mit den Ost-Kollegen erheblich.
Die Lösung dieser Problemsituation kann nicht durch die Selektion von West-Führungskräften allein erfolgen, da dies die angespannte Personal-marktsituation in diesem Bereich weiter verschärfen würde. Man muß statt dessen versuchen, den Einsatz durch Trainings-und Beratungsmaßnahmen zu optimieren. Organisatorische Bedingungen müssen sicherstellen, daß die Ost-Kollegen nicht als „Konkurrenten“ betrachtet werden, da diese sonst nicht -wie für den Aufbau unverzichtbar -von dem West-Kollegen in ihrer Leistungs-und Führungsfähigkeit gefördert, sondern „unterdrückt“ werden.
V. Lernfähigkeit von Mitarbeitern in den neuen Bundesländern
Erstaunlich ist, mit welcher Schnelligkeit und wie gut Sozialtechniken von Mitarbeitern aus den neuen Bundesländern gelernt werden. Dieses Resultat ist von besonderer Bedeutung für eine faire Auswahl, die auf der Bewertung solcher sozialen Kompetenzen basiert, z. B. Interviews und Assessment-Centers. In den ersten mit Bewerbern aus den neuen Ländern vom WIP durchgeführten Interviews war kaum einer in der Lage, sich selbst positiv darzustellen, d. h. sich zu „bewerben“. Ferner fiel in Assessment-Centers mit Ost-Teilnehmern auf, daß sie über keinerlei Kenntnisse von Präsentations-bzw. Moderationstechniken verfügten.
Bei der Selektion von Mitarbeitern für eine anspruchsvolle Außendienst-Tätigkeit aus den und für die neuen Bundesländer führte WIP Assessment-Centers durch. 120 Bewerber wurden nach Kriterien westlichen Standards für die Teilnahme ausgewählt. Die Übungen entsprachen auf Grund der deckungsgleichen Anforderungen für die'West-und Ost-Bewerber ebenfalls westlichem Standard. Das gilt auch für die vorgenommene Bewertung und die Verrechnung einzelner Bewertungen zur Gesamteignungsaussage.
Dabei zeigte sich, daß zunächst nur ein kleiner Teil der Bewerber (12 Prozent) aus den neuen Bundesländern Beurteilungen erreichen konnte, die zusammengefaßt eine positive Eignungsaussage nach den üblichen (West-) Standards ermöglichte. Da im Assessment-Center Leistungen und Erfahrungen beurteilt werden, die in der Vergangenheit erlernt werden konnten, würden Ost-Bewerber mit diesem Verfahren systematisch benachteiligt. Um den Einfluß der Lernfähigkeit zu untersuchen und ein faires Verfahren sicherzustellen, wurde nach dem ersten Tag im Assessment-Center den Teilnehmern die Möglichkeit geboten, eine schriftliche Trainingseinheit zur sachgerechten Durchführung der „Präsentationsübung“ durchzuarbeiten. Am nächsten Tag wurde diese Präsentationsübung in ähnlicher Form, aber mit anderen Inhalten wieder-B holt. Dabei zeigte sich, daß schon die relativ geringe Lernchance, wie die zweimalige Durchführung der Übung sowie das Durcharbeiten der Trainingseinheiten, ausreichte, um weiteren 21, 5 Prozent der Bewerber aus den neuen Bundesländern ein Überschreiten der West-Grenzwerte zu ermöglichen, so daß insgesamt ein Drittel der im voraus gewählten Bewerber akzeptiert werden konnte. Die vergleichbare Erfolgsquote bei West-Bewerbern liegt bei etwa 40 Prozent. Es wäre ein grober Fehler gewesen, die Leistungsfähigkeit der Bewerber aus den neuen Bundesländern ausschließlich auf Grund ihres zunächst gezeigten Verhaltens, ohne die Einräumung einer entsprechenden Lernchance, zu bewerten. Gleichzeitig wurde deutlich, wie wichtig ein Training der grundlegenden sozialen Fertigkeiten in den neuen Bundesländern ist.
VI. Die psychologische Situation der Existenzgründer in den neuen Bundesländern
Der wirtschaftliche Aufschwung kann nicht allein durch die Sanierung der Großbetriebe erfolgen, er setzt auch den Aufbau eines breiten Mittelstandes voraus. Um nähere Informationen über die psychologischen Bedingungen der Existenzgründer in den neuen Ländern zu erhalten, wurde vom WIP eine kleine Studie unterstützt, bei der die Situation von 16 ausgewählten neuen Unternehmen untersucht wurde. Ziel dieser Analyse war vor allem, den vordringlichen Bedarf dieser Unternehmen an Personalberatung abzuklären. Ein Teil der Ergebnisse läßt sich für die Optimierung des Umgangs mit Geschäftspartnern aus den neuen Bundesländern heranziehen.
Anlaß zur Existenzgründung gaben Wünsche nach mehr persönlicher Gestaltungsmöglichkeit, d. h. es überwog der Wunsch, keine Vorgesetzten, erhöhte Eigenverantwortlichkeit und die Chance zur beruflichen Selbstverwirklichung zu haben. Diese Gründe sind mit der in Kapitel I dargestellten Motivationsstruktur gut zu erklären. Nur in 25 Prozent der Fälle wurden Existenzfragen wie „berufliche Sicherheit“ oder „keine Beschäftigungsalfernative“ genannt. Die dominierenden Motive der Existenzgründung dürften also im Bereich der Gestaltungs-und Machtebene zu sehen sein.
Im Gegensatz zu diesen Motivationen steht, daß das Ausmaß der externalen Attribuierung für den Unternehmenserfolg überraschend hoch war. Auf die Frage nach den Ursachen für einen möglichen Mißerfolg im Verkaufsbereich gaben 14 der 16 Befragten externale, also im Verhalten der Kunden oder anderer „äußerer“ Umstände liegende Gründe an. Wenn Mißerfolge auf äußere Umstände geschoben werden, entsteht zwangsläufig eine Resistenz im Hinblick auf eigene Änderungsbereitschaft, die gerade in der Aufbauphase kleiner Unternehmen besonders wichtig ist.
Damit zusammenhängend war ein auffallend enger Planungshorizont für die eigentliche geschäftliche Aktivität zu beobachten. Diese umfaßte nur einige Wochen. Hier ist noch ein erhebliches Ausmaß an Beratungs-und Trainingsarbeit zu leisten.
Ein völlig überraschendes Resultat dieser Studie ist, daß es offensichtlich zu einer Übertragung des Rollenbildes des ungeliebten früheren Ost-Vorgesetzten auf die „mächtigen“ Gesprächs-und Geschäftspartner aus dem Westen gekommen ist. Auch wenn man die Aussagekraft einer einzelnen Studie in dieser Größenordnung nicht überschätzen darf, ist dies doch ein Befund, der bei der Verhandlungsführung im besonderen Maße beachtet werden sollte.
Im einzelnen zeigte sich: -Ein Mißerfolg bei Verhandlungen mit Partnern, insbesondere Banken und Zulieferern aus dem Westen, wird internal attribuiert, also auf eigenes „Fehlverhalten“ zurückgeführt. Dies steht völlig im Gegensatz zu der eindeutig externalen Attribuierung von Mißerfolgen im Kontakt mit eigenen Kunden.
-Die Westpartner werden in geschäftlichen Situationen als überlegen angesehen, man hat in gewisser Weise Angst vor ihrem geschickten Verhalten und ihrer überlegenen Kompetenz.
Diese Einschätzung löst eine hohe Lern-und Anpassungsbereitschaft am Modell aus.
-Ähnlich wie die einstigen sozialistischen „Führungskader“
werden die Westpartner als „Mächtige“ emotional zwiespältig bewertet, bis hin zu einer gefühlsmäßigen Ablehnung.
Ebenso wie früher setzt man die Fähigkeiten zum Verständnis der sozialen Situation und der Wünsche des Gesprächspartners ein, paßt sich diesem an, allerdings ohne den anderen unbedingt emotional zu akzeptieren oder zu schätzen.
Dabei hilft die durchschnittlich hohe Fähigkeit zu Empathie und zur Selbststeuerung in Verhandlungsgesprächen.
In Assessment-Center-Übungen hat sich gezeigt, daß die Tendenz besteht, diese Übertragung des Rollenbildes „Führungskader“ auf Westpartner auch in anderen Bereichen zu vollziehen, z. B. beim Umgang von West-Führungskräften mit Ost-Mitarbeitern oder in Verbänden, Organisationen und im politischen Bereich. In allen diesen Fällen ist eine besondere Sensibilität der West-Partner für die psychische Situation der Ost-Kollegen gefordert.
VII. Ausblick
Es ist zu wünschen, daß die bislang kaum berücksichtigten psychologischen Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern verstärkt Beachtung finden. Neben den Wirtschaftsunternehmen, die für die sachgerechte Gestaltung der Personalauswahl, der Führung und der Trainingsarbeit das entsprechende Wissen benötigen, sollten auch die Verantwortlichen in Organisationen, Verbänden und im politischen Bereich verstärkt auf die oben skizzierten Besonderheiten Rücksicht nehmen. Es muß verhindert werden, daß eine dauerhafte emotionale Entfremdung zwischen den alten und den neuen Bundesländern entsteht, die leider durch das in vielen Fällen offensichtliche Fehlverhalten von Führungspersonal aus dem Westen gefördert wird. Es bleibt noch vieles zu tun, nicht nur um die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern auszugleichen, sondern auch um die für eine vergleichbare Befindlichkeit der Menschen erforderlichen psychologischen Grundlagen zu schaffen.
Ingrid Stratemann, Dr. phil.; geb. 1950; Studium der Germanistik, Mathematik und Biologie für das Lehramt sowie Studium der Erziehungswissenschaften und der Psychologie; Geschäftsführerin des Instituts für Wirtschaftspsychologie (WIP) in Dortmund. Veröffentlichungen u. a.: Psychologische Aspekte des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den neuen Bundesländern, Göttingen 1991; div. Beiträge in wirtschaftswissenschaftlichen Zeitschriften.