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Dispositionskosten des Transformationsprozesses Werden mentale Orientierungsnöte zum wirtschaftlichen Problem? | APuZ 24/1992 | bpb.de

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APuZ 24/1992 Dispositionskosten des Transformationsprozesses Werden mentale Orientierungsnöte zum wirtschaftlichen Problem? Psychologische Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern Ostdeutsche und Westdeutsche auf dem Prüfstand psychologischer Tests „Selbst-Unternehmertum“ und „Aufschwung Ost“

Dispositionskosten des Transformationsprozesses Werden mentale Orientierungsnöte zum wirtschaftlichen Problem?

Lutz Marz

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die realsozialistischen Gesellschaften sind zusammengebrochen, aber die mentalen oder habituellen Dispositionen der Menschen, über die sich diese Gesellschaften reproduzierten, existieren noch. Jene in Jahrzehnten eingeschliffenen Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster haben mit zur schleichenden Erosion und plötzlichen Implosion dieser Gesellschaften geführt. Nun blockieren sie volks-und betriebswirtschaftliche Reorganisationsprozesse, weil sie die Menschen, die sie in sich eingewoben haben und die sich jetzt unter dem Druck der neuen Verhältnisse von ihnen zu befreien suchen, in Orientierungsnöte stürzen. Viele, die in den ehemals realsozialistischen Ländern daran beteiligt sind, die zusammengebrochenen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen neu aufzubauen -ob Politiker oder abgeordnete Beamte, ob Manager oder Unternehmensberater -, werden in dieser oder jener Form mit diesen Dispositionen konfrontiert und geraten selbst in Orientierungsnöte. Um diese doppelte Orientierungsnot und die daraus resultierenden Kommunikationsprobleme und Fehlanpassungen zu minimieren, sollten die realsozialistischen Dispositionen jenseits von trivialen Bewertungen und simplen Vermessungen objektivierter und emotionsärmer verortet werden. Dabei stellen sich Fragen wie die folgenden: Worum handelt es sich bei diesen Dispositionen konkret, was hat man sich darunter im einzelnen vorzustellen? Inwiefern waren sie im Realsozialismus funktional? Wie tief sind sie in den Menschen verankert? Warum kollidieren sie mit den neuen Handlungsanforderungen? Welchen Stellenwert besitzen sie in den volks-und betriebswirtschaftlichen Transformationsprozessen? Ausgehend von eigenen Erfahrungen und gestützt auf neuere sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse werden eine mögliche Antwortrichtung und erste Antwortschritte skizziert und zur Diskussion gestellt.

„Die Frage nach den Triebkräften der Expansion des modernen Kapitalismus ist nicht in erster Linie eine Frage nach der Herkunft der kapitalistisch verwertbaren Geldvorräte, sondern vor allem nach der Entwicklung des kapitalistischen Geistes. "

I. Ein bekanntes Bonmot und die mentalen Dispositionen

Jeder kennt das Bonmot: „Wir sind ein Volk“, rufen die Ostdeutschen begeistert -„Wir auch“, antworten die Westdeutschen gelassen. Die Begeisterung hat sich gelegt, die Gelassenheit schwindet und das Lächeln fällt zunehmend schwerer.

Die Differenz ist ein Problem, das in dem mittlerweile ebenso thematisch breit gefächerten wie inhaltlich tief gestaffelten „Ossi“ -„Wessi“ -Diskurs aus recht unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Interessenlagen fokussiert, auf sehr verschiedenen Diskussions-und Niveauebenen analysiert und mit oft widersprüchlichen Befunden diagnostiziert wird In den Debatten fehlt es weder an problematischen noch an grotesk-bösartigen Fehlwahrnehmungen weder an wechselseitigen Vor-noch an bedenklichen Werturteilen weder an fragwürdigen Deutungsmustern noch an affekt-geladenen Argumentationsfiguren Die Situation ist belastend: Nicht nur in der Boulevardpresse werden billigste Halbwahrheiten feilgeboten, Parteien und Parteiungen zeihen sich lauthals der Roßtäuscherei, an markigen West-Sprüchen mangelt es ebensowenig wie an unerträglicher Ost-Larmoyanz; unbedarften Ex-DDR-Bürgern wird von cleveren Westlern das Fell über die Ohren gezogen, kompetente Altbundesrepublikaner können sich ihren ostdeutschen Partnern nur mühsam verständlich machen und handeln sich überdies im Handumdrehen den Konquistadoren-Titel ein; empört werden neue Allheilmittel eingeklagt, weil die alten über Nacht natürlich nicht anschlugen; hier wird dem Beitrittsgebiet eine japanische, da eine süditalienische, dort schließlich gar keine Zukunft prophezeit. Und die Zahl derer, denen langsam die ganze „Ossi“ -„Wessi“ -Thematik überdrüssig zu werden beginnt, dürfte im Wachsen begriffen sein.

Wenn ich trotz der um sich greifenden Ressentiments ein latentes Problem der turbulent diskutierten „Ossi“ -„Wessi“ -Differenz zur Sprache bringen will, dann geschieht dies aus fünf Gründen: Erstens, weil ich vermute, daß es nicht nur in der früheren DDR, sondern in allen ehemals realsozialistischen Ländern existiert; zweitens, weil ich annehme, daß alle, die dort vor Ort mit daran beteiligt sind, die zusammengebrochenen Gesell-Schafts-und Wirtschaftsstrukturen neu aufzubauen, zwangsläufig mit diesem Problem konfrontiert werden; drittens, weil mir scheint, daß es sich im volks-und betriebswirtschaftlichen Reorganisations-bzw. Transformationsprozeß vielfach eher verschärft als von selber löst; viertens, weil ich be-fürchte, daß so Kosten entstehen könnten, die sowohl für die Gesellschaft insgesamt als auch für einzelne Organisationen und Unternehmen nur noch sehr schwer kalkulierbar und beherrschbar sind; fünftens schließlich, weil ich hoffe, daß sich dadurch vielleicht ost-westliche Differenzen präziser, objektivierter und emotionsärmer verorten, vor allem jedoch reibungs-und konfliktärmer minimieren lassen.

Das Problem, zu dem ich im folgenden einige Überlegungen zur Diskussion stellen möchte, betrifft die mentalen oder habituellen Dispositionen also jene in Jahrzehnten eingeschliffenen und tief in den Menschen verwurzelten Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster, die a) im Realsozialismus funktional waren, über die dieser sich reproduzierte und in denen er in den Menschen auskristallisierte, b) mit zu der schleichenden Erosion und plötzlichen Implosion dieses Gesellschaftssystems führten, c) nun sozialmarktwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Transformationsprozesse blockieren,

d) zwar in ihren Folgen immer wieder leicht zu spüren, in ihrer Kerngestalt jedoch nur schwer zu fassen sind, e) die Menschen, die sie in sich eingewoben haben und die sich jetzt unter dem Druck der neuen Verhältnisse von ihnen zu befreien suchen, in oft qualvolle Orientierungsnöte stürzen.

II. Existenz und Stellenwert mentaler Orientierungsnöte im Transformationsprozeß

Sicher ist vielen Ostdeutschen vorzuwerfen, daß sie mit der „Wende in der Wende“ insgeheim auf die Karte „Anschluß ohne Anpassung“ oder den Joker „der Kanzler wird’s schon richten“ setzten und sich jetzt nicht wundern dürfen, wenn ihnen nun die Rechnung präsentiert wird. Allein, damit ist wenig gewonnen, denn zahlen müssen alle, Neu-und Altbundesbürger.

Nun, da der Anschlußprozeß mehr und mehr die Alltagswelten der Menschen erfaßt, sind die fälligen Anpassungsleistungen zu erbringen und die daraus zwangsläufig resultierenden Orientierungsnöte zu bewältigen. Derer gibt es viele. Auf den ersten Blick scheint die Schwierigkeit „nur“ darin zu bestehen, daß es viel Neues in kurzer Zeit zu erlernen und sehr Schmerzhaftes zu verkraften gilt. Das tieferliegende Problem besteht jedoch darin, wie alle diese Anforderungen wahrgenommen und verarbeitet werden und nach welchem Modus ihnen ganz, teilweise, formal oder gar nicht entsprochen wird. Anders und zugespitzt gefragt: Besitzen die Menschen einen sozial erworbenen Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmechanismus, der ihnen ihre neue Welt systematisch verzerrt codiert, so daß es zwangsläufig zu fehlerhaften Anpassungsleistungen kommt? Gibt es also Orientierungsnöte, die nicht primär aus den neuen Umfeldanforderungen, sondern vor allem aus den alten habituellen Dispositionen resultieren? Und -welchen Stellenwert besitzen diese mentalen Orientierungsnöte? 1. Die Existenz mentaler Orientierungsnöte:

Zwei Geschichten und ein Befund Die Existenz mentaler Orientierungsnöte möchte ich exemplarisch anhand zweier Geschichten illustrieren. Die erste ist der „Weltbühne“ entnommen. Die Botschaften dieses „Im Geldstromland“ betitelten, knapp eineinhalbseitigen Beitrages lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Im Geldstromland ist es kalt... Keine Widerrede jetzt. Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will. Sonst kommen wir nie ins Geldstromland ... Wir lernen unsere Ellenbogen zu gebrauchen ... Ellenbogen machen den Menschen zum Menschen ... Jetzt kommt die Kopfwäsche ... Ohne Kopfwäsche kommt keiner ins Geldstromland ... Die Ellenbogen, Junge, die Ellenbogen. Benutze sie... Mit den Beinen treten! Treten! Pap! Mund zu! Die Hände! Um dich schlagen. Du mußt um dich schlagen.“ Die zweite Geschichte erzählte mir ein früherer DDR-Bürger: Da ist ein kleiner Ort mit einer Arbeitslosenquote von über 30 Prozent, Tendenz steigend. Eine Einrichtung wird abgewickelt. Ein Teil der Küchenkräfte erhält neue, zunächst auf zwei Jahre befristete Arbeitsverträge. Sie werden von ihren Ost-und West-Vorgesetzten über Monate erfolglos gebeten, ihren gewohnten Arbeitsstil (keine Kalkulation, niedrige Arbeitsintensität, lange Pausen usw.) zu ändern. Reaktion der Küchenkräfte: „Mensch gehen die uns auf den Wekker. Wenn nicht bald damit Schluß ist, kündigen wir, dann werden die sich aber ganz schön wundern.“ Dem Augenschein nach handelt es sich um zwei diametral entgegengesetzte Anpassungsleistungen. Es sieht so aus, als würde im ersten Fall auf eine radikale Änderung gesetzt, im zweiten muß eine unerschütterliche Konstanz der antrainierten Verhaltensmuster angenommen werden. Doch der Schein trügt. Beide Anpassungsstrategien weisen mindestens drei Gemeinsamkeiten auf: Erstens entspringen beide derselben bipolaren realsozialistischen Weitsicht, in der sich einerseits in der roh-kapitalistischen, kalten und brutalen bundesdeutschen Gesellschaft grundsätzlich und ausnahmslos alles nur ums Geld dreht, während sich in der Welt, in der man selber lebt, gefälligst alles -koste es was es wolle -um einen selbst zu drehen hat. Zweitens handelt es sich bei beiden Strategien um Fehlwahrnehmungen von und Fehlanpassungen an sozialmarktwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Gesellschaftsstrukturen. Drittens ist beiden Geschichten eine persönliche Orientierungsnot der Akteure abzulesen: Sie spüren den Anpassungsdruck, merken, daß ihnen nicht nur partielle, sondern irgendwie tiefergehende Verhaltensänderungen abgefordert werden, sind betroffen und verunsichert, können dieses diffuse „Irgendwie" nicht näher ausmachen, suchen sich zu orientieren und schlagen schließlich eine Richtung der Verhaltensänderung ein, gegen die sich alles in ihnen sträubt und von der sie im Grunde genommen hoffen, daß sie sie nicht wirklich bis zum bitteren Ende auszuschreiten brauchen.

Es ließe sich einwenden, daß die beiden vorgestellten Haltungen Extrempositionen darstellen, die so nicht mehrheitlich vertreten werden. Ein solcher Vorwurf ist insofern berechtigt, als es in der Tat absurd wäre, allen Neubundesbürgern mentale Orientierungsnöte auf dieser Niveauebene zu unterstellen. Er verstellt indes den Blick für die tatsächliche Dramatik der Situation, wenn daraus der Schluß gezogen wird, auf anderen Niveauebenen gäbe es derartige Orientierungsnöte nicht. Sicher werden die Symptome wechseln und die Erscheinungsbilder andere sein; es ist jedoch zu vermuten, daß auch diesen Orientierungsnöten ein strukturell ä• hnlicher Konflikt zugrunde liegt. 2. Der Stellenwert mentaler Orientierungsnöte:

Eindeutige Indizien und offene Fragen Expertendiskussionen liefern eindeutige Indizien, die es dringend geraten erscheinen lassen, den Stellenwert der mentalen Orientierungsnöte nicht zu unterschätzen. So verweisen beispielsweise Beratungsfirmen in ersten Zwischenbilanzen zur wirtschaftlichen Transformation in den fünf neuen Bundesländern darauf, .. daß noch heute die subjektive Einschätzung über die aktuelle Situation der Betriebe häufig von überzogenen Erwartungen geprägt ist“ McKinsey & Company beklagen, „... daß die vorgelegten Unternehmenskonzepte in der Regel noch unzureichend sind und einen klaren Weg hin zur Wettbewerbsfähigkeit zumeist noch nicht weisen“ Was in diesen moderat formulierten Einschätzungen anklingt, wird an anderen Stellen ohne große Umschweife auf den Begriff gebracht: Nach Helmut Schmidt habe man in allen osteuropäischen Staaten „einfach keine Leute, die nur die geringste Ahnung vom Geschäft haben“. Andre Leysen sieht dies ähnlich. Er plädiert dafür, „... eine unternehmerische, eine Management-Elite aufzubauen“. Der Aufsichtsratsvorsitzende von Agfa-Gevaert und Mitglied des Verwaltungsrates der Treuhandanstalt erklärt gar „die vollkommene Umgestaltung der Mentalität der Menschen“ zur drittwichtigsten Transformationsaufgabe Noch weitaus dramatischer schätzt der Schewardnadse-Berater Sergej Tarassenko die Situation ein: „Ihr müßt uns erziehen...“, erklärt er gegenüber dem ZEIT-Korrespondenten Christoph Bertram. „Ausländer können uns noch etwas beibringen. Wir selbst sind alle politisch, ethnisch abgestempelt.“

Nun mag man dieses primär aus einer alltags-praktisch-engagierten Teilnehmerperspektive entwickelte Bild für allzu düster gezeichnet halten, dennoch sollte der Versuchung widerstanden werden, die Indizien umstandslos ad acta zu legen. Auch aus der vergleichweise distanzierten sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive wurde das Beharrungsvermögen mentaler Dispositionen des Realsozialismus in den letzten Jahren immer wieder thematisiert

Als problematisch erweisen sich Prognosen über das Ausmaß dieses Beharrungsvermögens. Weitgehende Einigkeit besteht zunächst sicher darin, daß der Realsozialismus in den Menschen „Spuren in Gestalt von Dispositionen, mentalen Gewohnheiten, Interessen hinterlassen“ hat. Insbesondere jene gesellschaftlichen Strukturen, „die sich in den Arbeitsrhythmen, der alltäglichen Erfahrung der Arbeitsverhältnisse, der Wohnung, der öffentlichen Verkehrsmittel, der Gesundheit etc. niederschlugen, (können) nicht ohne Wirkung auf die Psyche der Menschen bleiben...“ Unstrittig dürfte ferner sein, daß die diesem Gesellschaftssystem angepaßten Dispositionen „in einem anderen sozialen und ökonomischen Kosmos vollkommen dysfunktional werden“ können. Offen hingegen sind Fragen wie die folgenden: a) Worum handelt es sich bei diesen realsozialistischen Dispositionen konkret, was hat man sich darunter im einzelnen vorzustellen? b) Wie stark sind diese mentalen Gewohnheiten, wie tief sind sie in den Menschen verankert? c) Warum kollidieren sie mit dem westlichen Wirtschafts-und Gesellschaftssystem, worin bestehen exakt die Differenzen zu dessen habituellen Strukturen und wie groß sind sie? d) Inwieweit und inwiefern werden die realsozialistischen Dispositionen durch den gesellschaftlichen Transformationsprozeß beeinflußt?

Diese Fragen sind schwer zu beantworten, wenn man sich nicht damit begnügt, den Stellenwert realsozialistischer Dispositionen trivial zu bewerten oder diese simpel zu vermessen.

III. Eine mögliche Alternative zu trivialen Bewertungen und simplen Vermessungen

1. Die trivialen Bewertungen: „Kühlschrank“ * und „Fusions“ -Theorie In bezug auf den Stellenwert der in einem jahre-, oft jahrzehntelangen Prozeß sozial erworbenen und verinnerlichten Wahmehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster lassen sich -idealtypisch -zwei triviale Bewertungen ausmachen, die sich grob vereinfacht wie folgt skizzieren lassen: Der erste stützt sich auf eine „Kühlschrank“ -Theorie. Es wird davon ausgegangen, daß die ostdeutsche Bevölkerung vierzig Jahre in einer Gesellschaftsordnung eingefroren war. Folgerichtig ergibt sich der Schluß, daß die den Menschen anhaftenden realsozialistischen Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster eine Art Eispanzer darstellen, der nun im belebenden Feuer der gesamtgesellschaftlichen, insbesondere sozialmarktwirtschaftlichen Restrukturierung zügig in wenigen Jahren dahinschmelzen wird. Es ist dies die Bagatellisierung der habituellen Dispositionen.

Die zweite triviale Bewertung stützt sich auf eine „Fusions“ -Theorie. Es wird unterstellt, daß sich die realsozialistischen Wahmehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster so weit und tief in die Persönlichkeitsstrukturen jedes einzelnen Realsozialisten hineingefressen haben, daß deren soziale Zerfallszeit unter allen Umständen größer ist als die individuelle Lebenszeit der Menschen. Die praktische Schlußfolgerung lautet: Um sich vor diesen Mustern zu schützen, muß man sich vor den Menschen schützen, die sie in sich eingewoben haben. Es ist dies die Dramatisierung der habituellen Dispositionen.

Beide Theorien und die daraus resultierenden Bewertungen basieren auf dem gleichen Theorem, nämlich einem „Omnipotenz-Resistenz“ -Axiom: Das westliche Wirtschafts-und Gesellschaftssystem ist entweder so allmächtig, daß es die dysfunktionalen Dispositionen auflöst und systemadäquate neue erzeugt, mindestens jedoch so stark und stabil, daß es sich durch diese Dispositionen nicht deformieren läßt. Das ist ein vielleicht beruhigendes, aber dennoch überprüfungsbedürftiges Theorem.

Folgt man den trivialen Bewertungen des Stellenwerts mentaler Dispositionen, dann hat sich das zuvor skizzierte Fragenfeld als praktisches Problem erledigt. Es besteht kein Handlungsbedarf, weil im ersten Fall nichts getan werden muß und im zweiten Fall nichts getan werden kann. Folgt man diesen Bewertungen nicht, stellt sich die Frage, wie sich die mentalen Dispositionen vermessen lassen. 2. Die simplen Vermessungen: Grobe Optik und problematische Blickverengung Die Versuchung liegt nahe, sich bei der Vermessung konzeptioneller Koordinatensysteme zu bedienen, deren Standardtyp aus drei Achsen besteht. Sie definieren sich polar, und zwar die gesellschaftstypologische über „vormodern“ -„modern“, die politische über „Diktatur“ -„Demokratie“ und die ökonomische über „Plan“ -„Markt“. Durch diese Optik werden zwei bis in die letzte Nuance gegensätzliche Welten sichtbar: Die real-sozialistische ist vormodern, diktatorisch und planwirtschaftlich, die westliche demgegenüber in allen ihren Teilen modern, demokratisch und marktwirtschaftlich verfaßt.

Eine derart grobe Optik führt zwangsläufig zu problematischen Blickverengungen. Erstens wird sie den tatsächlichen Verhältnissen nur bedingt gerecht, denn in die modernen oder postmodernen Gesellschaften -um mich einmal dieses umstrittenen Begriffs zu bedienen -ragt beispielsweise auch noch ein gutes Stück Vor-beziehungsweise Gegen-moderne hinein Zweitens -und dies ist für das hier diskutierte Problem noch entscheidender -sind aus diesem Blickwinkel die tatsächlichen und alltagspraktisch gravierenden Differenzen in den mentalen Dispositionen zwischen Alt-und Neu-bundesbürgern nur ungenau auszumachen.

Das skizzierte Vorgehen kann zudem kuriose Täuschungen und gefährliche Enttäuschungen produzieren. Das wird etwa dann der Fall sein, wenn das unter dem Gesichtspunkt der Medien-und Öffentlichkeitswirksamkeit gern verwendete grobe Raster, Markt hier -Plan dort zur Folie von Vermessungen wird. Ganz abgesehen davon, daß es sich bei westlichen Wirtschaften nicht um reine Markt-, sondern um mixed-economys handelt, in deren markt-und nichtmarktförmig regulierten Bereichen dem Planungshandeln eine zentrale Bedeutung zukommt, könnten sich West-und Ostdeutsche sehr leicht zu dem Schluß verführen lassen, in der Ex-DDR gäbe es eine beachtliche Planungskompetenz. Es ist jedoch in Zweifel zu ziehen, daß es in den neuen Bundesländern viele Menschen gibt, die aufgrund ihrer Tätigkeit in den realsozialistischen Planungsapparaturen ein großes Arsenal an diesbezüglichen Strategien, Techniken, Methoden und Erfahrungen angehäuft haben, über das sie nun souverän verfügen können. Eine solche Annahme erschiene mir nicht zuletzt aufgrund eigener Erfahrungen vor, in und nach der legendären Herbst-Wende 1989, gelinde gesagt, etwas gewagt 3. Eine mögliche Alternative: Erfüllungsund Anforderungsprofile Zweifellos kann und muß die Problematik der mentalen Orientierungsnöte von unterschiedlichen Standpunkten aus analysiert werden. Aus einem volks-und betriebswirtschaftlichen Blickwinkel betrachtet liegt es nahe, nach den Dispositionskosten des Transformationsprozesses zu fragen. Erstens kann keiner die Augen davor verschließen, daß der sozialpsychologische Faktor sehr wohl etwas mit wirtschaftlicher Effizienz, Gewinnen und Verlusten zu tun hat, zweitens bietet die Fragestellung die Chance, den mentalen Orientierungsnöten der Menschen alltagsweltlich auf einer sachlichen und problemorientierten Ebene zu begegnen, jenseits und gegenüber von westlicher Selbstgerechtigkeit und östlichem Selbstmitleid. Darüber hinaus erscheint mir eine solche Perspektive deshalb als dringend geboten, weil vieles dafür spricht, daß sich diese Frage nicht nur im Transformationsprozeß stellt, sondern daß Organisationen und Unternehmen künftig auf breiter Front mit dem Problem der habituellen Dispositionen ihrer Mitarbeiter konfrontiert werden. Ihre Leistungsfähigkeit wird wesentlich davon abhängen, ob sie dieses Problem wahrnehmen und welche Lösungspfade sie beschreiten

Während die Frage nach dem Zusammenhang von mentalen Dispositionen und volkswirtschaftlichen Strukturen auf der makrostrukturellen Ebene bereits von Max Weber und Werner Sombart diskutiert wurde sind konzeptionelle Überlegungen und empirische Untersuchungen, in denen diesem Problem systematisch auf der betrieblichen Ebene nachgegangen wird, bisher vergleichsweise dünn gesät. Es gibt jedoch erfolgversprechende Ansätze in dieser Richtung Insbesondere könnten sie es gestatten, das Problem der „Brüche“, also der Differenz zwischen den mentalen Dispositionen der Mitarbeiter und den Anforderungen des betrieblichen Handlungsraumes, präziser zu verorten. Das setzt voraus, daß zwischen subjektiv vorhandenen Erfüllungs-und objektiv bestehenden Anforderungsprofilen unterschieden und gefragt wird, inwieweit diese mentalen Profile nicht übereinstimmen, was getan werden muß, um sie möglichst schnell und verlustarm paßfähig zu machen und auf welchen kostengünstigsten Wegen dies geschehen kann. Die Frage nach der Herstellung einer weitgehenden Kongruenz zwischen habituellen Erfüllungs-und Anforderungsprofilen zielt mithin nicht auf einseitige, sondern auf wechselseitige Profilanpassungen, und zwar auf solche, die auf den mittel-und langfristigen Erfolg des Unternehmens ausgerichtet sind. Orientierungen in dieser Richtung werden auch von Unternehmensberatungsfirmen eingeklagt, die gemeinhin nicht im Verdacht stehen, mentale Faktoren in den Mittelpunkt ihrer Reorganisationsstrategien zu stellen

Wenn ich mich im folgenden bemühe, einige Schritte in dieser Richtung zu skizzieren, dann handelt es sich nicht um komplexe Analysen, sondern lediglich um den Versuch, den vorgeschlagenen Ansatz plausibel zu machen und solche Reorganisationsstrategien zur Diskussion zu stellen. Zunächst werde ich das Problem des allmählichen Zusammenwachsens und jähen Auseinanderbrechens von mentalen Erfüllungs-und Anforderungsprofilen in realsozialistischen Betrieben beispielhaft illustrieren, um dann nach den Spannungsfeldern zwischen bisherigen Erfüllungs-und neuen Anforderungsprofilen zu fragen.

IV. Entstehung, Entfaltung und Entfunktionalisierung realsozialistischer Dispositionen

1. Die Entstehung: Ein Ansatz -

Beziehungsarbeit und Beziehungsarbeiter Angesichts des katastrophalen Zustandes, in dem sich die DDR-Wirtschaft lange vor ihrem Zusammenbruch befand, ist zu fragen, wodurch sie eigentlich so lange zusammengehalten wurde. Es gab in dieser Gesellschaft etwas, das sie zusammenhielt und dennoch zersetzte, oder schärfer formuliert, das sie stabilisierte, indem es sie zunehmend erodierte. Es bestand in der Herausbildung und Entfaltung von Zwangskreisläufen der Beziehungsarbeit. Diese führten einerseits zu einer Entstrukturierung betrieblicher Handlungsfelder und andererseits zu einer Strukturierung realsozialistischer Dispositionen, und zwar so, daß sich beide Prozesse zunehmend wechselseitig stützten und vorantrieben.

Zunächst noch abstrakt kann Beziehungsarbeit wie folgt beschrieben werden: -Beziehungsarbeit kompensiert und generiert die Dysfunktionalität sozialer Handlüngsnetze, baut nicht auf stabil ausdifferenzierten, durch-und einsichtigen Handlungsstrukturen auf, sondern untergräbt und verschleiert diese systematisch.

-In ihr sind persönliche Beziehungen der primäre Maßstab für Ressourcenverteilungen, Konfliktregulierungen, Entscheidungsfindungen und Handlungsstrategien. -Durch sie ziehen sich Sachliches und Individuelles, Dienstliches und Privates, Emotionen und Positionen, betriebliche Situationen und volkswirtschaftliche Konstellationen zu einem unentwirrbaren Gordischen Knoten zusammen.

-Erfolg oder Mißerfolg, Sinn oder Unsinn eines eingeschlagenen Handlungspfades sind in der Beziehungsarbeit nicht an sachliche Kalkulation plus persönliche Intuition, sondern weitgehend an erfahrungsgewitztes Orakeln, an den seismographischen Spürsinn für unberechenbare Regelverschiebungen gebunden.

-Die Reichweite in den durch die Beziehungsarbeit entstrukturierten Handlungsräumen wird zusehends geringer. Da es immer weniger Schienen gibt, auf die sich irgendetwas setzen und anschieben ließe, lassen sich nur viele kurze Wege über längere Zeit und/oder wenige lange Wege über kurze Zeit beschreiten.

-In der Beziehungsarbeit wird die Stabilität elementarer betrieblicher Handlungsroutinen zunehmend an den augenblicklichen Gefühls-haushalt der Menschen und an die momentanen Sympathie/Antipathie-Balancen zwischen Personen gekoppelt. 2. Die Entfaltung: Ein Beispiel -

Chaosqualifikation und Engpaßkommandeure Der Zustand der stofflich-gegenständlichen Produktionsbedingungen, die sich in weiten Bereichen der DDR-Wirtschaft seit Ende der siebziger bzw. Anfang der achtziger Jahre immer spürbarer, ja geradezu dramatisch verschlechterte, war für die Menschen, die sich in diese Bedingungen gestellt sahen, eine Quelle vieler Ärgernisse, wachsender Belastungen und ständiger Klagen. Nicht wenige Westdeutsche, die erstmals mit diesem Zustand konfrontiert wurden, waren sprachlos, und nicht selten entsetzt: Dreck, Unordnung, zerfallende Gebäude, chaotische Fertigungsabläufe, verbaute Produktionshallen, verschlissene Maschinen, fehlende Ersatzteile, stockende Materialflüsse, schlechte Materialqualität, schlampig ausgeführte Reparaturen ... Wie ließ sich unter solchen Bedingungen überhaupt etwas produzieren? Das düstere Bild scheint eindeutig. Dennoch hatte es eine lichte Kehrseite, die westlicherseits nur allzuleicht und östlicherseits nur allzugern übersehen wird. a) Chaosqualifikation und Engpaßkommandeure Die skizzierten katastrophalen Bedingungen waren keineswegs nur eine Bürde. Wer tagein, tagaus unter solchen Verhältnissen arbeitete, erwarb gratis ein Gut, dessen Wert sich schwerlich unterschätzen läßt: Er häufte Chaosqualifikation an. Diese Qualifikation konnte ihm niemand nehmen. Sie war mit seiner Person verwachsen und nicht objektivierbar. Er konnte monopolistisch über sie verfügen. Ein Maschinenfahrer wußte, wo eine Schraube festzuziehen, ein Meßinstrument abzuklemmen und ein Klotz unterzuschieben war, damit seine verrottete Anlage schneller lief. Er kannte die Tricks, wie sich auch mit Grund-materialien, die aus Qualitätsgründen gesperrt waren, im Ernstfall noch halbwegs akzeptabel produzieren ließ. Ihm blieb nicht verborgen, welcher Handwerker willens und in der Lage war, eine Reparatur gründlich auszuführen und wer bei einem Maschinendefekt rat-und hilflos in das Museumsstück schaute. Er wußte, wie und wo man sich stille Materialreserven anlegen konnte, die niemand zu Gesicht bekam und auf die sich zurückgreifen ließ, wenn einmal Not am Mann war. Die Erfahrung sagte ihm, wie sich in einem allgemeinen Tohuwabohu ein eklatanter Bedienungsfehler verbergen und in den Sand gesetzte Produktion unauffällig zur Seite schaffen ließ.

Dem Maschinenfahrer stand es frei, von seiner Chaosqualifikation Gebrauch zu machen oder es sein zu lassen. Wer hätte sie ihm abpressen können? Die Diplomingenieure und Fertigungstechnologen, die Gruppen der Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (WAO) oder etwa gar die Leiter? Lächerlich. Sie alle waren herzlich eingeladen, ihm seine Maschine vorzufahren, ihm vor Ort zu demonstrieren, wie sich unter den gegebenen Bedingungen mehr aus der Anlage herausholen ließ: Warum es dort plötzlich so knirrscht? Keine Ahnung. Weshalb die Meßinstrumente nicht funktionieren? Wenn man das nur wüßte. Ebensooft wie erfolglos hatte man diesen Mißstand seit Monaten reklamiert. Wo sich schnell mal eine andere Materialcharge auftreiben ließ? Gern würde man helfen, aber allwissend sei man bedauerlicherweise nicht.

Bockbeinig und unkooperativ stelle man sich an, denn sonst würde es doch auch irgendwie gehen. Freilich ginge es sonst irgendwie, aber eben nicht so, wie sich das die Studierten an ihren grünen Tischen ausdachten und dem kleinen Mann immer wieder weiszumachen versuchten. Entweder zeigte man ihm, wie es besser ginge, oder man ließ ihn gewähren. Und wenn es mit der ewigen Besserwisserei nicht endlich ein Ende hätte, dann würde man halt, so leid es einem tut, Dienst nach Vorschrift machen müssen, und zwar nach den Vorschriften der Superschlauen. Und was das bedeutete, könne sich ja jeder an seinen eigenen fünf Fingern abzählen, auch die Herren Ingenieure.

Die gratis erworbene Chaosqualifikation war in soziales Kapital umgeschlagen. Je miserabler die Produktionsbedingungen, desto mehr spezielles Erfahrungswissen war vonnöten, um die Produk9 tion aufrechtzuerhalten und desto weniger war das Wissen wert, das sich andere an Fach-und Hochschulen, an Universitäten und in Weiterbildungslehrgängen aneigneten. Waren diese Bedingungen nur schlecht genug, die Chaosqualifikation folglich besonders groß, war dieses Wissen nichts mehr wert.

Jede technische Lösung ist an Randbedingungen gebunden. Lassen sich diese alltagspraktisch nicht realisieren, wird. die Lösung obsolet und die, die an ihr gearbeitet haben, werden faktisch überflüssig. Ihre Handlungsfelder sind entstrukturiert: -Technologen erarbeiten Fertigungsvorschriften, die sachlich-gegenständlich nicht eingehalten werden können und/oder deren Einhaltung aufgrund der als soziales Kapital eingesetzten Chaosqualifikation nicht durchgesetzt werden kann.

-Mitarbeiter der WAO stellen Normen auf, die nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben werden, denn darüber, ob sie zu hoch oder zu niedrig sind, können einzig und allein nur die kompetent entscheiden, für die sie gemacht sind. -Elektroniker entwickeln ein neues Meßgerät, das schon ein totgeborenes Kind ist, bevor es den Staub der Produktionshalle erblickt. Es wird abgeschaltet werden, um Planrückstände auf-oder überzogene Pausenzeiten wieder reinzuholen.

Ganze Berufsgruppen werden also mehr oder weniger entprofessionalisiert. Als Vertreter ihrer Zunft oder als Mitarbeiter eines Fachdirektorats wird ihnen wenig Anerkennung gezollt. Nachgefragt werden nicht ihre systematisch erworbenen Wissensbestände, sondern lediglich jene Segmente derselben, die sich als Chaosqualifikation oder im Kampf mit ihr verwerten lassen.

Der desolate Zustand der Arbeitsbedingungen blieb nicht nur auf die unmittelbare Produktion beschränkt. Davon waren in dieser oder jener Form nahezu alle Arbeitsplätze betroffen -ob durch nicht vorhandene Telefonanschlüsse oder defekte Schreibmaschinen, fehlende Formblätter oder undurchsichtige Belegdurchläufe, kaputte Tischrechner oder mangelnde Werkzeugverfügbarkeit. Vor diesem Hintergrund läßt sich vielleicht erahnen, welches Ausmaß die Chaosqualifikation in der DDR hatte. Je mehr sich die stofflich-gegenständlichen Bedingungen verschlechterten, desto bedeutsamer wurde dieses allerorten im Betrieb vorhandene Wissen und desto produktionsentscheidender wurden die persönlichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Trägern der Chaos-qualifikation. Fehlte Material, so mochten sich die Vorgesetzten noch so sehr in ihren Hierarchiemühlen abstrampeln, besser war es, gute persönliche Beziehungen zu den Fahrern des Materials zu unterhalten. Ein verständnisvoller Plausch, ein heißes Käffchen oder eine kleine Gefälligkeit taten oft Wunder. Maschinenstillstände über die offiziellen Kanäle zu signalisieren war zwar notwendig, aber längst nicht hinreichend. Legte etwa ein Produktionsdirektor darauf Wert, daß die Anlage möglichst schnell wieder in Betrieb ging, empfahl es sich, die entsprechenden Handwerker unverzüglich persönlich aufzusuchen. Halfen weder sachliche Erklärungen noch finanzielle Versprechungen, weder Gejam-/mer oder Gezeter, blieb noch ein allerletzter Trumpf: „Komm Mensch, sei kein Frosch, mach’s doch wenigstens für mich.“ Hier schlug die Stunde der Wahrheit. Jetzt, keine Struktur im Rücken, bar jeder Sanktions-und Anreizchancen, gleichsam nackt, zeigte sich die wahre Stärke der Beziehungsarbeit. Nun entschieden nur noch die unmittelbaren Sympathie-beziehungsweise Antipathie-gefühle über den Ausgang der Verhandlung. Nichts stand mehr zwischen den Menschen, keine Notwendigkeit, kein Geld, keine Hierarchie. Die Marxsche Vision vom Verein freier Menschen, deren einzige Sprache die ihrer momentanen sinnlich-vitalen Bedürfnisse ist hatte sich auf eigentümliche Art und Weise alltagspraktisch erfüllt.

Zwar führte die Beziehungsarbeit zu erheblichen psychischen Belastungen, aber dabei darf nicht das Moment der psychischen Entlastung übersehen werden. Die meisten Menschen genossen in dieser oder jener Form in ihren Alltagswelten stets auch die Privilegien des Beziehungsadels: Beinahe jeder besaß Chaosqualifikation, die er als soziales Kapital fungieren ließ. Die Wirtschaft des zirkulierenden Mangels versetzte irgendwann jeden einmal auf den Posten eines Engpaßkommandeurs. Buch-und Autohändler, Kellner und Verkäuferinnen, Ersatzteil-und Urlaubsplatzverwalter -um nur einige Beispiele zu nennen -wurden durch strukturelle Mängel gar in den Rang von Königen erhoben. b) Entlastung durch Fremdzuweisung von Selbstversagen und Eigenverantwortung Den Beziehungsarbeitern eröffnete sich noch auf einer ganz anderen Ebene die Chance systemati-scher Entlastung -der der Fremdzuweisung von Selbstversagen und Eigenverantwortung. Das Wissen darum, mit welchen Belastungen die Wahrnehmung auch minimaler Verantwortung in entstrukturierten Handlungsfeldern verbunden war, der mangelnde finanzielle Anreiz, dies zu wollen, der fehlende normative Druck, dies zu müssen und die stets vorhandene Möglichkeit, dem ausweichen zu können, führten zu einer großen emotionalen Reserve gegenüber den verschiedensten Formen persönlicher Verantwortung -einschließlich und vor allem der Verantwortung gegenüber sich selbst: Für gute Zensuren waren die Lehrer, für hervorragende Prüfungsergebnisse die Professoren, für die eigene Gesundheit die Ärzte, für das tägliche Wohlbefinden das Kollektiv, für ausreichende Urlaubsplätze die Gewerkschaft, für den richtigen Kurs die Partei und für die soziale Sicherheit der Staat verantwortlich.

Indem die Menschen in ihrer Rolle als Beziehungsarbeiter einerseits tagtäglich von dieser Form der Arbeit profitierten, andererseits die ihnen aufgebürdeten psychischen Belastungen durch die Fremdzuweisung von Selbstversagen und Eigenverantwortung an die soziale Umwelt (über) kompensierten, fiel es ihnen zunehmend schwerer, sich selbst gegenüber eine realistische Haltung zu entwickeln. Ihre Persönlichkeit geriet ihnen doppelt aus dem Blick. Den individuellen Stärken und Schwächen, dem eigenen Vermögen und Unvermögen fehlte es an Objektivierungschancen. Man unterhielt ein hypothetisches Verhältnis zu seinem Ich: „Wenn ich nur dürfte, wie ich wollte, dann würde ich.. Dieser konjunktive Selbstbezug verschaffte nicht nur Genugtuung, ihm fehlte es auch nicht an Objektivierungsmöglichkeiten, denn fast alle erzählten sich wechselseitig diese Geschichten. 4 Je mehr die Zwangskreisläufe der Beziehungsarbeit eskalierten, desto mehr distanzierte man sich von den Umständen, unter denen man agierte, und den Menschen, mit denen zu leben man sich gezwungen sah. Das Selbstwertgefühl stieg, die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen wuchs, und die Bereitschaft, durch das eigene Arbeitsverhalten dem Verfall der Alltagswelten entgegenzuwirken, sank. Es wurde im wahrsten Sinne des Wortes zunehmend gleichgültig, ob man sich engagierte oder nicht. Weder die eine noch die andere Handlungsstrategie veränderte die eigene soziale Lage oder sprengte die gordischen Knoten der Beziehungsgeflechte, in die man tagtäglich eingebunden war. Man identifizierte sich immer weniger mit seinen traditionellen Anpassungsleistungen.

Wenn es ein Wir-Gefühl gab, das die Menschen im wachsenden Maße miteinander verband, dann war es der Wunsch, der individuellen Perspektivlosigkeit und den wechselseitigen Verhaltenszumutungen ein Ende zu setzen, um endlich jene Rolle spielen zu können, die einem nach dem eigenen Selbstwertgefühl zuzukommen schien. Drastisch zugespitzt: Der harte Kern dieses Wir-Gefühls bestand darin, es nicht mehr so wie bisher miteinander aushalten zu müssen. Diese Erosion des Realsozialismus im allgemeinen und seiner betrieblichen Strukturen im besonderen griff seit Anfang der achtziger Jahre zunehmend Raum und machte auch vor den Funktions-und Herrschaftseliten nicht halt. Sie erfaßte sämtliche Apparaturen der Macht. Aus Partei, Staat, Gewerkschaft, Jugendverband und Massenorganisationen, aus all den Herrschaftsinstitutionen, die in jeden realsozialistischen Betrieb hineinragten, wichen Begeisterung und Geist.

Das Rückgrat der Macht faulte von innen her weg und wurde im wachsenden Maße nur noch von den Beziehungsgeweben der Menschen abgestützt, deren Tragfähigkeit von ihren wechselseitigen Sympathie-und Antipathiegefühlen abhing. Wann immer es die Mächtigen unternahmen, dieser um sich greifenden Ent-Objektivierung des Sozialverkehrs durch einen harten Kurs entgegenzusteuern, beschleunigte dies die multiple Sklerose des realsozialistischen Gesellschaftskörpers. Die institutionellen Verhärtungen beschleunigten die Aufweichung der Beziehungsgewebe und umgekehrt. Je weiter dieser Prozeß um sich griff, desto geringerer Anlässe bedurfte es dafür, daß die schleichende Erosion in eine plötzliche Implosion der Verhältnisse umschlug. * 3. Die Entfunktionalisierung: Ein Ergebnis -

Strukturbrüche und Orientierungsnöte Dieser Implosionsprozeß fiel in der Ex-DDR mit den Feierlichkeiten zu ihrem vierzigsten und letzten Jahrestag zusammen und zeichnete sich durch eine Reihe von Zwangskreisläufen aus.

Einer dieser Zwangskreisläufe setzte dort ein, wo die Menschen -wenn auch mehr ihrem sicheren Instinkt als einer klaren Programmatik folgend -die Auflösung der Institutionen und Organisationen treffsicher vorantrieben. Gleichermaßen angespornt von der Angst, die Strukturen von Partei und Sicherheitsapparat, Staat und Gewerkschaft könnten sich restaurieren, wenn sie nicht ein für allemal zerschlagen würden, und dem Mut, der aus den unvorstellbaren, aber handgreiflichen Erfolgen bei der Auflösung dieser erodierten Macht-Organe erwuchs, stieg das Selbstvertrauen, immer neue und weitergehende Forderungen zu erheben und über deren Durchsetzung zu wachen. Die Ergebnisse sind bekannt: In nur wenigen Monaten zerfiel ein Machtmechanismus, den man bis dahin für unüberwindlich hielt.

Die unbeabsichtigte, aber zwangsläufige Folge dieses eskalierenden Prozesses kam den Menschen erst spät, langsam und schmerzhaft zu Bewußtsein. In dem Maße, wie sich auf nahezu allen Ebenen der Gesellschaft die formellen Beziehungsgeflechte auflösten, verloren sie auch ihre traditionelle soziale Kompetenz. Die zuvor überlebenswichtigen Beziehungen zu Ministerien oder Bezirksleitungen hatten über Nacht ihren Wert verloren; das mühsam erworbene Erfahrungswissen darüber, wie man sich und das Unternehmen im Räderwerk von Planauflagen, Vorschauwerten, Meldungen und Kontrollen am Leben halten konnte, wurde nicht mehr abgefordert; die kunstvollen Techniken, sich um Versammlungen zu drücken, nichtssagende Leerformeln auf Schulungen herunterzubeten oder fiktive Verpflichtungen detailliert abzurechnen, waren nicht mehr gefragt; auch ein gut Teil arbeitsweltlicher Beziehungsarbeit entfiel. Die Beziehungsarbeiter hatten sich über Nacht wechselseitig entmachtet.

Doch nicht genug damit. Die Auflösung der formellen führte zwangsläufig auch zu einer Entfunktionalisierung der informellen Beziehungsgeflechte: Viele jener dienstlichen und privaten Beziehungskanäle, in die zuvor erhebliche Zeit und Energie investiert worden war, verloren ihren Sinn. Diese brachiale Entwertung des mit soviel Entbehrungen angehäuften sozialen Kapitals mußte zu Verunsicherungen führen. Die Orientierungslosigkeit wuchs. Der Wunsch nach Sicherheiten und Garantien, nach präzisen Verhaltens-vorgaben und eindeutigen Wegweisern durch den sozialen Handlungsraum wurde immer drängender. Um endlich wieder Boden unter die Füße zu bekommen, griffen die Menschen auf die alten Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster zurück.

So zwangsläufig und verständlich dieser Rückgriff im Einzelfall auch war, er führte, massenhaft vollzogen, zu einer Dysfunktionalisierung jener neuen sozialen Geflechte, die sich im Ansatz jenseits und gegenüber der traditionellen Beziehungsarbeit herausbildeten. Mit Runden Tischen war weder ein Staat zu machen noch ein Unternehmen zu leiten. Gestützt auf die mentalen Dispositionen des Realsozialismus ließ sich unter den veränderten objektiven Handlungsbedingungen keine neue soziale Kompetenz, geschweige denn Macht gewinnen. Die Kluft zwischen struktureller Wende und mentalem Wandel wurde zusehens größer. Die Losung, „soviel gesellschaftliche Änderungen wie möglich und sowenig individuelle Veränderungen wie nötig“, machte die Runde.

Die Logik des Selbstauflösungsprozesses ist fatal. Sie resultiert aus dem Doppelergebnis jahrzehntelanger Beziehungsarbeit, der Entstrukturierung der Handlungsfelder und der Strukturierung der mentalen Dispositionen: Die Entstrukturierung der Handlungsfelder führte dazu, daß den erodierten Institutionen des Realsozialismus kein neues Leben mehr einzuhauchen war. Gleichermaßen aufgeweicht durch Beziehungsarbeit und verknöchert durch Konservierungspraktiken, gab es, so wissen wir heute, keine Ansatzpunkte, diese Organe zu retten oder zu reformieren. Der Versuch, sie durch neue zu ersetzen, scheiterte an den mentalen Dispositionen der Beziehungsarbeiter, die nicht auf die zielgerichtete Strukturierung und Objektivierung, sondern auf Beziehungsarbeit, also auf eine systematische Entstrukturierung und De-Objektivierung des Sozialverkehrs ausgerichtet und abgestimmt waren.

Solcherart ohnmächtig, ein eigenes Gesellschaftsgebäude zu errichten, erschien der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland als gangbare Alternative. Aber es stellte sich sehr schnell Ernüchterung ein, war doch mit so großen und schmerzhaften Anpassungsproblemen nicht gerechnet worden. Verhaltensadaptionen fallen schwerer als ursprünglich gedacht: Neue soziale Fremd-und alte psychische Selbstzwänge entsprechen einander nicht mehr; eigenes Versagen läßt sich weit schwieriger institutionell oder personell zurechnen; es bedarf einer größeren alltagsweltlichen Rechenhaftigkeit, Planungskompetenz und Kalkulationsfähigkeit; die stummen Zwänge ökonomisierter und bürokratisierter Lebensvollzüge können nur sehr bedingt und nicht auf breiter Front durch Beziehungsarbeit abgeschwächt werden; der Gefühls-haushalt erfordert eine andere Bilanzierung und Regulierung.

Die Situation ist vertrackt: Jeder Beziehungsarbeiter sieht sich vor die Aufgabe gestellt, seine Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensoptik schrittweise neu zu justieren. Erfolge werden sich einstellen und Fehlschläge nicht ausbleiben. Wo sich die Erfolge häufen, wächst die Versuchung, die neuen Verhältnisse zu idealisieren. Wo die Fehlschläge kumulieren, droht die Gefahr, die alten Verhältnisse zu romantisieren. Das Problem besteht nun nicht nur darin, daß die Idea1 lisierungs-und Romantisierungstendenzen vielfach quer durch die bisherigen Beziehungsgeflechte laufen -durch alte Arbeitskollektive, Freundes-und Verwandtenkreise was zwangsläufig zu neuen Polarisierungen und Konflikten führt, sondern daß sie auch die Menschen selbst aufreißen und zwischen beiden Polen pendeln lassen. Im Extremfall schlägt Idealisierung in „Ossi“ -Haß, Romantisierung in „Wessi“ -Haß und das Pendeln zwischen beiden in Selbst-und/oder Gesellschaftshaß um. Es wäre dies die letzte Konsequenz des realsozialistischen Selbstauflösungsprozesses und es besteht kein Anlaß, sie abzuwarten.

V. Spannungsfelder zwischen neuen Anforderungs-und alten Erfüllungsprofilen

Alte entfunktionalisierte Erfüllungs-und neue alltagsweltliche Anforderungsprofile fügen sich nicht reibungs-, geschweige denn nahtlos ineinander. Dort, wo sie durch den Druck des Transformationsprozesses zusammengepreßt werden, entstehen Spannungsfelder. Vier dieser Felder möchte ich abschließend stichpunktartig umreißen: 1. Umpolungsorientierung versus Balancierungsdruck: Bestimmte Alltagswelten scheinen sich um 180 Grad gedreht zu haben, und die Erwartung liegt nahe, in diesen verkehrten Welten durch eine einfache Umdrehung oder Umpolung der gewohnten Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster wieder auf die Beine zu kommen und Tritt zu fassen. Doch dies erweist sich sehr schnell als folgenschwere Fehlorientierung, denn abgefordert werden nicht pauschale Umkehrungen, sondern differenzierte Umstrukturierungen und Neubalancierungen. Einige Beispiele mögen die damit verbundenen Schwierigkeiten veranschaulichen: Verkäufer, die bisher ihrer Kundschaft gleichgültig, herablassend oder demütigend gegenüber traten, werden sich wohl oder übel anderer Umgangsformen befleißigen müssen, doch hektischer Übereifer, angequälte Unterwürfigkeit und zur Schau getragene Selbsterniedrigung werden dem Geschäft auch nicht dienlich sein. Kunden, die sich bisher Verkäufern stets nur im Bittsteller-Gestus zu nähern wagten, spüren die Unsinnigkeit und Peinlichkeit ihrer Offerten, aber wenn ihnen ihr neues Selbstbewußtsein in blanke Unverschämtheit umschlägt, werden sie auch leer ausgehen. Mitarbeiter, die ihren Vorgesetzten stets mit unverholener Geringschätzung begegneten und es nie versäumten, Anweisungen lautstark zu kommentieren und nach eigenem Gutdünken zu sabotieren, merken, daß eilfertige Liebedienerei und widerspruchslose Befehlsausführung nicht überall hoch im Kurs stehen. 2. Freiraumhoffnung versus Einhegungszwänge: Den alten Zwängen und Verhaltenszumutungen entronnen, wagt der Neubundesbürger zögernd die ersten Schritte in der neuen Welt. Westlicherseits legt man ihm nahe, schneller auszuschreiten, um den lang ersehnten Freiraum nun auch nach Kräften zu nutzen. Doch dieser sieht, das muß er sehr schnell feststellen, anders aus, als er es sich gedacht hatte. Es gibt zwar unstrittig viele Freiräume, bedauerlicherweise aber auch genügend Einhegungen: Der Ex-DDR-Bürger macht erstmals mit Bürokratien im Weberschen Sinne Bekanntschaft, und das einzige, was ihm zu seinen kafkaesken Erlebnissen einfällt ist der Satz, „das ist ja schlimmer als bei uns“. Er ist gut beraten, sich zügig elementare buchhalterische Fertigkeiten zueigen zu machen und eingehenden Zahlungsaufforderungen weder gutgläubig noch saumselig Folge zu leisten. Neubundesbürgerinnen, die meinen, eine Abtreibungsentscheidung weiterhin nur mit sich, ihrem Partner und dem Arzt ausmachen zu müssen, werden durch Kirchen, Parteien und Abgeordnete eines anderen belehrt. Um teuere Überraschungen zu vermeiden, empfiehlt es sich ohnedies, Ehe-und Kinderwünsche weit mehr als bisher folgenbewußt durchzukalkulieren. Die Grenzen, in denen einem nun die verschiedenen Formen der Arbeitszeitvergeudung nachgesehen werden, sind anders und enger gezogen als im Realsozialismus. 3. Betreuungsanspruch versus Eigenverantwortungslast: Angesichts der dreifachen Differenz zwischen propagandistischen Verheißungen, real-sozialistischer Wirklichkeit und altbundesrepublikanischen Alltagswelten bedurfte es keiner besonderen Häme, um der Rede vom „Arbeiter-undBauern-Paradies“ einen ironischen oder zynischen Unterton zu verleihen. Völlig schief indes war dieses Bild nicht, denn mindestens in einer Hinsicht traf es DDR-Verhältnisse ziemlich genau, nämlich in bezug auf die Sorge um sich selbst. Diese Sorge wurde den Menschen abgenommen. Und hier kann dem Realsozialismus weder Ineffizienz noch Dysfunktionalität nachgesagt werden. Wenn auch sonst immer weniger zusammenspielte, bei der Entwöhnung von Eigenverantwortung griff alltäglich eins ins andere: die Blockierung von Entscheidungsspielräumen, das Aufbürden von Verantwor13 tung bei gleichzeitiger Verweigerung der Voraussetzungen, sie wahrnehmen zu können, die Möglichkeiten eigenes Versagen umstands-und folgenlos auf andere abzuwälzen, das Proklamieren und Reklamieren von kollektiver Verantwortung für das Denken und Handeln des einzelnen usw.

Die alltägliche und jahrelange Erfahrung, sein Ich stets anderen verdanken zu müssen oder es ihnen zurechnen zu können, schwächte systematisch die Eigenverantwortung und führte dazu, daß sich der Anspruch verfestigte, immer betreut, gegebenenfalls an die Hand genommen und auch dann nicht fallengelassen zu werden, wenn man eine mißliche Situation selbst verschuldet hatte. Dieser Anspruch kollidiert nun in den neuen Alltagswelten nicht nur mit der weitaus größeren Eigenverantwortungslast, sondern auch mit der Tendenz zur Überindividualisierung, die den Menschen die Selbstzurechnung von Versagen und Schuld auch da aufbürdet, wo die sozialen Strukturen, in die sie eingebunden sind, über das Ge-und Mißlingen von Laufbahnen und Zukunftsplänen entscheiden. 4. Differenzierungserwartung versus Differenzierungserfahrung: Durch ihren Eintritt in die Welt der Westdeutschen erhofften sich viele DDR-Deutsche nicht nur mehr Freiheiten und größeren Wohlstand, sondern vor allem auch soziale Differenzierungen. Aufgrund ihrer hypothetischen und tendenziell hypertrophen Selbstbezüge fühlten sie sich nicht nur dem Gesellschaftssystem, in dem sie lebten, sondern den meisten -im Extremfall allen anderen -Ost-Menschen gegenüber haushoch überlegen. Die Möglichkeit, eventuell selbst auf einen der unteren Rangplätze verwiesen zu werden oder gar die Gefahr, durch die Maschen des sozialen Netzes zu rutschen, sahen die meisten Ostdeutschen anfangs nicht: „, Wir haben schon immer produktiv gearbeitet, nur die Faulenzer werden sich umstellen müssen, hieß es in einem Fall explizit.“ Nicht wenige waren sich ihrer Sache sicher und meinten, das verdiente Nachsehen hätten nun die Heerscharen von Taugenichtsen und Wasserköpfen, die einem all die Jahre das Leben vergällt hatten und mit denen man sich wohl oder übel gemein machen mußte. Endlich ließ sich auf Distanz gehen: Schluß mit dem plump-vertraulichen „Du“, raus mit den „Assis“ (Asozialen), weg mit dem peinlich gestylten Trabant und kein Wort mehr von dem ganzen „Kollektivitätsgequatsche“. Man hatte es gründlich satt, mit seiner Hände Arbeit all die Drückeberger und Nichtskönner um einen herum weiter durchzufüttern. Gründlich Schlitten fahren würde „der Westen“ mit den Schmarotzern.

Zwei Fragen wurden im Differenzierungsrausch geflissentlich verdrängt, erstens, ob man nicht vielleicht selbst entprofessionalisiert, entdiszipliniert und entbehrlich ist, und zweitens, ob die wirtschaftliche Restrukturierung nur Faulenzer und Dummköpfe in den sozialen Abgrund reißt. Mit zunehmender Differenzierungserfahrung werden immer mehr Neubundesbürger über diese Fragen nachdenken müssen. Ob die Antworten individuell erträglich und sozial verträglich ausfallen, wird nicht zuletzt davon abhängen, inwieweit in den volks-und betriebswirtschaftlichen Transformationsprozessen mit den Dispositionskosten gerechnet wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Max Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatz-sammlung, Gütersloh 19816, S. 58.

  2. Einen repräsentativen Einblick in diesen Diskurs gewähren unter anderem Katharina Belwe (Hrsg.), Psycho-soziale Befindlichkeit der Menschen in den neuen Bundesländern nach der Wende im Herbst 1989. Pressespiegel, Bonn'1991; Katharina Belwe (Hrsg.), Befindlichkeit der Menschen in den neuen Bundesländern im ersten Jahr der deutschen Einheit (Teil II). Pressespiegel, Bonn 1991; Blätter für deutsche und internationale Politik, (1991) 11.

  3. Zu den problematischen Fehlwahrnehmungen vgl. Wolfgang Engler, Die beschwerliche Ankunft des Ostens im Westen, in: Frankfurter Rundschau vom 3. Januar 1992, S. 14; Eine Sammlung grotesk-bösartiger Fehlwahmehmungen findet sich in: I. Serwuschock/Ch. Dölle, Der BesserWessi, Leipzig 19912, das nur unter großen Vorbehalten als „WitzBuch“ bezeichnet werden kann: Wenn Witze Einblicke in kulturelle Besonderheiten eröffnen, dann tun sich mit dieser Sammlung finstere Abgründe auf.

  4. Vgl. Günter Gaus, Normal ist immer nur das jeweilige Wuppertal, in: Berliner Zeitung vom 15. /16. Februar 1992, S. 35.

  5. Vgl. Wolfgang Engler, Zivilgesellschaft und symbolische Gewalt, in: Kommune. Forum für Politik. Ökonomie. Kultur, 8 (1990) 12, S. 58ff.; Lutz Marz, Selbstaufgabe der Zivil-gesellschaft. Linksintellektueller Fremdenhaß in der neuen Bundesrepublik?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. (1990) 12, S. 1489ff.

  6. Vereinfachend gebrauche ich im folgenden die Begriffe „habituell“ und „mental“ synonym und verzichte auf eine Differenzierung, die den Rahmen dieses Beitrages sprengen würde. Zum „Habitus“ -Begriff und seiner Verwendung vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt/Main 1979; ders., Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1988; ders., Homo academicus, Frankfurt/Main 1988.

  7. Vgl. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt/Main 1992, S. 316ff.; Wolfgang Engler, Stellungen, Stellungnahmen, Legenden. Ein ostdeutscher Erinnerungsversuch, in: Rainer Deppe/Helmut Dubiel/Ulrich Rödel (Hrsg.), Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/Main 1991, S. 48ff.

  8. Peter Maiwald, Im Geldstromland, in: Weltbühne, 86 (1991) 43, S. 1334ff.

  9. Karl-J. Kraus, Die Sanierungswürdigkeit und -fähigkeit der ostdeutschen Wirtschaft. Ein Jahr nach der Wirtschaftsund Währungsunion (unveröffentlichtes Manuskript der Roland & Berger GmbH, International Management Consultants), 1991, S. 11.

  10. McKinsey & Company, Überlegungen zur kurzfristigen Stabilisierung und langfristigen Steigerung der Wirtschaftskraft in den neuen Bundesländern (unveröffentlichtes Manuskript), Düsseldorf-München 1991, S. 20.

  11. Vgl. Im Niemandsland zwischen Plan und Markt, in: Die Zeit vom 1. November 1991, S. 43, S. 45.

  12. Christoph Bertram, Die Rache des Dinosauriers, in: Die Zeit vom 15. November 1991, S. 4.

  13. Vgl. Igor S. Kon, Psychologie der Trägheit, in: ad libitum, (1989) 13, S. 334ff.; Wolfgang Engler, Diesseits der Differenz? Über spätsozialistische Verhaltensstile, in: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik, (1991) 1, S. 57ff.; Horst Kem u. a., Der „Wasserkopf“ oben und die „Taugenichtse“ unten. Zur Mentalität von Arbeitern und Arbeiterinnen in der ehemaligen DDR, in: Frankfurter Rundschau vom 13. 2. 1991, S. 16f.; Lutz Marz/Peter Pawlowski, Moderne (De-) Modernisierung? Über die Unmöglichkeiten einer sozialmarktwirtschaftlichen Reorganisation der neuen Bundesländer, in: Journal für Sozialforschung, (1990) 4, S. 396ff.

  14. Vgl. Pierre Bourdieu, Revolutionen, Volk und intellektuelle Hyberis. Ein Gespräch mit Armin Höher und Klaas Jarchow, in: Freibeuter, Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik, (1991) 4, S. 31.

  15. Ebd.

  16. Vgl. Ulrich Beck, Der Konflikt der zwei Modernen, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 25. Deutschen Soziologen-tages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt/Main-New York 1991, S. 44ff.; Wolfgang Engler, Der Wessi. Ein typologischer Versuch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1991) 11, S. 1316ff.

  17. Vgl. GIP (Gesellschaft für interdisziplinäre Praxis e. V.), BRD/DDR. Kulturen im Zusammenstoß. Tagung vom 6. -8. 12. 1991 in Köln; Die Zeit (Anm. 11), S. 41.

  18. Vgl. Lutz Marz, Der prämoderne Übergangsmanager. Die Ohnmacht des „realsozialistischen“ Wirtschaftskaders, in: Rainer Deppe/Helmut Dubiel/Ulrich Rödel (Hrsg.), Demokratischer Umbruch in Osteuropa, Frankfurt/Main 1991, S. 104ff.; ders., Paralysis in Times of Upheaval, in: Journal of General Management, 16 (1991) 3, S. lff.

  19. Erinnert sei hier nur an solche Stichworte wie „Individualisierung der Institutionen“, „normative Subjektivierung der Arbeit“ oder „multikulturelles Management“. Vgl. U. Beck (Anm. 16), S. 42ff.; Martin Baethge, Arbeit, Vergesellschaftung, Identität -Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in: W. Zapf (Anm. 16), S. 260ff.; Lutz Marz, Multikulturelles als leitbildorientiertes Management, discussion paper FS II 91-104, Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin 1991.

  20. Vgl. M. Weber (Anm. 1); Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München-Leipzig 1913.

  21. Vgl. Johanna Hofbauer, Der soziale Raum „Betrieb“. Zur Strukturierung der betrieblichen Sozialwelt aus der Sicht der Bourdieuschen Sozialtheorie, discussion paper FS II 92-201, Wissenschaftszentrum Berlin, Berlin 1991.

  22. Vglebd., S. 32.

  23. Vgl. McKinsey & Company (Anm. 10), S. 20, S. 33.

  24. Vgl. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Ergänzungsband, Erster Teil, Berlin 1973, S. 461 ff.

  25. Richard Rottenburg, „Der Sozialismus braucht den ganzen Menschen “. Zum Verhältnis vertraglicher und nichtvertraglicher Beziehungen in einem VEB, in: Zeitschrift für Soziologie, 20 (1991) 4, S. 314.

Weitere Inhalte

Lutz Marz, Dr. oec., geb. 1951; Studium und Promotion an der Humboldt-Universität Berlin; langjährige Tätigkeit in DDR-Kabelwerken, Bereich Produktion; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt Technik, Arbeit, Umwelt des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) für Sozialforschung. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit M. Dierkes und U. Hoffmann) Leitbild und Technik. Zur Entstehung und Steuerung technischer Innovationen, Berlin 1992.