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„Selbst-Unternehmertum“ und „Aufschwung Ost“ | APuZ 24/1992 | bpb.de

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APuZ 24/1992 Dispositionskosten des Transformationsprozesses Werden mentale Orientierungsnöte zum wirtschaftlichen Problem? Psychologische Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs in den neuen Bundesländern Ostdeutsche und Westdeutsche auf dem Prüfstand psychologischer Tests „Selbst-Unternehmertum“ und „Aufschwung Ost“

„Selbst-Unternehmertum“ und „Aufschwung Ost“

Thomas Koch

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wirtschaftlicher Aufschwung hängt auch von mentalen Voraussetzungen ab, die in dem Terminus „SelbstUnternehmertum“ gebündelt sind. In der unzureichenden Ausprägung dieser Fertigkeiten liegt der rationale Kem der oft vernichtenden Urteile über die mentale Mitgift der Ostdeutschen. Sie wird nicht selten als Grund für den schleppenden wirtschaftlichen Aufschwung angeführt. Bei einem Blick über die Bundesrepublik hinaus fällt allerdings die erstaunliche Vielfalt auf, mit der historisch gewachsene Mentalitäten und moderne marktwirtschaftliche Ordnungen konform gehen. Die mentale Mitgift der Ostdeutschen bietet das Bild einer Gemengelage verschiedener Mentalitäten. Selbst-Unternehmertum ist in mindestens drei der vorfindbaren Einstellungs-und Verhaltensmuster -in der industriegesellschaftlichen Disposition, in bürgerlichen Kulturmustern und in Restbeständen einer protestantischen Wirtschaftsgesinnung (Arbeits-, Berufs-und Leistungsethik) -eingebettet. Das in der DDR erworbene Verhaltensrepertoire der Menschen bietet mithin Anknüpfungspunkte, Modifikationsmöglichkeiten, Gründe, die die Option für einen „mentalen Brückenschlag“ favorisieren. Für diese Sicht sprechen nicht zuletzt Befunde über das Selbst-Unternehmertum abhängig Beschäftigter im Transformationsprozeß. Besonderes Interesse verdienen aber auch die „neuen Selbständigen“, die seit der „Wende“ sich etablierenden (Klein-) Untemehmer. Der Beitrag vermittelt erste Verallgemeinerungen und empirische Befunde über Herkunftswege und Kapitalausstattung (in ökonomischer und soziokultureller Hinsicht) sowie über Modi, mittels derer sie das Hineinwachsen in eine neue Sozialrolle wahrnehmen.

I. Vorbemerkungen

Nach Prognosen namhafter Institute für Wirtschaftsforschung wird es etwa zwanzig Jahre dauern, bis die Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands annähernd angeglichen sein werden. Den Abstand beider Teil-Volkswirtschaften voneinander verdeutlicht folgende Zahl: Der Anteil Ostdeutschlands (mit immerhin 20 Prozent der Bevölkerung) am Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik lag 1991 bei 6, 9 Prozent

Die neuen Länder hängen am Tropf, leben von teils direkten, teils indirekten Transferleistungen. Der ausbleibende oder allenfalls verhaltene wirtschaftliche Aufschwung provoziert die Suche nach Erklärungen, um die Lage zu wenden. Auf Tagungen und Kongressen, an Stammtischen und im deutschen Blätterwald ist gegenwärtig nicht nur vom Gewicht der Altlasten, ungeklärter Eigentumsverhältnisse, desolater Infrastruktur, unzureichend effizienter Verwaltung die Rede. In den Blick rücken auch mehr und mehr Barrieren, die tatsächlich oder nur vermeintlich in der Mentalität der Ostdeutschen liegen.

Der Begriff der Mentalität zielt weniger auf die -zumal in Zeiten des Übergangs -flüchtigen, wechselnden Einstellungen und Meinungen, sondern auf relativ stabile Dispositionen der Meinungs-und Verhaltensbildung. Wirtschaftlicher Aufschwung wie Niedergang gründen auf ein Zusammenspiel von objektiven wie subjektiven Momenten. Und nur wenn dieser Zusammenhang gewärtig bleibt, hat es Sinn herauszustellen, daß eine moderne Marktwirtschaft eben „nicht ohne eine , Infrastruktur von Institutionen und Mentalitäten“ gedeiht.

II. Mangel an „SelbstUnternehmertum“?

Über die Ostdeutschen ist zu vernehmen, sie hätten eine „Versorgungs-, Anspruchs-und Sicherheitsmentalität“. Sie seien in der DDR ihrer Initiative und Selbständigkeit beraubt worden. Es mangle an „Selbst-Unternehmertum“, mithin an entscheidenden mentalen Voraussetzungen wirtschaftlichen Aufschwungs wie sozial erfolgreichen Handelns: In der „... überregulierten und sicherheitsfixierten ehemaligen DDR (wurde) offenbar systematisch nicht gelernt..., sein Leben unter nur teilweise bekannten, wechselnden Bedingungen nach selbstgewählten Zielsetzungen zu gestalten, seinen Lebensweg selbst zu planen und sein Alltagsleben eigenständig zu organisieren. Nicht gelernt wurde das strategische Verfolgen eigener biographischer Ziele bei gleichzeitig flexiblem taktischen Einstellen auf Änderungen, das Ertragen oder gar das Nutzen von Ungewißheit, das Akquirieren von Kontakten und Gelegenheiten, das Vermarkten der eigenen Arbeitskraft, das . Selbst-Unternehmertum.“

In der unzureichenden Ausprägung dieser Fertigkeiten liegt der rationale Gehalt der sehr weitgehenden und oft vernichtenden Urteile über die mentale Mitgift der Ostdeutschen. Allerdings scheiden sich die Geister nicht nur in ihren Vorstellungen von den Dimensionen des Mangels an „Selbst-Unternehmertum“, sondern auch darin, wie und wodurch ihm abzuhelfen wäre. Auf der Ebene des Alltagsbewußtseins wie der Sozialwissenschaften stoßen wir auf zwei Grundmodelle: 1. Die Herausforderungen der Transformation sind nur zu bewältigen, wenn die alten Wahrnehmungs-, Denk-, Entscheidungs-und Verhaltensmuster der DDR-Gesellschaft überwunden werden -je eher und vollständiger, desto besser. 2. In den Verhaltensdispositionen der Ostdeutschen sind Modifikationsmöglichkeiten, Brücken angelegt, die die Menschen an jenes Verhaltensrepertoire heranführen, das sozial erfolgreiches Handeln verheißt.

III. Plädoyer für den „mentalen Brückenschlag“

In der Regel ist die Forderung nach möglichst raschem Heraustreten aus alten DDR-Verhaltens-mustern mit der Erwartung verbunden, daß sich die Neubundesbürger integrieren und assimilieren Dies liegt in der Logik des Beitritts der DDR nach Artikel 23 Grundgesetz. Dabei setzen die einen eher auf eine Schocktherapie. Andere halten es aber immerhin für nötig, den Menschen zumindest „zeitliche und organisatorische Brücken“ (wie ABM, Kurzarbeiterregelungen, Vorruhestand, Umschulung) zu bauen.

Lutz Marz hat unlängst das Problem des habituellen Wandels im Sinne des ersten Modells -der Überwindung früherer Verhaltensmuster -beleuchtet. Danach sind die Ostdeutschen einem „Zwangskreislauf“ unterworfen, einem „Selbstblockierungsmechanismus“ Er vertritt die These, daß der wirtschaftliche Aufschwung in den neuen Bundesländern an dem in 40 Jahren Realsozialismus erworbenen Habitus scheitern könne.

Bei einem Blick über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland fällt allerdings die erstaunliche Vielfalt auf, mit der historisch gewachsene Mentalitäten und marktwirtschaftliche Ordnungen konform gehen: Japan, Taiwan, Südkorea, Großbritannien, die USA und die Bundesrepublik stehen für moderne Marktwirtschaft(en) verschiedenen Typs. Mithin schließt der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperität verheißender Marktwirtschaft und Mentalitäten erhebliche Gestaltungsräume ein.

Dieser Hinweis scheint mir wichtig, um nicht jenseits, sondern in Mentalitätsformen der Ostdeutschen Voraussetzungen für „Selbst-Unternehmertum“ aufzudecken.

Die Option für den Brückenschlag nicht nur in zeitlicher, organisatorischer, sondern auch in mentaler Hinsicht gilt es zunächst theoretisch-konzeptionell zu umreißen. Sie bedarf aber nicht minder einer empirischen Gründung. Diese soll zum einen mit Blick auf das „Selbst-Unternehmertum“ von Lohnabhängigen, zum anderen hinsichtlich der „neuen Selbständigen“ erfolgen. „, Neue Selbständige sind... Personen, die gestützt auf eigenes Kapital, auf eigene Rechnung und so auch auf eigenes Risiko unternehmerisch tätig werden.“

Das Votum für den „mentalen Brückenschlag“ basiert auf einer theoretisch wie empirisch hinreichend gestützten Position und auf einer noch zu beweisenden Annahme. Gesichert ist, daß die Menschen neue Anforderungen stets zunächst mit Hilfe der psychischen und soziokulturellen Ressourcen zu bewältigen trachten, über die sie jeweils gebieten. Mittels gewohnter Normen, Regeln, in „tradierten Formen wird Neues individuell »verarbeitet, werden neue Strategien des Verhaltens gegenüber objektiv bedingten Veränderungen entwickelt“ Ein völliges Heraustreten aus den von den Menschen bisher praktizierten Denk-und Verhaltensmustern, wie es der Option für den scharfen Schnitt entspräche, ist vorerst gar nicht möglich. Und doch treten auch relativ rasche, schlagartige Verhaltensänderungen dann ein, „wenn die neuartigen Lebensbedingungen nachhaltig als solche identifiziert werden und wenn das Individuum sie als Basis von eigenen, Verhaltensänderungen akzeptiert. Wenn es hingegen die neuen Bedingungen nach Maßgabe der alten, verlassenen strukturiert, treten keine Veränderungen ein.“

Die Option für den „mentalen Brückenschlag“ enthält beide Komponenten. Das heißt aber auch, daß überkommene Verhaltensdispositionen der DDR-Gesellschaft mehr oder weniger kräftige Spuren von „Selbst-Unternehmertum“ enthalten, auf die die Menschen zurückgreifen können. Dies kann nur akzeptieren, wer die Ambivalenz der DDR-Gesellschaft und der in ihr ausgebildeten mentalen Konfigurationen ernst nimmt, sie weder „zum Lichten ... noch zum Düsteren hin ... einzuebnen“ trachtet.

Ralf Rytlewski erkannte in der DDR eine „Gemengelage verschiedener Mentalitäten“ „SelbstUnternehmertum“ ist in mindestens drei der von ihm herausgearbeiteten sozioökonomischen Ausprägungen und Verhaltensmuster eingebettet -in der industriegesellschaftlichen Disposition, in bürgerlichen Kulturmustern und in Restbeständen einer (weitgehend säkularisierten) protestantischen Wirtschaftsgesinnung (Arbeits-, Berufs-, Leistungsethik).

Vom Standpunkt des hier interessierenden „Selbst-Unternehmertums“ scheint mir eine „politisch-kulturelle Wertekontinuität bürgerlicher Traditionen“ nicht das schlechteste Unterfutter zu sein. Doch darin erschöpft sich die mentale Mitgift meiner Landsleute im engeren Sinne nicht, hatten sie doch auch in spezifischer Form Teil am westeuropäischen zeitgenössischen Wertewandlungsschub. In der Terminologie Von Helmut Klages besteht dessen Wesen im Schrumpfen der Pflicht-und Akzeptanz-zugunsten der Selbstentfaltungswerte Die spezifische Form der Teilhabe erschließt sich insbesondere bei einem Vergleich der deutlich unterscheidbaren Generationsprofile und -erfahrungen

Wenn „Selbst-Unternehmertum“, wie hier behauptet, in den Mentalitätsformen der Ostdeutschen angelegt ist, dann muß es sich auch empirisch nachweisen lassen. Sofern der Nachweis glückt, besagt er nur, daß mentale Voraussetzungen für einen wirtschaftlichen Aufschwung vorhanden sind. Der Aufschwung selbst bedarf darüber hinaus „außermentaler“ Schübe.

IV. „Selbst-Unternehmertum“ und „neue Selbständige“ in Ostdeutschland

1. Die Bauern von Merxleben und andere Formen von „Selbst-Unternehmertum“

Auf die Entwertung ihrer Alltagsroutinen reagieren die sozialen Akteure mit einem Set unterscheidbarer Handlungsstrategien: (1) weitermachen wie bisher;

(2) alles ändern;

(3) die goldene Mitte suchen zwischen (1) und (2); (4) so gut wie möglich über die Runden kommen (so tun als ob);

(5) das Leben als Glücksspiel betrachten.

Jede dieser Strategien enthält und modifiziert „DDR-Verhaltenserbe“. Wie eng die Strategien „weitermachen wie bisher“ und „alles ändern“ miteinander Zusammenhängen, wie sie ineinander übergehen, zeigt das Fallbeispiel der Bauern von Merxleben (Thüringen) 1953 hatten sie ihre einzelbäuerliche Existenz aufgegeben und eine der ersten landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) der DDR gegründet. Die LPG Merxleben gehörte bis zum Ende der DDR zu den wirtschaftlich erfolgreichsten des Landes. Mit der Wende wurde nicht nur die LPG, sondern auch die Agrarproduktion im Osten zur Disposition gestellt. Die Bauern von Merxleben lösten ihre LPG auf und traten aus der Agrarproduktion heraus. Sie gründeten einen mit modernster Technik produzierenden Industriebetrieb in Gestalt einer GmbH, nahmen ERP-Kredite (dabei handelt es sich um Kredite im Rahmen des Europäischen Wiederaufbauprogramms: European Recovery Program) auf und begannen, Fenster herzustellen. Die einstigen Genossenschaftsbauern fungieren heute als Gesellschafter der GmbH und stellen 90 Prozent der Beschäftigten. Offen ist, ob sie damit auch künftig sozial und wirtschaftlich Erfolg haben werden. Das Fallbeispiel steht für eine ungebrochene Tradition von Selbst-Unternehmertum.

In der DDR wurden die Genossenschaftsbauern als „Klasse“ bezeichnet, in der Bundesrepublik sah man in ihnen „Landarbeiter“. Im Umbruch zeigt sich nun, daß zumindest die Akteure von Merxleben sowohl in materieller als auch in soziokultureller Hinsicht über Ressourcen gebieten, die Landarbeiter gewöhnlich nicht in die Waagschale werfen können.

Mehr noch als Genossenschaftler standen private Handwerker sowie die Angehörigen freier Berufe in der Pflicht, ein Mindestmaß an Selbst-Unternehmertum zu kultivieren. So bemerkten freischaffende Künstler wiederholt, für sie hätte sich im Vergleich zur Vorwende-DDR hinsichtlich der Anforderungen, sich selbst zu vermarkten, „nichts geändert“. Über das „Selbst-Unternehmertum“ von abhängig Beschäftigten vermitteln die nachfolgenden Zahlen eine gewisse Vorstellung: 1. Seit dem 9. November 1989 sind mehrere hunderttausend Ostdeutsche in die alten Bundesländer gezogen, allein 1991 waren es 214000. Die Anzahl der Migranten wird künftig wohl durch die Aufnahmebereitschaft des Wohnungs-und Arbeitsmarktes limitiert Die Ost-West-Migration steht unter anderem für „Selbst-Unternehmertum“ im eingangs definierten Sinne. Nur handelt es sich dabei um eine Form, die nicht oder nur sehr bedingt den Aufschwung Ost herbeiführt. 2. Die Zahl der Ost-West-Pendler beträgt etwa 600000. 3. Fast jeder dritte Erwerbstätige hat seinen Arbeitsplatz seit dem Herbst 1989 gewechselt. Fast 30 Prozent empfanden den Wechsel als einen sozialen Aufstieg, 34, 4 Prozent als Abstieg 4. Nach der Wende haben bis dahin abhängige Beschäftigte es in vergleichsweise großer Zahl gewagt, eine unternehmerische Existenz zu gründen. Die Zahl der Gewerbeanzeigen betrug (1990) 281096 bei 26649 Gewerbeabmeldungen. In OstBerlin wurden (1991) 19800 Gewerbebetriebe angemeldet Die Tragweite des Schritts vom „Selbst-Unternehmertum“ zum Unternehmer wird deutlich, wenn man bedenkt, daß eine Kapitalbildung so gut wie unmöglich und die soziale Gruppe der Selbständigen in der Geschichte der DDR auf eine Restgröße von 2, 5 Prozent gedrückt worden war. Die Dynamik des Gründungsgeschehens einzufangen ist eine äußerst aufwendige und eigenständige wissenschaftliche Aufgabe, auf die hier nur verwiesen werden kann 2. Die „neuen Selbständigen“ Ostdeutschlands -

Porträtskizzen in einer noch nicht ausgeloteten sozialen Landschaft Im Rahmen eines Forschungsprojektes wurde am BISS begonnen, den Prozeß der Herausbildung von „neuen Selbständigen“ in Brandenburg und (Ost) -Berlin zu verfolgen. Das Erkenntnisinteresse gilt den Herkunftswegen, soziokulturellen Charakteristika und Potenzen derjenigen Individuen und Gruppen, die seit der „Wende“ eine selbständige, unternehmerische Existenz wähl(t) en.

Die Wahlentscheidungen selbst sind grundsätzlich zwischen den „beiden Extremen eines fließenden Kontinuums“ angesiedelt, dessen Pole Dieter Bögenhold als „Ökonomie der Not“ und „Ökonomie der Selbstverwirklichung“ bezeichnet hat. Angesichts des Zusammenbruchs ganzer Industrien, des Institutionenwandels und der Chancen, die scheinbar auf der Straße liegen, könnte vielleicht erwartet werden, daß sich Menschen aus allen sozialen Gruppen der versinkenden DDR-Gesellschaft der Weg in das kleine Unternehmertum als möglicher Ausweg anbiete, sie also vorwiegend einer von der „Ökonomie der Not“ gesetzten Logik folgten. Nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen -sie dienen der Vorbereitung größerer quantitativ und qualitativ orientierter empirischer Untersuchungen -sind diese Annahmen erheblich zu korrigieren. Zunächst war der Anteil derer unter den Befragten erstaunlich hoch, die gleichsam „eine Minute nach der Wende“ oder später aus einer damals noch sozial sicher und zukunftsträchtig scheinenden Position den Schritt in die Selbständigkeit wagten. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Herkunftsbetriebe bzw. -Institutionen noch intakt. „Wir sind ja nicht die Leute, die gefeuert worden sind oder gefeuert worden wären und jetzt den Sprung machen in die Selbständigkeit.. so die Geschäftsführer eines Ingenieurbüros. Die Idee, sich selbständig zu machen, lag bei den Interviewpartnern teils fünf bis sechs Jahre zurück („damals ging es nicht“), teils war sie „irgendwo latent“, teils ist sie „im Verlaufe zweier Jahre gewachsen“, wozu auch die Tristesse eines Umschulungskurses beitrug. Nicht wenigen freilich drängte sie sich mangels anderer Möglichkeiten zwingend auf.

Obwohl die Heterogenität der Herkunftsgruppen, aus denen sich die neuen Selbständigen rekrutieren, sehr groß ist, spiegelt sich in ihnen die Sozialstruktur der DDR allenfalls verschoben wider. Die Aufschlüsse über die biographischen und soziokulturellen Ressourcen der neuen Unternehmer korrigieren zwar die Klischees über die Ausbildung von selbstunternehmerischen Dispositionen, sie können aber nicht auf die DDR-Gesellschaft als Ganzes hochgerechnet werden -zumal die bisher vorliegenden Erkenntnisse sich allenfalls als Porträtskizzen, ja Strichzeichnungen in einer noch auszulotenden sozialen Landschaft ausnehmen.

Die theoretischen Verallgemeinerungen, Hypothesen und empirischen Befunde gründen sich auf 1. 28 Interviews nach einem Interviewleitfaden mit neuen Selbständigen in (Ost-) Berlin, Brandenburg sowie Mecklenburg-Vorpommern, die im Frühjahr 1991 und im Dezember 1991/Januar 1992 geführt wurden. Die Gesprächspartner (mehrheitlich Männer) waren zwischen 22 und 60 Jahre alt. Die Interviewdauer lag zwischen 20 Minuten und vier Stunden. 2. die Ermittlung von Kontrastgruppen nach der sozialen Herkunft von Klein-Unternehmern (soziale und berufliche Ausgangsposition) und des von ihnen jeweils mobilisierbaren ökonomischen, sozialen und Bildungskapitals. Ausgeklammert wurden Treuhandunternehmen, ferner freie Berufe. 3. Lebenswegrecherchen seit der „Wende“. Der Sinn dieser Erkundungen besteht unter anderem darin, Proportionen und Häufigkeiten zu ermitteln, in denen sich Individuen oder Gruppen einer absinkenden (bedrohten) Schicht in eine neue, nicht mitsinkende Position zu retten wissen -als Unternehmer oder eben in einer anderen unselbständigen Tätigkeit. 4. teilnehmende Beobachtung. 5. die Auswertung von Medienrecherchen über Selbständige. a) Wersind die „neuen“ Selbständigen?

Die neuen Unternehmer unterscheiden sich nach ihrer Herkunft, nach ihrer Kapitalausstattung und ihren individuellen Fähigkeiten Um diese Unterschiede herauszuarbeiten, ist es sinnvoll Kontrast-gruppen zu bilden. Nach dem bisherigen Erkenntnisstand bieten sich die folgenden an:

A. Angehörige der einstigen politischen und administrativen „Positionseliten“ der DDR.

Darunter fallen Offiziere der NVA, der Staatssicherheit, hauptamtliche Mitarbeiter/Sekretäre der Kreisleitungen der SED sowie anderer Parteien und Massenorganisationen und Beschäftigte zentraler Staatsorgane in mittleren und gehobenen Positionen. Lebenswegrecherchen in bezug auf Angehörige zweier Kreisleitungen der SED lassen folgende Hypothese zu: Personen dieser Herkunftsgruppe(n) suchen und finden eher eine neue, nicht mitsinkende Position in unselbständigen Tätigkeiten sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern.

B. Manager, die ihre Unternehmen nach der Wende gekauft haben

C. Wissenschaftler, Absolventen wissenschaftlicher Einrichtungen und Beschäftigte mit hohen Bildungsabschlüssen, darunter Ingenieure, Techniker und Industrieforscher.

Mit der deutschen Einheit und der Systemtransformation gerieten diese Beschäftigtengruppen unter hohen Mobilitätsdruck. Immerhin verloren drei von vier in der Industrie beschäftigten Forschern ihren einstigen bzw. suchten sich einen anderen Arbeitsplatz! Lebenswegerkundungen vermitteln Aufschlüsse über dabei gewählte Alternativen. Unter anderem liegen diese in der selbständigen Existenz, der Abwanderung in die alten Bundesländer oder in das Ausland, im Wechsel in die Kommunalpolitik oder in die Verwaltung (meist in berufsfremder Tätigkeit). Das Selbst-Unternehmertum ist für DDR-Verhältnisse in dieser Population vergleichsweise hoch ausgeprägt. Charakteristisch ist die Selbstreflexion eines neuen Selbständigen (Typ unternehmender Erfinder): „Ich hab schon immer gemacht, was ich wollte. Also forschungsmäßig oder so. Das ging dem Dr. W. so, und das ging dir ja irgendwo auch so. Irgendwie hat man ja versucht, nach der reinen Vernunft zu leben. " Die Vorstellung vom unmündigen, verängstigten, eben entscheidungsschwachen DDR-Bürger wird von den Probanden dieser Kontrastgruppe in der Regel (für sich und ihresgleichen) abgewiesen, allerdings mit dem Zusatz: aber ich glaube auch nicht, daß das ein falsches Klischee ist“.

D. Ehemals in Handels-, Dienstleistungseinrichtungen, kommunalen Wohnungsverwaltungen als Arbeiter, oder Angestellte (zumeist in Handwerker der Funktion des Verkaufsstellenleiters) tätige Personen, die ausgegründete, privatisierte Betriebsteile oder Läden, Gaststätten usw. erwarben und in eigener Regie betreiben.

Favorisiert wird von dieser Personengruppe jedoch häufig ein anderer Weg -der unter das Dach westlicher Ketten oder leistungsfähig erscheinender mittelständischer Firmen.

E. Kinder oder Verwandte derjenigen Unternehmer, deren Betriebe 1972 oder früher verstaatlicht wurden.

In den konkreten Fällen ist eine Rückübertragung des einst verstaatlichten Betriebes nicht mehr möglich. Die von uns befragten Repräsentanten dieser Kontrastgruppe verfügen sämtlich über eine Hoch-oder Fachschulausbildung und brachen mehrheitlich (nur in einem Falle der „Ökonomie der Not“ gehorchend) ihre bisherige berufliche Laufbahn ab, um eine selbständige Existenz auf dem Feld der „personenbezogenen Dienstleistungen“ zu begründen.

F. (Freischaffende) Künstler, deren Alter und/oder Vermarktungschancen bzw. Selbstverwirklichungsambitionen eine selbständige Existenz nahelegen, sofern sie die nötigen Mittel aufbringen.

G. Schließlich rekrutieren sich die „neuen“ zum Teil aus „alten“ Selbständigen, d. h. aus Handwerkern und Gewerbetreibenden, die sich in der Vor-wende-DDR behauptet hatten.

Zu neuen Selbständigen mutieren sie dann, wenn sie nach der Wende bei Aufgabe oder Randstellung ihres bisherigen Gewerbes in qualitativ wie quantitativ neuen Dimensionen als Unternehmer tätig werden. Die Grenzen zwischen „alten “ und „neuen“ Selbständigen sind freilich fließend.

Was mit dem qualitativen Sprung vom „alten“ zum „neuen Selbständigen“ gemeint ist, erschließt vielleicht der Fall des früheren Modegestalters A. H. Seine Kreationen bedienten weniger das Streben nach sozialem Anschluß und Beständigkeit als das Streben nach individueller Unterscheidung. Im Zuge der Wende wurde er zum Gründer eines kleinen „Firmenimperiums" (zwei Videotheken, zwei Läden, die vornehmlich Produkte aus den neuen Bundesländern anbieten, eine Gaststätte sowie ein Fitneßzentrum). Den ursprünglichen Beruf gab er auf.

Zwar fehlt es nicht an innovativen, für die Entwicklung Ostdeutschlands als Produktionsstandort möglicherweise wichtigen Unternehmen, aber es dominieren eher handels-und personenbezogene Dienstleistungseinrichtungen. Eine wesentliche Ursache dafür ist die Kapitalschwäche der Unternehmensgründer. Es gilt erst noch herauszufinden, ob sich in den neuen Ländern Ostdeutsche in nennenswertem Umfang als Unternehmer auf Dauer werden behaupten können. Denkbar ist, daß sich im Osten in der Perspektive vorwiegend Unternehmer aus den alten Bundesländern etablieren werden. Schon jetzt sprechen Präsenz und der Vormarsch der westlichen Ketten, der Filialen mittelständischer Firmen eine deutliche Sprache. Wie Recherchen in einem Teilraum eines (Ost-) Berliner Bezirkes ergaben, gehören zu den (Klein-) Unternehmern im Osten auch Selbständige aus dem Westen. Das sind vor allem „Rückkehrer“, d. h. Personen, die die DDR zu verschiedenen Zeiten verließen, die auf dem Wege der Restitution von Besitzansprüchen oder mit Hilfe ihrer finanziellen Ressourcen Unternehmen gründen; es sind aber auch in der (Alt-) Bundesrepublik lebende Bürger aus EG-Staaten oder aus anderen Ländern. b) Zur Kapitalausstattung von (Klein-) Unternehmern Eine Existenzgründung setzt Eigenkapital, ein Minimum an einzubringenden materiellen und finanziellen Ressourcen voraus. In Ostdeutschland betrug das durchschnittliche private Geldvermögen je Familie im Jahre 1990 nur 20000 DM; nicht mehr als ein Drittel der Familien besitzt Immobilien. Auch wenn zumindest in einigen der angeführten Kontrastgruppen (E, F, G) das private Geldvermögen und der Anteil der Grundbesitzer vom Durchschnitt zum Teil erheblich abweicht, ändert dies nichts an der strukturellen und grundsätzlichen Kapitalschwäche der Gründer. Ihr Start-kapital speist sich folglich überwiegend aus Krediten. Zur Kapitalausstattung gehören jedoch nicht allein die eigenen finanziellen und die mobilisierten „fremden“ Ressourcen, sondern auch das, was Pierre Bourdieu als „soziales Kapital“ (Beziehungen, Einfluß, Netzwerke), „kulturelles Kapital“ (Bildungspatente, Lernfähigkeit, erworbene Kompetenzen) und „symbolisches Kapital“ (An-B sehen und Erfolg) bezeichnet hat Diese Elemente der Kapitalausstattung sind entscheidend für die Etablierungs-und Behauptungschancen. Zuweilen ist das soziale Kapital des neuen Selbständigen sein eigentliches Kapital. Sein Startkapital im engeren Sinne bestand aus einer modernen Büroausstattung in der eigenen Wohnung. Die dafür erforderlichen Mittel in Höhe von 20000 DM kamen aus dem Privatvermögen.

Die nichtökonomische „Kapitalausstattung“ kann finanzielle Defizite bis zu einem gewissen Grade kompensieren. Wer dies verstehen will, muß sich von der gängigen und auf der Makroebene durchaus zutreffenden Charakteristik der DDR als Befehls-, Kommando-oder Zentralverwaltungswirtschaft freimachen. Die DDR war zugleich und aus einer anderen Perspektive betrachtet „eine extreme Aushandlungsgesellschaft zur Verhinderung öffentlich artikulierter Konflikte. Bevor ein Konflikt... ausbrechen konnte, gab es wechselseitige Arrangements im Vorfeld, deren Prinzip darin bestand, jedem das Seine und das Ganze auf sich beruhen zu lassen... Es entwickelte sich eine extreme Herrschaft des sozialen Kapitals, dessen Differenzen nicht als Differenzen von ökonomischem und symbolischem Kapital demonstriert werden durften. Es gab in der DDR ein System der Macht, welches überhaupt nichts mit Partei oder der STASI zu tun hatte.“

Soziales Kapital entscheidet bspw. über den Zugang zu knappen Gütern (Gewerberäume!) und nicht selten auch über öffentliche Aufträge.

Das sehr zwiespältige und kontraproduktive Erbe der DDR als Aushandlungs-und Vereinbarungsgesellschaft schlägt vielfach -zumindest zeitweilig -als Startchance für Gründer durch: Bei der Ausgründung, Privatisierung, Abspaltung von Teilen der DDR-Betriebe oder Institutionen und deren Übergang in die Hände früherer Betriebsangehöriger wirkte der verinnerlichte Aushandlungsmechanismus dahingehend, den Kollegen von einst den Sprung in das volle Risiko zu erleichtern. Man räumt(e) ihnen recht günstige Konditionen ein (etwa beim Kauf eines modernen Labors oder beim Rückkauf eigener Patente), überließ ihnen einst firmeneigene Saunen zu symbolischen Mieten, sicherte ihnen Aufträge (für frühere Betriebshandwerker) zu u. v. a. m. c) Biographische und soziokulturelle Ressourcen der „neuen Selbständigen“

Alle Gesprächspartner verwiesen auf in ihrer Biographie ausgebildete Fähigkeiten, Fertigkeiten, Dispositionen, die ihnen den Weg in das (Klein-) -Unternehmertum in diesem oder jenem Maße ermöglichen. In vielen Fällen können sie auf die in ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit oder aber in der Freizeit erworbene Sachkompetenz bauen (vom Industrieforscher zum Unternehmer/Erfinder; vom Bauingenieur zum Bauunternehmer usw.). Zuweilen wird jedoch auch an die familiale Tradition selbständiger Tätigkeit angeknüpft. Beispiele dafür sind promovierte Chemiker oder Hochschulingenieure, die Bestattungsunternehmen übernahmen oder gründeten.

Wesentlich scheinen auch Leitungserfahrungen zu sein, auf die die einstige Verkaufsstellenleiterin der staatlichen Handelsorganisation (HO) „Delikat“ (jetzt Inhaberin einer Gaststätte) ebenso wie Industrieforscher verweisen: „Wir hatten ...früher das Umgehen mit Geld und Betriebswirtschaft unter DDR-Bedingungen so ein bißchen intus. “ Ins Gewicht fallen dabei Entscheidungsfreudigkeit, die unter DDR-Verhältnissen gewonnenen Einsichten in internationale Forschungstrends und Vermarktungsbedingungen sowie Zeitsouveränität, Herrschaft über einen großen Teil der eigenen (Arbeits-) Zeit.

Angehörige einstiger Positionseliten heben indes die Gewöhnung an überdurchschnittliche Arbeitszeitquanten hervor. Unternehmer, die zuvor freischaffend waren, können auf ihre DDR-Erfahrungen, sich selbst zu vermarkten, zurückgreifen. Es sind aber auch sehr allgemeine und unspezifische Verhaltensdispositionen von Wert: „Ich wollte eigentlich immer alles wechseln... Ich muß was schaffen, muß was machen... Man muß tun und sein“, so die Geschäftsführerin einer Werbefirma.

Einen nahezu strategischen Rang unter den mobilisierbaren Ressourcen nehmen Kontaktfähigkeit und (recht häufig) materielle Bescheidenheit, sprich Askese, ein, also die Bereitschaft zum Konsumverzicht, ja zur „Selbstausbeutung“. Von ihren subjektiven Voraussetzungen her fühlten sich die Gesprächspartner also nicht schlecht gerüstet für die Marktwirtschaft. Die Interviews geben aber auch bemerkenswerte Aufschlüsse über Einstellungs-und Verhaltensänderungen. d) Über den Sprung vom Wir zum Ich und andere Lernprozesse.

Die Interviewpartner geben sich als Erben und als Totengräber der Aushandlungs-und Vereinbarungsgesellschaft DDR. Erben sind sie insofern, als sie in hohem Maße Strategien praktizieren, die das mobilisieren, was man in der DDR „kollektive Weisheit“ nannte, und als sie zu einem kooperativen Führungsstil tendieren. „Ich bin zwar hier der eigentliche Besitzer, aber... ich würde niemals entscheiden, ohne (meine) Mitarbeiter befragt zu haben. " Charakteristisch ist auch folgende Sequenz aus einem anderen Interview. Dr. X.: „Es ist hier niemals eine Einzelleitung gewesen, wir haben immer zu viert oder fünft... diskutiert und beraten.“

Andererseits wurde bewußt mit dem Erbe der Aushandlungsgesellschaft gebrochen: Dr. X.: „Aufkeinen Fall haben wir alte DDR-Verhältnisse... Die gibt es nicht mehr, die sind weg... In der Anfangsphase wurden mal ein paar Dinge beredet, mit allen Mitarbeitern... Diese Druck-und Barrierepunkte, wie das früher mal üblich war, das ist nicht mehr drin Der Übergang von der unselbständigen Tätigkeit in die selbständige Existenzweise ist für alle Betroffenen mit allgemeinen wie spezifischen subjektiven Schwierigkeiten verbunden. Für den früheren Offizier stellen sich „viele Gemeinsamkeiten“ zwischen der „Luftwaffe“ und dem „Funktionsmechanismus der (XYZ)“ her: „Teamgeist,... die Motivation zu entsprechenden Leistungen, Menschenführung..." Dennoch bezeichnete er als größtes Problem, eine andere „Lebensphilosophie, eine erfolgsorientierte Geisteshaltung“ zu gewinnen.

Für die erfolgsgewohnten Industrieforscher war es der Absprung aus einer sicheren und zukunftsträchtigen Position in die Risikolage. Für andere ist es der erzwungene Abschied von einer Tätigkeit, mit der man sich voll identifizierte, in die Welt der eher personenbezogenen Dienstleistungen, die Erfahrung eines sozialen Abstiegs. Und bei manchen ist es der Sprung vom Wir zum Ich, der endgültige 'Abschied von einem Menschenbild, welches gleichsam auf der verinnerlichten Vorstellung von einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“ fußt.

In den Monaten nach dem Fall der Mauer haben Westdeutsche oft festgestellt, daß die aus dem Osten häufig in der „Wir-Form“ sprachen, daß man sie auffordern mußte, doch mal „ich“ zu sagen. Der Übergang von einer eher „kollektivistischen“ zu einer eher „individualistischen Verfaßtheit" läßt sich an manchen Interviews ebenso verfolgen wie die subjektive Einsicht, daß übermäßiges Vertrauen die eigene Existenz bedroht.

Bezeichnend ist das Interview mit B. B.: Die Interviewpartnerin spricht überwiegend in der Wir-Form, wobei mit „wir“ sie und ihr Team gemeint sind. Der Wir-Modus wird jedoch in mehreren Passagen korrigiert, ja völlig aufgegeben: „ ... und da sind wir mit unserer Dummheit, nein, ich mit meiner Dummheit, ich, nicht wir...“ hereingefallen. Das Ich tritt heraus aus der Anonymität, aus dem schützenden und auch nivellierenden Wir. „Ja ich bin völlig selbständig... Ich bin ich“, heißt es. Und auf die Frage, welche anderen Menschen die Gründung unterstützten: „Ich mich selbst und nur ich ... man steht immer allein da, immer. Auch wenn ich jetzt mein Team habe,... doch die finanzielle Last ist mein, ja. “

Zu den Lernprozessen, die offenbar notwendig sind, gehört auch der Erwerb gesunden Mißtrauens. Ein Mitarbeiter sollte Kunden aufsuchen und für die Dienstleistungen des Unternehmens gewinnen. Er unterzog sich dieser Mühe nicht, schrieb einfach Adressen aus dem Telefonbuch ab. Nach zwei Monaten flog der Schwindel auf: „Wer denkt denn da noch daran, einen Kollegen zu kontrollieren!“. Jetzt hat die betroffene Unternehmerin einen Rechtsstreit -„Weil ich als Unternehmer zwar Buchungen im Kopfhabe..., aber immer schön im Briefumschlag den Leuten das Geld übergeben habe...“, ohne die Unterschrift einzuholen -auszufechten. Der gekündigte Mitarbeiter behauptet, nicht entlohnt worden zu sein. e) Lebensentwürfe von (Klein-) Unternehmern Einige der auf der Basis eines Leitfadens geführten Interviews weisen dichte narrative Passagen auf, in denen die Lebensentwürfe der Gesprächspartner aufscheinen. Dabei zeigte sich zunächst eines: Anders als gemeinhin angenommen wird, sind unsere Interviewpartner ausnahmslos „in der Lage ..., ein Leben führen zu können, das ausgerichtet ist auf bestimmte Zielsetzungen, das eine bestimmte biographische Planung aufweist, das es erlaubt, bestimmte alltägliche Prinzipien durchzuhalten“ Die gegenteilige Annahme von Stefan Hradil über die DDR-Gesellschaft trifft mithin auf diese Population nicht zu.

Noch überraschender war folgender Befund: Obwohl die Akteure einen zeitgeschichtlichen Umbruch und biographischen Einschnitt durchleben, halten sie in fünf von sechs analysierten Fällen einen unveränderten Kurs, der durch den Unternehmerstatus „nur“ angereichert wird: 1. Unternehmensgründer Dr. A.: „Unabhängig, innovativ sein und bleiben“. Der Unternehmer-status bietet dafür neue Möglichkeiten und die Chance, „eventuell doch noch eine Mark mehr zu verdienen“. 2. Unternehmensgründer Dr. B.: „Der amerikanische Traum, das Modell Amerika“. Amerikanische Modelle schweben dem Interviewpartner vor für die Beziehungen von Unternehmer und Mitarbeitern. Seine Söhne werden in den USA vorerst eine zweijährige Ausbildung erhalten. Dafür arbeitet er. Und er hat vor, selbst in die USA zu gehen und im Interesse der Firma zu wirken. Die biographische Kontinuität liegt in der geistigen Orientierung auf Amerika. 3. Selbstverwirklichung als Frau in wechselnden Tätigkeiten. Die biographische Kontinuität liegt in der entsprechenden Unbedingtheit des Lebensanspruchs, der Unternehmerstatus selbst scheint dabei eher zufällig und möglicherweise eine Episode zu sein. 4. Der Aufstieg in Hierarchien, zunächst bei der Armee. Heute geht es darum, zur „Führungskraft“ zu avancieren. Es ist weniger Macht oder Einfluß, was erstrebt wird. Der Aufstieg ist das Mittel, das Ziel aber sind Eigenverantwortung, freie Zeiteinteilung, der Spielraum im Gehäuse der offenbar „verwandten Funktionskreisläufe von Armee und Firmenimperium, in dessen Windschatten der selbständige Versicherungsvermittler agiert“ 5. Der arbeitsorientierte und zugleich asketische „Kaufmann aus Leidenschaft“. Er war früher im Auftrag eines Kombinates tätig und treibt nunmehr in eigener Regie Handel.

In anderen Fällen erheischt der biographische Wendepunkt einen neuen Lebensentwurf. Eine Lösung bietet ein tätiges, „anerkennungsfähiges Leben, in welchem zugleich mit der Wahl des Unternehmensinhaltes die Trauer um den Verlust des eigentlichen Lebensentwurfes ausgelebt werden kann“ 30.

V. Ausblick

Von Geld und Gewinn ist in den Interviews auch die Rede, aber eher nebenbei. Es scheint so, als spiele es keine besondere Rolle. Ob sich hinter dieser Haltung eine für Unternehmer tödliche „sozialistische Erblast“ verbirgt oder ob es sich eher um ein Zugeständnis an jenes „eigentümliche Zusammenspiel von offiziellen Maximen, Normativen und... lebensweltlichen Sinnstrukturen“ der versinkenden Gesellschaft handelt, das man glaubt machen zu müssen, tatsächlich aber längst für sich beendet hat, ist unklar. Ich vermag es auf Basis des bisherigen Erkenntnisstandes nicht zu entscheiden.

Wenn wir genauer hinschauen, dann zeigt sich eines: Vierzig Jahre DDR waren keineswegs vierzig Jahre eines fortschreitenden und allumfassenden Abbaus „selbstunternehmerischer“ Verhaltensqualitäten. Die Ausgangslage ist weit differenzierter. Der Transformationsprozeß im Osten Deutschlands fordert und fördert das „Selbst-Unternehmertum“ der Menschen in bisher nicht gekanntem Maße. Für den Großraum Berlin und -vielleicht mit gewissen Abstrichen -für Ostdeutschland als Ganzes kann die Schlußfolgerung gezogen werden: Der wirtschaftliche Aufschwung hängt auch von mentalen Voraussetzungen, die keineswegs zu vernachlässigen sind, überwiegend jedoch von „außermentalen“ Rahmenbedingungen ab. Solange es an strukturellen Fixpunkten mangelt, an denen sich das „Selbst-Unternehmertum“ der Menschen festmachen und hochranken kann, wird es verpuffen oder in die alten Bundesländer abfließen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ostdeutsche Wirtschaft steckt tief im Keller, in: Berliner Zeitung vom 16. 01. 1992, S. 1.

  2. Helmut Klages, Es fehlt die bedingungslose Bereitschaft zum „Ärmelaufkrempeln“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 2. 1991.

  3. Stefan Hradil, „Lebensführung“ im Umbruch. Zur Rekonstruktion einer soziologischen Kategorie, in: Michael Thomas (Hrsg.), Abbruch und Aufbruch. Sozialwissenschaften im Transformationsprozeß. Erfahrungen -Ansätze -Analysen, Berlin 1992, S. 185.

  4. Vgl. Karl F. Schumann, Probleme der Assimilation von Bürgern und Bürgerinnen der ehemaligen deutschen Teilstaaten, in: Deutschland Archiv, 24 (1991) 8, S. 1193-1201.

  5. Norbert Peche, Kulturelle Identität und Marktwirtschaft. Sozialpsychologische Faktoren können den schnellen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern beeinträchtigen, in: Handelsblatt vom 15. /16. 2. 1991, S. K 3.

  6. Lutz Marz, Die innere Kluft. Eine (Bild-) Betrachtung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 36 (1991) 11, S. 1308f.

  7. Michael Thomas, „Neue Selbständige“ im Transformationsprozeß: Herkunftswege, soziale Charakteristika und Potentiale, Projektantrag an die Stiftung Volkswagenwerk, Manuskript 1991, S. 2.

  8. Irene Dölling, Individuum und Kultur. Ein Beitrag zur Diskussion, Berlin (Ost) 1986, S. 78.

  9. Hans-Dieter Schmidt, Grundriß der Persönlichkeitspsychologie, Frankfurt/Main-New York 1986, S. 195.

  10. Vgl. Rudolf Woderich, Mentalitäten zwischen Anpassung und Eigensinn, in: Deutschland Archiv, 25(1992) 1, S. 21-32.

  11. Hartwig Schmidt, Ein Kapitel „Dialektik der Aufklärung“. Zur Ambivalenz der DDR-Gesellschaft, in: M. Thomas (Anm. 3), S. 19.

  12. Vgl. Ralf Rytlewski, Politische Kultur und Generationswechsel in der DDR: Tendenzen zu einer alternativen politischen Kultur, in Bernd Claußen (Hrsg.), Politische Sozialisation Jugendlicher in Ost und West, Bonn 1989, S. 209-224.

  13. Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte, Die Deutschen -Profil einer Nation, Stuttgart 1991, S. 237.

  14. Vgl. Helmut Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt/Main-New York 1984, S. 18.

  15. Vgl. Sigrid Meuschel, Wandel durch Auflehnung -Thesen zum Verfall bürokratischer Herrschaft in der DDR, in: Berliner Journal für Soziologie, 1 (1991) 1; Helmut Berking/Sieghard Neckel, Politische Karrieren: Rekrutierung und Wahrnehmungsmuster neuer lokaler Eliten in einer ostdeutschen Gemeinde“, Vortrag auf der Tagung Lebensbedingungen und Lebensformen in Deutschland, Bamberg, 7. /8. Juni 1991.

  16. Den Sachstand verdanke ich einer Prisma Reportage. DFF-Länderkette, Prisma vom 15. 9. 1991.

  17. Vgl. Osten wird Wartesaal der Unerwünschten. Ursachen der Migration gen Westen bestehen weiter, in: Berliner Zeitung vom 13. November 1992, S. 5.

  18. Vgl. Arbeitslosigkeit und Autokäufe , boomen“. „Repräsentativumfrage Ost“, in: Neues Deutschland vom 9. Dezember 1991, S. 2.

  19. Vgl. Wolfgang Liebernickel/Anne Schwarz, Neue Gründerzeiten? Die beginnende Konstituierung neuer Selbständiger in Ostdeutschland: Erste sozioökonomische Analyseergebnisse zu einer offenen soziologischen Frage, in: M. Thomas (Anm. 3), S. 287.

  20. Vgl. Dieter Lindig, Datenreport Selbständige im Transformationsprozeß, in: BISS public, 1 (1991) 4, 123-127).

  21. Das Projekt wird von der Stiftung Volkswagenwerk gefördert. Ich danke meinen Kollegen M. Thomas, P. Wolf-Valerius, G. Valerius, A. Schwarz, R. Woderich, W. Lieber-nickel für das zur Verfügung gestellte Material.

  22. Dieter Bögenhold, Wandlungen und Beharrungen in der Sozial-und Wirtschaftsstruktur: Die „Petite Bourgeoisie“ vom Restposten zum vermeintlichen Motor der Gesellschaft, in: M. Thomas (Anm. 3), S. 271.

  23. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1987.

  24. Vgl. Matthias Ohnsmann, „Was die können, schaffen wir auch“. Engagierte Ostmanager machen mobil. Steigende Zahlen bei Management-Buy-Out in neuen Ländern, in: Berliner Zeitung vom 19. Februar 1992, S. 20.

  25. Vgl. P. Bourdieu (Anm. 23).

  26. Heinz Bude, Das Ende einer tragischen Gesellschaft, in: Leviathan, 19 (1991) 2, S. 312f.

  27. Vgl. Horst Kern/Rainer Land, Der „Wasserkopf“ oben und die „Taugenichtse“ unten. Zur Mentalität von Arbeitern und Arbeiterinnen in der ehemaligen DDR/Im Mittelpunkt des Alltagslebens: „Der Betrieb“, in: Frankfurter Rundschau vom 13. Februar 1991, S. 16 f.

  28. Stefan Hradil (Anm. 3), S. 190.

  29. Interpretation von Gabriele Valerius/Anne Schwarz.

  30. R. Woderich (Anm. 10), S. 25.

Weitere Inhalte

Thomas Koch, Dr. sc. phil., geb. 1947; Studium der Kulturwissenschaften in Berlin; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS). Veröffentlichungen u. a. zur Identitätsproblematik, zu Deutungs-und Handlungsmustern sozialer Akteure im deutschen Einigungsprozeß.