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Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 49/1992 | bpb.de

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APuZ 49/1992 Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland Armut und Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland Innovative Strategien der Armutsbekämpfung mit Hilfe der EG in der Bundesrepublik Deutschland

Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland

Thomas Specht-Kittler

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Zahl der von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wird auf eine Million geschätzt und sie nimmt infolge der Wohnungsnot weiter zu. Die Spaltung der Wohnraumversorgung in einen Unterkunftsmarkt mit unzureichender Wohnqualität und in den normalen Wohnungsmarkt ist Kennzeichen einer neuen Wohnungsnot bei gleichzeitigem Wohnungswohlstand. Immer mehr Menschen, die als „Wohnungsnotfälle“ bezeichnet werden können, werden nicht nur unzureichend mit Wohnraum versorgt, sondern auch sozial ausgegrenzt. Dies birgt die Gefahr einer langfristigen sozialen Desintegration in sich, die durch zwangsgemeinschaftliche Wohnformen, sozialräumliche Isolation, Abkoppelung von Infrastruktur und die Beschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte gekennzeichnet ist. Die Sozialarbeit ist überfordert, weil sie aufgrund der Krise des Wohnungsbaus und des Wohnungsmarktes keine Wohnungen mehr zur Verfügung hat, mit denen sie wohnungslose Menschen versorgen könnte. Der Beitrag beschreibt die Grenzen und Schwächen gegenwärtiger Hilfsmaßnahmen für wohnungslose Menschen. Abschließend werden einige neue Leitlinien für eine Politik gegen die Wohnungsnot dargestellt. Eine solche Politik muß darauf gerichtet sein, die Spaltung des Wohnraumversorgungsmarktes in Unterkunfts-und Wohnungsmarkt zu beseitigen. Dies sollte durch ein Recht auf Wohnen in der Verfassung, neue Förderinstrumente in der Wohnungspolitik und die Einführung einer bedarfsorientierten Grundsicherung erreicht werden. Ohne durchgreifende Gegenmaßnahmen wird die Anzahl der Wohnungsnotfälle explosiv weiter steigen und soziale Konflikte bis hin zu offener Gewalt werden zunehmen. In der Folge wird sich nicht nur die Spaltung des Sozialstaats (Zwei-Drittel-Gesellschaft) auch in Gestalt der Wohnungsarmut sichtbar verfestigen, sondern die Substanz des Sozialstaates selbst steht zur Disposition.

I. Die vielen Gesichter der Wohnungsnot

Abbildung 1: Typologie der als „Wohnungsnotfälle“ bezeichneten Personen, die aktuell von Obdachlosigkeit betroffen sind, nach Rechtsstatus

1. Zunahme der Obdachlosigkeit

Die explosiv wachsende Zahl von sichtbar Obdachlosen, die auf der Straße schlafen, betteln, essen, trinken, die also ihr Wohnen unter den Augen einer indignierten Öffentlichkeit vollziehen, bringt das verdrängte Problem auf den Marktplatz. Von dort wird es durch den unbegrenzten Einfallsreichtum der Kommunalpolitiker schnell wieder vertrieben, um alsbald an anderen öffentlichen Orten wieder aufzutauchen. Die Verdrängung gelingt nicht mehr, das Problem ist zu groß geworden, und viele Betroffene wehren sich gegen Vertreibung und Abschiebung

Die typische Erscheinungsform der Obdachlosen, der Menschen mit dem Stigma des Penners und Säufers -obwohl sie doch nur schlafen und trinken wie alle Bürger-, steht am unteren Ende einer Verdrängungskette: Die politische Unterschätzung der Wohnungsnot hat zuerst zum Zusammenbruch der Wohnungs-und in der Folge auch der Unterkunftsmärkte geführt, in die die aus dem Wohnungsmarkt Gedrängten vertrieben wurden. Und -der Zusammenbruch der Unterkunftsmärkte raubte vielen Menschen die Unterkunft überhaupt. .

Ungeachtet dieser offensichtlichen Zusammenhänge wird immer noch auf die aus dem 19. Jahrhundert überkommenen „Lösungen“ zurückgegriffen: die ordnungs-und polizeirechtliche Abwehr der obdachlosen Störer Wohnungsverlust und Wohnungslosigkeit werden in einen „Störfall“ der öffentlichen Ordnung umdefiniert. Dies löst nun nicht etwa die Forderungen nach regulärem Wohnraum für wohnungslose Menschen aus, sondern vielmehr den Bau von Asylen, Massenunterkünf-ten, Behelfsheimen, das Aufstellen von Containern, Zelten und Wohnwagen, ja selbst Schiffe werden zu Obdächern umfunktioniert. Mit den verstaubten Begriffen „nichtseßhaft“, d. h. ohne wirtschaftliche Grundlage umherziehend, und „obdachlos“, d. h. ohne ausreichende Unterkunft, kann das Problem nicht mehr erfaßt werden

Ausgangspunkt für eine angemessene Auseinandersetzung mit Obdachlosigkeit sollte ihre Definition im Kontext von Wohnungsnot sein. Dadurch wird sofort deutlich, daß die sichtbar Obdachlosen nur die Spitze des Eisbergs sind und daneben ein breites Spektrum von Wohnungsnotfällen existiert: Zu den Betroffenen gehören neben den Stadtstreichern inzwischen auch Aus-und Übersiedler, Hausbesetzer, Jugendliche, Trebegänger (z. B. Stricher), ehemalige Drogenabhängige, psychisch Kranke, mißhandelte Frauen, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und verarmte Rentner.

Die Zuwanderung oder besser Einwanderung von Aussiedlern und Asylbewerbern dynamisiert die Spaltung der Wohnraumversorgung in Wohnungsund Unterkunftsmarkt und verändert die ohnehin schwierigen Koordinaten der Wohnraumversorgung der als „Wohnungsnotfälle“ bezeichneten Personen. Sie ist aber keinesfalls für die Wohnungsnot in der Bundesrepublik verantwortlich, wie gern behauptet wird Allerdings wird die Asylfrage zwangsläufig und in immer dramatischerer Form Teil des Obdachlosenproblems, da die Kommunen neben der Versorgung der Obdachlosen auch für die Unterbringung der Asylbewerber zuständig sind. Die Folge ist eine Verknappung der Ressourcen auf dem Unterkunftsmarkt, der vielerorts bereits zusammengebrochen ist. Die Wohnungsnot-frage ist inzwischen untrennbar mit der Einwanderungsfrage verknüpft; die Folgen sind absehbar: -Die sozial-räumlichen Ghettos werden zunehmend auch ethnische Ghettos sein. -Die Konkurrenz zwischen Ausländern und Deutschen um Unterkünfte und Wohnungen wächst. -Ausländerhaß und Gewalt gegen Ausländer nehmen, geschürt durch Vertreter deutschnationaler und rechtsradikaler Parteien, zu. Gerade in den an die neuen sozialen Brennpunkte angrenzenden Wohngebieten wachsen die Stimmenanteile rechtsradikaler Parteien. Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein haben dies gezeigt. Der Übergang zur beifallbegleiteten Duldung gewalttätiger Ausschreitungen, wie sie in den sozialen Brennpunkten der fünf neuen Bundesländer zu beobachten sind, liegt dann nicht fern. -Manche nutzen die Gelegenheit und definieren das Problem fehlender Wohnungen in das Problem zu großzügigen Asylrechts um. -Vielerorts werden die Standards für Ersatz-Wohnunterkünfte gesenkt.

Ohne hier den Sinn oder Unsinn einer Änderung des Grundrechts auf Asyl näher untersuchen zu können, läßt sich festhalten: Weder eine Änderung des Asylrechts noch Zuzugssperren für Aussiedler und Flüchtlinge können verhindern, daß in den neunziger Jahren weitere ausländische Zuwanderer nach Deutschland kommen werden. Auch ein Einwanderungsgesetz wird daran nichts wesentliches ändern. Zwar mag der Zustrom schwächer und stärker strukturiert werden, aber in einer zusammenwachsenden Welt und in einem Europa der offenen Grenzen kann die Zuwanderung nicht wesentlich abgebremst werden: Deutschland und Europa werden Einwanderungsgebiet sein.

2. Die Struktur von Obdachlosigkeit und von Wohnungsnot

Zur Kennzeichnung der vielen Gesichter der Wohnungsnot, die in den letzten Jahren aufgetaucht sind, bedarf es einer neuen Definition: „Im weitesten Sinne befinden sich alle diejenigen Haushalte in einer Situation von Wohnungsnot, die über zu wenig Mittel und Hilfen verfügen, um ihre Wohnraumversorgung angemessen und auf Dauer sicherzustellen.“ Mit dieser Begriffsbestimmung von Wohnungsnot kann eine Brücke zwischen den Menschen ohne Unterkunft, solchen in Notunterkünften sowie Menschen in unzumutbaren Wohnverhältnissen geschlagen werden. 1987 hat der Deutsche Städtetag diese in Fachkreisen akzep-tierte Typologie entwickelt Sie unterscheidet zwischen aktuell von Obdach-, bzw. Wohnungslosigkeit Betroffenen, von Wohnungsverlust Bedrohten und Haushalten in unzumutbaren Wohnverhältnissen. Daran anknüpfend lassen sich etwas konkretere Typologien von Wohnungsnotfällen entwickeln (vgl. Abbildung 1). Alle in Abbildung 1 aufgeführten Personengruppen sind in Not-, Sammel-oder sonstigen Unterkünften oder in speziellen Heimen untergebracht.

Neben den aktuell Obdachlosen darf die noch viel größere Zahl derjenigen Menschen nicht vergessen werden, die zwar in Wohnungen leben, aber unter unzumutbaren Bedingungen. Unzumutbare Wohnverhältnisse lassen sich im wesentlichen durch drei Dimensionen erfassen (vgl. Abbildung 2).

Je mehr der in Abbildung 2 aufgeführten Dimensionen Zusammentreffen bzw. sich überlappen, desto unzumutbarer werden die Wohnverhältnisse.

Menschen, die unter solchen Bedingungen leben, sind potentiell von Wohnungsverlust bedroht, d. h., sie können ihre Wohnung verlieren und wohnungslos werden. Es lassen sich weiterhin die Haushalte identifizieren, die unmittelbar von Wohnungsverlust bedroht sind. Das sind vor allem Räumungsverklagte, aber auch diejenigen, die entweder aus einer unerträglichen Wohnsituation flüchten oder vertrieben werden, z. B. Jugendliche durch Hinauswurf aus der elterlichen Wohnung. Der Gesamtzusammenhang der Wohnungsnot wird durch Abbildung 3 verdeutlicht.

3. Umfang der Wohnungsnot -von der Armut der Zahlen

Ungeachtet der seit dem „Internationalen Jahr für Menschen in Wohnungsnot“ 1987 immer wieder von Expertinnen und Verbänden erhobenen Forderung, eine bundesweite Wohnungsnotfallstatistik zu schaffen, sowie der ständig ansteigenden Wohnungsnot und Obdachlosigkeit ist bisher nichts geschehen So beruhen die von Experten veröffentlichten Zahlen auf Schätzungen und Hochrechnungen einzelner wissenschaftlicher Studien Seit der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 ist die Situation noch schwieriger geworden, da für die fünf neuen Bundesländer noch weniger Daten vorliegen.

Die letzte Schätzung wurde 1990 von den Bundes-arbeitsgemeinschaften für Wohnungslosenhilfe e. V. und soziale Brennpunkte veröffentlicht Da­ nach gibt es in den alten Bundesländern derzeit ca. 800000 Obdachlose. Darunter sind ca. 130000 alleinstehende Wohnungslose, ca. 100000 in Billig-hotels (Pensionen) lebende Personen, ca. 100000 Menschen in Heimen und Anstalten, ca. 300000 in kommunalen Notunterkünften Lebende und ca. 200000 in Übergangsunterkünften untergebrachte Aus-und Übersiedler.

Für die neuen Bundesländer wird -je nach Tempo des Mietenanstiegs -auf der Basis einer 1, 2-Prozent-Quote der Wohnbevölkerung mit ca. 200000 Obdachlosen gerechnet; aktuelle Zahlen liegen noch nicht vor. Für beide Teile Deutschlands wurde eine Gesamtzahl von einer Million Obdachlosen geschätzt. Nach Berechnungen des Instituts Wohnen und Umwelt haben 1987 in den alten Bundesländern zwischen 800000 und 950000 Menschen in unzumutbaren Wohnverhältnissen gelebt. Ca. 300000 der Betroffenen in den neuen Ländern dürften -bezogen auf den westdeutschen Wohnstandard -in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben Diese Zahlen beziehen sich ausschließlich auf die Dimension der Raumnot. Die Anzahl der Haushalte in den alten Bundesländern, die mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen, wird auf ca. 1, 7-1, 8 Millionen geschätzt. Sie würde sich um die Hälfte reduzieren, wenn alle dazu berechtigten Haushalte Wohngeld beantragten Da erfahrungsgemäß nur ca. 50 Prozent der Berechtigten einen Antrag auf Wohngeld stellen (meist ist Unkenntnis die Ursache für den „Verzicht“), ist davon auszugehen, daß immer noch mehr als eine Million Personen von dieser Lebenslage betroffen sind. Insgesamt dürfte sich -ohne Einbeziehung von Asylbewerbern -eine Gesamtzahl von ca. 2, 5 Millionen Wohnungsnotfällen ergeben. Seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik im Oktober 1990 sind diese Zahlen mit Sicherheit gewachsen.

Wird von mindestens 500000 Asylbewerbern seit 1987 ausgegangen, die im Lande verblieben sind, so liegt die Zahl der Wohnungsnotfälle mindestens bei drei Millionen. Angesichts steigender Mieten, die auch künftig die Ursache dafür sein werden, daß deutsche Bürger obdachlos sind, sowie angesichts eines immer noch hohen Aussiedlerzuzugs, weiterer Kriegsflüchtlinge und des ungebrochenen Zustroms von Asylbewerbern ist eine Erhöhung der genannten Zahl um zusätzliche 1 bis 1, 5 Millionen in den nächsten fünf Jahren leider kein Horrorgemälde. Zur Zeit bereitet die Bundesregierung im Rahmen einer Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes endlich eine Erweiterung der Sozialhilfepflichtstatistik vor; damit können Wohnungsnotfälle besser als bisher erfaßt werden Das gilt auch für den Entwurf eines Wohnungsstatistikgesetzes, der bisher am Widerstand der Freien Demokraten scheiterte Zudem ist die Erfassung von Unterkünften geplant. Es ist zu hoffen, daß die Politik endlich den Ernst der Lage erkannt hat und wenigstens die Datengrundlagen für eine vernünftige Wohnungspolitik schafft.

II. Die gespaltene Wohnraumversorgung

Abbildung 2: Dimensionen unzumutbarer Wohnverhältnisse

1. Die Spaltung der Wohnraumversorgung und ihre Erscheinungsformen

Die Herausbildung von Obdachlosigkeit und unzumutbaren Wohnverhältnissen folgt einem deutlich strukturierten Muster, das mit den Prozessen auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt eng verknüpft ist. Noch immer haftet die Vorstellung von den Obdachlosen, die selbst schuld seien am Verlust ihrer Wohnung, im öffentlichen Bewußtsein. Diesem Denkmuster, das leider auch beim Problem der Arbeitslosigkeit und der Armut noch bei vielen Menschen verbreitet ist, muß immer wieder entgegengewirkt werden.

Mit Bedacht ist hier der Terminus „Spaltung“ (der Wohnraumversorgung) gewählt worden, weil ein zunehmender qualitativer Sprung zwischen der Wohnraumversorgung der Haushalte, die als Wohnungsnotfälle definiert werden müssen, und der Versorgung der sonstigen Bevölkerung mit Wohnraum zu verzeichnen ist.

Probleme der Wohnraumversorgung und der Wohnungs-bzw. Obdachlosigkeit in hochindustrialisierten Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland können mit Hilfe eines deskriptiven Modells einer gespaltenen Wohnraumversorgung analysiert werden (vgl. Abbildung 4).

Im Modell der gespaltenen Wohnraumversorgung wird klar zwischen dem Obdach-oder Wohnungslosensektor (Unterkunftsmarkt) und dem Wohnungssektor (Wohnungsmarkt) unterschieden. Zwischen diesen beiden Systemen der Wohnraum-versorgung verläuft eine klare Trennlinie. Der Leitbegriff des Obdachlosensektors ist der der Unterkunft. So wird schon sprachlich deutlich, daß es sich nicht um eine Wohnung handeln kann. Im Obdachlosensektor befinden sich alle, die ihre Wohnung verloren haben und nicht ohne weiteres eine neue Wohnung erhalten können. Dies gibt den Wohnungsnotfällen im Unterkunftsmarkt die spezifische Qualität der Wohnungslosigkeit, d. h.der Nicht-Verfügung über eine eigene Wohnung. Dies unterscheidet sie von Wohnungsnotfällen im Wohnungsmarkt, die, allerdings mehr oder weniger stark eingeschränkt, über eine Wohnung verfügen können. Es lassen sich im wesentlichen vier Verfügungsmuster über Wohnraum ausmachen, die zu jeweils typischen Erscheinungsformen der Wohnungsnot führen. Sie werden im folgenden unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für Wohnungsnot-fälle abgehandelt -Im Marktsektor dieses Systems stellen vor allem Hotel-und Pensionsbesitzer sowie Eigentümer von Massen-Apartmenthäusern mit möblierten Zimmern völlig überteuerte Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung. Die Kommunen übernehmen die Hotel-bzw. Mietkosten; schätzungsweise zwischen 700 Millionen bis zu einer Milliarde DM dürften pro Jahr dafür ausgegeben werden. Natürlich wäre es wesentlich sinnvoller, dieses Geld für den Bau normaler Wohnungen aufzuwenden. -Im öffentlichen Sektor stellen Kommunen, durch das Ordnungsrecht verpflichtet; gebührenpflichtige Not-und Behelfsunterkünfte zur Verfügung; es handelt sich um sogenannte Asyle für Alleinstehende und um Obdachlosen-siedlungen oder soziale Brennpunkte im Falle von Familien. -Wohlfahrtsverbände bieten im gemeinnützigen Sektor Heime, Wohngemeinschaften, Tagesaufenthaltsstätten und ähnliche Unterkunftsmöglichkeiten an. -Im informellen Sektor hängt es von den vorhandenen Netzwerken im Bekannten-, Freundes-und Familienkreis ab, ob vorübergehende Unterkünfte gefunden werden. Erfahrungsgemäß wird diese Lösung nach dem Wohnungsverlust als erste versucht, scheitert aber doch meist nach einer Übergangszeit, insbesondere wenn es Freunde und Bekannte sind, die vorübergehend Obdach gewähren.

2. Die soziale Lage der von Wohnungsnotfällen Betroffenen

Die von Wohnungsnotfällen Betroffenen unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihrer sozialen Lage. Das hat zu unterschiedlichen Arbeitsansätzen in der Sozialarbeit und Wohnungsversorgung geführt. Dies gilt vor allem für alleinstehende Wohnungslose, Personen in Obdachlosensiedlungen und sozialen Brennpunkten sowie für Aussiedler, Flüchtlinge und Asylbewerber. Dennoch gibt es übergreifende, gemeinsame Merkmale, die sich idealtypisch wie folgt kennzeichnen lassen: -Zwangsgemeinschaftliche Wohnformen Die weitaus meisten als „Wohnungsnotfälle“ einzustufenden Personen wohnen in der einen oder anderen Art in einer nicht selbst gewählten, sondern durch äußere Umstände auferlegten „Zwangs“ -Wohngemeinschaft. Dies gilt für alle in Massenunterkünften wie Asylen und Heimen, aber auch in Wohlfahrtshotels (Billig-pensionen) untergebrachten Menschen. In vielen Scheidungsfällen, bei Mißhandlungen und ehelicher Gewalt und in Konflikten von Jugendlichen mit ihren Eltern besteht de facto eine Zwangs-Wohngemeinschaft. Typisch für diese Wohnform sind die fehlende Privatsphäre und soziale Zwangskontakte, die als solche schon ein Konfliktpotential in sich tragen. -Sozial-räumliche Isolation Was in der Zwangs-Wohngemeinschaft schon angelegt ist, findet im Ghetto der sozial-räumlichen Ausgliederungsformen der Wohnarmut seinen sichtbaren Ausdruck. Wohnungsnotfälle werden hier über Heime, Massenunterkünfte, Billighotels auch räumlich ins Abseits geschoben. So -sichtbar -ausgegrenzt, werden die betroffenen Menschen zu Opfern von Fremdhaß, Gewalt und Selbsthaß. -Abkopplung von Infrastruktur Mit sozial-räumlicher Konzentration der Wohnungsnotfälle geht die Unterversorgung mit sozialer und kultureller Infrastruktur einher. Verkehrsanbindung, Einkaufs-und Freizeitmöglichkeiten sind nur eingeschränkt vorhanden; hinsichtlich stadtteilbezogener sozialer Dienste und Einrichtungen sind diese Gebiete hoffnungslos unterversorgt. -Beschränkter oderfehlender Mietrechtsschutz In den meisten Ersatzunterkünften besteht naturgemäß kein Bleiberecht. Es existiert kein sozialer Mietrechtsschutz -noch nicht einmal die minderwertige Ersatzunterkunft ist sicher. Diese Entrechtung nimmt je nach Sektor unterschiedliche Erscheinungsformen an. Im öffentlichen Sektor ist der Bewohner durch ordnungsrechtliche Willkür der Administration unterworfen; im Marktsektor unterliegt er der Willkür der täglichen Kündigung oder gar des gewaltsamen Rausschmisses durch Rollkommandos Im informellen Sektor sind Land-und Hausbesetzer sowie sogenannte Stadtstreicher dauernd der Gefahr der Kriminalisierung und ordnungsrechtlichen Vertreibung ausgesetzt. Selbst Freunde, Bekannte und Verwandte geraten schnell an die Grenzen ihrer Solidarität -der Wohnungsnotfall wird still „geräumt“. Im gemeinnützigen Sektor wird bei Nichtunterzeichnung eines Betreuungsvertrages der nächste Schritt in der therapeutischen Kette, der Einzug in eine Wohnung, verweigert: Willkür der Wohltätigkeit. -Beschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte Wenig in den Blick geraten ist bisher die fortwährende, meistens indirekte Beschränkung der verfassungsmäßig garantierten Freiheitsrechte der als „Wohnungsnotfälle“ bezeichneten Personen. Öffentliche Unterkünfte werden einfach betreten; in Heimen und Wohngemeinschaften wird die Unverletzlichkeit der Wohnung wegen angeblicher Betreuungsnotwendigkeit außer Kraft gesetzt. Die Unterbringung von Familien in Hotelzimmern, Containern oder heruntergekommenen Obdächern steht sicher nicht im Einklang mit Artikel 6 des Grundgesetzes, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen.

Die soziale Situation der „Wohnungsnotfälle“ enspricht nicht den Menschenrechten, verletzt in vielen Fällen bürgerliche Freiheitsrechte oder hindert wohnungslose Bürger an deren Wahrnehmung.

3. Angebot und Nachfragedynamik der gespaltenen Wohnraumversorgung

Die sozialen Güter Wohnung und Unterkunft sind unterschiedlich verfügbar. Ihr Angebot vergrößert oder verringert sich scheinbar losgelöst von Anbietern und Nachfragern, und damit variiert auch die Wohnungsnot. Von Wohnungspolitikern werden die marktwirtschaftlichen Zusammenhänge im Fall der Wohnungsnotfälle nur selten und dann auch nur unvollständig wahrgenommen. Dabei liegen die „Bewegungsgesetze der Wohnungsnot“ deutlich zutage: -Mit zunehmender Verknappung (Wohnungsmangel) und Verteuerung (Mietzinsnot) der Mietwohnungen sowie der Abnahme sozial gebundener Wohnungen (Krise des sozialen Wohnungsbaus wächst einerseits der abgespaltene Markt der Ersatzunterkünfte, andererseits erhöht sich die Anzahl der unzumutbaren Wohnverhältnisse. -Im expandierenden Unterkunftssektor (Obdachlosensektor) steigt die Nachfrage schneller als das Angebot. Dadurch verschärft sich die Konkurrenz um Obdachlosenunterkünfte. Da hier nicht Preise, sondern Administration und Wohlfahrtsverbände die Befriedigung der Nachfrage regulieren, kommt es zu einer ressourcenvergeudenden Stellvertreterkonkurrenz zwischen sozialen Diensten, Wohlfahrtsverbänden und Ordnungsämtern um freie Unterkünfte. -Je knapper der Unterkunftsraum wird, desto mehr bzw. häufiger werden „Wohnungsnotfälle“ innerhalb und zwischen den verschiedenen Anbietersektoren hin-und hergeschoben. Die Folge ist eine Abschiebung der Problemfälle von einem Anbieter zum nächsten; fehlender Bleibe-bzw. Mieterschutz führt zu einer anhaltenden Destabilisierung der Wohndauer. Das klassische Beispiel ist die „mobile Armut“ der sogenannten „Nichtseßhaften“ (Wohnungslose), die von Ort zu Ort, von Asyl zu Asyl geschickt werden -Je knapper der Unterkunftsraum im Obdachlosensektor wird, desto mehr Personen werden ohne jede Unterkunft auf die Straße gedrängt, d. h., sie werden obdachlos im wahrsten Sinne des Wortes.

Die genannten Zusammenhänge verdeutlichen, daß Umfang und Struktur des Unterkunftssektors in starkem Maße von der Entwicklung des Wohnungsmarktes abhängen.

Es gibt jedoch auch eine umgekehrte Abhängigkeit, die langfristig noch gefährlicher ist: Sollten sich die Wohnungsmärkte eines Tages entspannen, ist nicht damit zu rechnen, daß die Nachfrage automatisch in den normalen Wohnungsmarkt zurück-fließt. Das einmal erzeugte System der Ersatzunterkünfte hat eine starke Tendenz zur Selbsterhaltung, die von Faktoren auf der Anbieter-und Nachfrageseite bestimmt wird.

Die Anbieter von Heimen, betreuten Wohnungen und Obdachlosenunterkünften stehen im gegenwärtigen Förder-und Finanzierungssystem unter enormen Belegungszwängen. Die Folge ist eine massive Fehlsubventionierung im Unterkunftssektor und im Teilsektor der Substandard-Wohnungen. Über Pflegesätze und Hilfe zum Lebensunterhalt (Sozialhilfe), Mietzuschüsse (Wohngeld), Gebührenzuschüsse (Ordnungsrecht) kommt es zu nichtinvestiven Wohnraumfinanzierungen, die mietpreis-und kostentreibend wirken (Apartments und Hotels) sowie langfristige Folgekosten erzeugen.

Der Staat greift hier in einer Weise in den Markt ein, die auf der einen Seite die Marktteilhabe der armen Bürger systematisch verhindert, während -auf der anderen Seite -die ohnehin Finanzstarken durch völlig ungerechtfertigte Steuererleichterungen gefördert werden. Dies hat mit Marktwirtschaft nicht viel zu tun: Hier handelt es sich um blanke Ungerechtigkeit.

Der beschriebenen Selbsterhaltung des Obdachlosensektors stehen die Ausgrenzungsprozesse aus dem normalen Wohnungsmarkt und die Zugangs-sperren zwischen Unterkunft-und Wohnungsmarkt gegenüber. Über Mietschulden, Zwangsversteigerungen und Umwandlung von Miet-in Eigentumswohnungen werden Haushalte aus dem Wohnungsmarkt herausgedrängt. /Einer bestimmten Gruppe von Wohnungslosen -zu ihnen gehören alleinstehende Wohnungslose (Penner), Obdachlose, Punks und Anstaltsbewohner -wird ein Zugangsrecht zum normalen Wohnen per se verweigert, meist über das Konstrukt „fehlende Wohnfähigkeit“. Angesichts eines eklatanten Ungleichgewichts zwischen dem Angebot und der großen Anzahl der Nachfrager nach Mietwohnungen können sich sämtliche Vorurteile gegen alleinerziehende Frauen, alte Menschen, Behinderte, Ausländer, Studenten, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger ungehindert ausleben. Selbst wenn die für Mieten zur Verfügung stehende Kaufkraft dieser Haushalte einmal reichen sollte, werden sie unter solchen Bedingungen in aller Regel diskriminiert. Die „unsichtbare Hand“ (Preismechanismus) fegt aber nicht nur mit eiserner Faust die Armutsbevölkerung in die Wohnungsnot, sie schenkt auch ungeahntes Wohnungsglück: bestimmte Wohnungen werden größer und schöner; Luxusapartments haben Hochkonjunktur; die Zahl der Zweit-und Ferienwohnungen wächst.

Dies ist der eigentliche Skandal: Es herrscht Wohnungsnot im Wohnungswohlstand

III. Wohnungs-und Obdachlosenhilfe ohne Wohnungen -wenn die Lösung das Problem ist

Abbildung 3: Übersicht der Wohnungsnotfälle

1. Sozialarbeit im Ghetto

Das Schwimmbad ist ohne Wasser, und die Bademeister überreden mit sanfter Gewalt die am Bekkenrand stehenden Badegäste, doch einfach hineinzuspringen und zu schwimmen. Etwa so läßt sich das Verhältnis von Sozialarbeitern, den offiziell in unserer Gesellschaft mit der Armenhilfe beauftragten Menschen, zu ihren wohnungs-und obdachlosen Klienten beschreiben. Sie hatten schon in der Vergangenheit kaum oder nur sehr geringe Möglichkeiten, den Menschen in ihrer Not zu helfen, konnten sie ihnen doch allenfalls (nicht bewohnbare) Notunterkünfte zuweisen. Doch spätestens seit Ende der achtziger Jahre stehen der Obdach-und Wohnungslosenhilfe selbst Wohnungen dieser Qualität nicht mehr zur Verfügung.

Es wäre ungerecht, zumindest eine Mitveranwortung der Sozialarbeit an der heutigen Situation zu leugnen. Erst in den siebziger Jahren bemerkten die Obdachlosen-und die sogenannte Nichtseßhaftenhilfe ihre völlige gesellschaftliche Isolation. In historischen Analysen reflektierte die Nichtseßhaftenhilfe ihre ausweglose Position in wissenschaftlichen Studien wurden die Schwächen bestehender Hilfesysteme aufgedeckt Man erkannte, daß das Heim für alleinstehende Wohnungslose nicht mehr Anfangs-und Endpunkt der Hilfe bleiben konnte und entlarvte die Obdachlosensiedlung als Ghetto, das durch umfangreiche Sanierungsmaßnahmen aufzulösen ist Neue Handlungsstrategien wie etwa die Nachsorge für aus dem Heim entlassene Wohnungslose oder die Anmietung von Wohnraum durch Wohlfahrtsverbände traten an die Stelle bisheriger Verwahrmentalität. Nunmehr wurde eine Einbettung der Wohnungs-und Obdachlosenhilfe in umfassende Strategien der Armutsbekämpfung und der Wohnungspolitik angestrebt. Es liegt schon eine gewisse Tragik darin, daß sich gerade in dem Moment, als die Sozialarbeit mit Vehemenz Wohnungen für ihre Klientel einforderte, die Krise am Wohnungsmarkt verschärfte.

2. Sozialhilfe -oft nicht gewährt und viel zu knapp

Entgegen den gebetsmühlenartig wiederholten Vorwürfen des Mißbrauchs der Sozialhilfe bleibt festzuhalten, daß der Regelsatz des Bundessozialhilfegesetzes, der die Höhe des Einkommens von Sozialhilfeempfängem bestimmt, viel zu niedrig ist, da keine regelmäßige Anpassung an die Einkommensentwicklung erfolgt -eine Auffassung, die von Experten, Wohlfahrtsverbänden und Fach-organisationen im Bereich der Sozialarbeit durchgängig vertreten wird *Darüber hinaus übersteigen die heutigen Mieten bei weitem die Obergrenzen dessen, was die Sozialämtern in der Lage oder bereit sind zu übernehmen. Damit fällt die Sozial­ hilfe als eine Art „Bürgschaft“ für Niedrigeinkommensbezieher am Wohnungsmarkt aus.

Für alleinstehende Wohnungslose, die durch ihre Wohnungslosigkeit zugleich ohne festen Wohnsitz sind, ist die Praxis der Gewährung der Sozialhilfe in vielen Orten noch immer rechtswidrig: Statt Bargeld werden Lebensmittelgutscheine oder gar -pakete ausgegeben, allenfalls wird die Sozialhilfe in Tagessätzen ausgezahlt, die zudem noch oft 30 bis 50 Prozent unter der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe liegen So werden Obdachlose selbst aus dem letzten Auffangsystem, das unsere Gesellschaft noch bietet, ausgegliedert.

3. Ohne Wohnung keine Arbeit -ohne Arbeit keine Wohnung

Obdach-und Wohnungslosigkeit sind aufs engste mit der Arbeitslosigkeit verknüpft, und zwar in doppelter Hinsicht: Die hohe Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft hat entscheidend zum Anwachsen der Obdach-und Wohnungslosigkeit beigetragen, denn nicht nur die Sozialhilfe, auch Arbeitslosengeld und -hilfe bleiben zunehmend hinter der Entwicklung der Mietkosten zurück. Es kommt hinzu, daß der Status der Obdachlosen, die in Notunterkünften leben, -und noch mehr derjenigen der völlig ohne Unterkunft existierenden Menschen -ein Integrationshemmnis ersten Ranges darstellt.

In Reaktion auf diese Situation sind in den letzten Jahren -im Rahmen der Sanierung von Obdachlosensiedlungen -zahlreiche Arbeits-bzw. Berufsförderungsprojekte entstanden, die zum Teil mit Bauvorhaben verbunden sind, an denen die Betroffenen selbst mitwirken

Die Arbeit im Rahmen von Heimen, die Pastor Friedrich von Bodelschwingh Ende des vorigen Jahrhunderts unter der Überschrift „Arbeit statt Almosen“ propagierte und die später mangels ausreichender Finanzmittel zur „Arbeit für Almosen“ verkam, ist einer grundlegenden Reform unterzogen worden Inzwischen gibt es mehr als 1000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze, auf denen ein wohnungsloser Arbeitnehmer durch seine Arbeit auch Rentenansprüche erwirbt.

Doch ohne eine energische Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bleiben solche Projekte eine Sackgasse, aus der den Betroffenen kein Über-gang in den normalen Arbeitsmarkt gelingen kann.

4. Gesundheit -krank ohne Wohnung

Angesichts der bisher geschilderten Lebensumstände obdach-und wohnungsloser Menschen überrascht es nicht, daß typische Streßkrankheiten wie Magen-Darm-Geschwüre und Herz-Kreislauf-Krankheiten an der Spitze der chronischen Krankheiten zu finden sind, die unter alleinstehenden Wohnungslosen verbreitet sind

Am erschreckendsten ist wohl die Tatsache, daß wohnungslose Menschen früher sterben. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt um etwa zehn Jahre unter dem für einen volljährigen Mann zu erwartenden Lebensalter Die Politiker der Bundesrepublik haben zwar die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zur Kenntnis genommen, nicht aber den verheerenden Versorgungsgrad obdachloser Menschen auf der Straße: „Wohnungslose Frauen und Männer müssen, um das Überleben auf der Straße zu gewährleisten, also zur Sicherung ihrer blanken Existenz, Krankheitssignale ihres Körpers überhören... Den , Luxus 1, Krankheiten zuzulassen und sie auszuheilen, können sie sich nicht leisten.“ Es wird höchste Zeit, daß die Ärzteschaft in Deutschland und ihre Verbände sich diesem drängenden Problem stellen.

IV. Leitlinien einer Politik gegen die Wohnungsnot

Abbildung 4: Modell der gespaltenen Wohnraumversorgung

Die Analyse der vielfältigen Erscheinungsformen und Strukturen sowie der Dynamik der Wohnungsnot zeigt, daß sich das System der Wohnraumversorgung der als „Wohnungsnotfälle“ einzustufenden Personen ebenso in der Krise befindet wie der Wohnungsmarkt und die Wohnungspolitik.

Es gibt zwar eine Reihe guter Vorschläge zur Verbesserung der allgemeinen Wohnungspolitik und der Politik gegen Obdachlosigkeit und Wohnungsnot. Zur Überwindung der gespaltenen Wohnraumversorgung bedarf es aber einer radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: 1. Wohnen ist ein Menschenrecht und muß ein Verfassungsrecht werden. Vor dem Hintergrund der gewachsenen individuellen Ansprüche auf die Verwirklichung der Menschenrechte, auf persönliche Freiheit und auf Partizipation wirken die zwangskollektiven Wohnformen, vor allem Heim, Anstalt und Obdachlosenunterkunft, wie ein historischer Anachronismus. Die Sonderformen des Heim-, Anstalts-und Ordnungsrechts sind heute weitgehend unbrauchbar. In das Grundgesetz muß daher ein Grundrecht auf Wohnen aufgenommen werden

2. Die Fehlsubventionierung des Obdachlosen-sektors in allen seinen Bereichen durch den Staat muß beseitigt werden. Statt dessen sollten in die Sozialhilfe-und Wohnungsbaugesetze neue, flexible, zielgruppengerechte Förderinstrumente integriert werden.

3. Die Wohnungspolitik muß lebenslagenorientiert ausgerichtet werden. Einerseits gilt es, ein Schwerpunktprogramm für Wohnungsnotfälle zu entwickeln, andererseits Lebenslagen in ihren Standardprogrammen zu berücksichtigen Dazu ist die Einführung einer einkommensbezogenen Miete im sozialen Wohnungsbau eine wichtige Voraussetzung. 4. Die Mietkaufkraft der Niedrigeinkommensbezieher muß durch eine bedarfsorientierte Grundsicherung an die Wohnungsmarktentwicklung angepaßt werden.

Ohne eine entschiedene Abkehr von der bisherigen Wohnungspolitik, die vorrangig auf eine Steigerung der Eigentumsquote an Wohnraum zu setzen scheint und den Anteil der preiswerten, preis-und/oder sozialgebundenen Mietwohnungen ohne durchgreifende Gegenmaßnahmen absinken läßt, wird die Zahl der Wohnungsnotfälle explosiv weiter steigen; soziale Konflikte bis hin zu offener Gewalt werden zunehmen. In der Folge wird sich nicht nur die Spaltung des Sozialstaats (Zwei-Drittel-Gesellschaft) auch in Gestalt der Wohnungsarmut sichtbar verfestigen, sondern die Substanz des Sozialstaats selbst steht zur Disposition.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Betroffenenrat der Wohnungslosen (Hrsg.), Presseerklärung der Betroffenen auf der Bundestagung 91 der BAG Wohnungslosenhilfe, in: Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe (Hrsg.), Wohnungslos in Deutschland -Bürger-und Menschenrechte sind unteilbar, Bielefeld 1992.

  2. Vgl. Frank-Walter Steinmeyer, Bürger ohne Obdach -Zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum, Bielefeld 1992.

  3. Vgl. Thomas Specht, Die Situation der alleinstehenden Wohnungslosen in Hessen, hrsg. von der Landesarbeitsgemeinschaft für Gefährdeten-und Nichtseßhaftenhilfe, Frankfurt am Main 1985.

  4. Die wohnungsmarktwirtschaftlichen Ursachen der Wohnungsnot werden treffend dargestellt von Gisela Schuler-Wallner/Uwe Wullkopf, Wohnungsnot und Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Bundesrepublik, hrsg. vom Institut Wohnen und Umwelt, Darmstadt 1991.

  5. Ebd.

  6. Deutscher Städtetag (Hrsg.), Sicherung der Wohnungsversorgung in Wohnungsnotfällen und Verbesserung der Lebensbedingungen in sozialen Brennpunkten -Reihe D, Deutscher Städtetag, in: Beiträge zur Sozialpolitik, (1987) 21.

  7. Vgl. Thomas Specht/Manfred Schaub/Gisela Schuler-Wallner (Hrsg.), Wohnungsnot in der Bundesrepublik -Perspektiven der Wohnungspolitik und -Versorgung für benach­ teiligte Gruppen am Wohnungsmarkt, Reihe Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 7, Bielefeld 1988.

  8. Vgl. Thomas Specht, Spaltung im Wohnungsmarkt -Die unsichtbare Armut des Wohnens, in: Diether Döring/Walter Hanesch/Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt am Main, 1990.

  9. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaften Wohnungslosenhilfe e. V. und soziale Brennpunkte (Hrsg.), Pressemitteilung vom 3. Oktober 1990.

  10. Vgl. G. Schuler-Wallner/U. Wullkopf (Anm. 4).

  11. Vgl. ebd.

  12. Bundesministerium für Familie und Senioren, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Bundessozialhilfegesetzes vom 22. Juli 1992.

  13. Bundesregierung, Gesetzentwurf für Wohnungsstatistikgesetz vom 10. 2. 1992.

  14. Vgl. dazu ausführlich Thomas Specht (Anm. 8).

  15. Vgl. Jürgen Evers, Wohnungsversorgung zwischen Obdachlosenasyl und Wohnung, in: Gefährdetenhilfe, (1986) 1, S. 17-19.

  16. Zu den Ursachen der Wohnungsnot vgl. G. Schuler-Wallner/U. Wullkopf (Anm. 4).

  17. Vgl. Thomas Specht, Nichtseßhaftigkeit -Mobile Armut in unserer Gesellschaft, in: Blätter der Wohlfahrtspflege, (1983) 11, S. 279-284.

  18. Vgl. Tobias Mündermann, Kein Dach über dem Kopf -keinen Boden unter den Füßen. Report über Wohnungsnot und Wohnungsmarkt in Deutschland, Hamburg 1992.

  19. Vgl. Wolfgang John, Ohne festen Wohnsitz. Ursache und Geschichte der Nichtseßhaftigkeit und die Möglichkeiten der Hilfe, Bielefeld 1988.

  20. Vgl. T. Specht (Anm. 3); K. U. Brendgens/J. Kullmann-Schneider, Alleinstehende Wohnungslose in Nordrhein-Westfalen -Beschreibung der Lebenslage und des Hilfesystems, hrsg. vom Ministerium für Arbeit und Soziales NRW, Ekke-Ulf Ruhstrat/Hiltrud Burwitz/Jean Claude Derivaux/Beenhard Oldigs, Ohne Arbeit keine Wohnung, ohne Wohnung keine Arbeit, Bielefeld 1991.

  21. Vgl. Deutscher Städtetag (Anm. 6).

  22. Vgl. Falk Roscher, Wohnraum durch „Anmietung“? Mietrechtliche Probleme und Lösungen, Reihe Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 14, Bielefeld 1990; Michael Conty u. a., Nachsorge -Nachbetreuung -Versorgung mit Wohnraum, Reihe Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 13, Bielefeld 1990.

  23. Vgl. Karl August Chasse/Norbert Preußer/Wolfgang Wittich, Wohnhaft. Armut und Obdachlosigkeit, Reihe Materialien der Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise M 88, Salzburg 1988.

  24. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. und Bundesarbeitsgemeinschaft soziale Brennpunkte, Positionspapier zur Wohnungspolitik und Wohnungsversorgung für einkommens-und sozialschwache Bevölkerungsgruppen, in: BAG Nichtseßhaftenhilfe e. V. (Hrsg.), Wohnen für alle, Bielefeld 1991; Rainer Greiff/Gisela Schuler-Wallner, Wohnungsbauförderung für Wohnungslose mit besonderen sozialen Problemen, hrsg. vom Institut Wohnen und Umwelt, Darmstadt 1991; Bundesamt für Wohnungswesen (Hrsg.), Benachteiligte Gruppen auf dem Wohnungsmärkt -Probleme und Maßnahmen, Schriftenreihe Wohnungswesen, Band 45, Bern 1990; Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Wohnraumversorgung und Wohnungspolitik, in: Caritas, (1992) 3, Beiheft.

  25. Vgl. Deutscher Caritasverband (Hrsg.), Arme unter uns -Positionspapier vom 24. Juni 1992, Magdeburg.

  26. Vgl. Arbeitsgemeinschaft Ambulante Hilfe (Hrsg.), Positionspapier, in: Gefährdetenhilfe, 32 (1990) 1, S. 26-30.

  27. Vgl. Rainer Greiff/Gisela Schüler-Wallner (Hrsg.), Mehr als ein Dach über dem Kopf -Bericht über Wohn-und Berufsförderungsprojekte für und mit Obdachlosen, Wein-heim -München 1990.

  28. Vgl. Falk Roscher/Ulrich-Arthur Birk/Karin Kammerer/Theo Wessel, Recht und Praxis der Hilfe zur Arbeit, Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 12, Bielefeld 1990.

  29. Vgl. Gerhard Locher, Gesundheits-ZKrankheitsstatus und arbeitsbedingte Erkrankungen von alleinstehenden Wohnungslosen, Bielefeld 1990.

  30. Vgl. Gerhard Locher, Wohnungslosigkeit kostet zehn Lebensjahre, in: Gefährdetenhilfe, 33 (1991) 4, S. 116.

  31. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (Hrsg.), Krank ohne Wohnung. Empfehlung zur medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen, Bielefeld 1991; Frank Steinmeyer, Grundrecht auf Wohnraum -Leer-formel oder verfassungspolitische Perspektive, in: BAG Wohnungslosenhilfe (Hrsg.), Wohnungslos in Deutschland -Bürger-und Menschenrechte sind unteilbar, Reihe Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 19, Bielefeld 1992, S. 36-51.

  32. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (Hrsg.), Wohnungslos in Deutschland -Bürger-und Menschenrechte sind unteilbar, Reihe Materialien zur Wohnungslosenhilfe, Heft 19, Bielefeld 1992.

  33. Vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. und Bundesarbeitsgemeinschaft soziale Brennpunkte (Anm. 24); Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhafte e. V. (Hrsg.), Wohnungen für alle -Schritte zu einem Bündnis gegen die Wohnungsnot, Bielefeld 1991.

Weitere Inhalte

Thomas Specht-Kittler, Dr. soz., geb. 1950; Studium der Soziologie in Göttingen und Bielefeld; stellvertretender Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: Die Situation der alleinstehenden Wohnungslosen in Hessen, Frankfurt/M. 1985; Spaltung im Wohnungsmarkt -Die unsichtbare Armut des Wohnens, in: Diether Döring/Walter Hanesch/Emst-Ulrich Hustet (Hrsg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt/M. 1990.