Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 49/1992 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 49/1992 Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland Armut und Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland Innovative Strategien der Armutsbekämpfung mit Hilfe der EG in der Bundesrepublik Deutschland

Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland

Peter Krause

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ausgehend von dem Konzept der relativen Armutsmessung und unter Berücksichtigung der schrittweisen Angleichung der Lebensbedingungen in den alten und neuen Bundesländern werden empirische Ergebnisse zur Betroffenheit von Armut sowie zu deren Dauer und Ausmaß für die Zeit zwischen 1984 und 1991 in Westdeutschland und zwischen 1990 und 1992 in Ostdeutschland vergleichend präsentiert. In Westdeutschland waren etwa 7 Prozent der Bevölkerung jährlich von Armut betroffen, etwa 15 Prozent im Drei-Jahres-Zeitraum und etwa 22 Prozent im Acht-Jahres-Zeitraum zwischen 1984 und 1991. In Ostdeutschland hat sich das Ausmaß der Armut -ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau im Jahre 1990 -deutlich erhöht. Es liegt auf der Basis vorläufiger Berechnungen für das Jahr 1992 gegenwärtig mit 5, 6 Prozent noch knapp unter dem westdeutschen Niveau. Im Drei-Jahres-Zeitraum zwischen 1990 und 1992 waren hier 11 Prozent der Gesamtbevölkerung mindestens einmal von Armut betroffen. Die durchschnittlichen Arbeits-und Renteneinkommen der Armen liegen in Westdeutschland bei knapp 60 bzw. knapp 50 Prozent der entsprechenden Durchschnittseinkommen. In Ostdeutschland sind die Arbeitseinkommen der Armen von 75 auf 62 Prozent der Nettoverdienste gesunken. Aufgrund des sehr geringen allgemeinen Leistungsumfangs der Altersrenten noch vor 1990 liegen diese Einkommen bei den Armen mit etwa 80 Prozent noch relativ nahe bei den durchschnittlichen Renteneinkommen. Die durchschnittliche Mietbelastung in Westdeutschland liegt bei etwa 20 Prozent der verfügbaren Einkommen der Privathaushalte. Arme müssen etwa ein Drittel ihres Einkommens für Mietleistungen aufwenden. In Ostdeutschland ist die mittlere Mietbelastung zwischen 1990 und 1992 von 4 auf 13 Prozent gestiegen. Die Mietbelastung der Armen hat sich im selben Zeitraum von 8 auf 23 Prozent erhöht und liegt gegenwärtig damit bereits über der Durchschnittsbelastung in Westdeutschland. Des weiteren werden die Armutsquoten für unterschiedliche sozio-demographische Gruppen und Phasen nach Haushaltstyp und Lebenszyklus für West-und Ostdeutschland vergleichend dargestellt. Die Einkommmenssituation wie auch das Leben insgesamt wird von Armen erwartungsgemäß deutlich schlechter bewertet als im Bevölkerungsdurchschnitt.

I. Einleitung

Übersicht: Paradigmen der Armutsdefinition

Im nachfolgenden Beitrag wird anhand neuer empirischer Ergebnisse auf der Basis des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) die Betroffenheit von Armut sowie deren Dauer und Ausmaß in den alten und neuen Bundesländern vergleichend beschrieben. Nach einem einführenden Überblick über theoretische Ansätze zur Definition und Messung von Armut werden die mit der gegebenen Datenbasis (SOEP) verbundenen Möglichkeiten und Probleme der Operationalisierung von Armut skizziert. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Vergleichbarkeit der Meßergebnisse zwischen den alten und den neuen Bundesländern unter Berücksichtigung des unterschiedlichen Wohlstands-niveaus. Die Präsentation der empirischen Ergebnisse beginnt mit einer vergleichenden Übersicht von Betroffenheit, Dauer und Ausmaß der Armut von 1984 (West) bis 1992 (Ost). Weitere empirische Ergebnisse bieten differenzierte Vergleichsmöglichkeiten der Betroffenheit von Armut in der Bevölkerung nach sozio-demographischen Kriterien sowie unter besonderer Berücksichtigung des Haushaltskontexts und Lebenszyklus. Die empirische Analyse schließt mit einem Ausblick auf die Auswirkungen der Armut auf die subjektive Bewertung der Lebensumstände. In einem abschließenden Resümee werden noch einmal alle wesentlichen Ergebnisse zusammengefaßt.

II. Definition und Messung der Armut

Tabelle 1: Entwicklung der verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte zwischen 1984 und 1991 in Westdeutschland gemäß den Angaben der amtlichen Statistik und des Sozio ökonomischen Panels (SOEP) Quellen: Wirtschaft und Statistik, (1992) 7, S. 441 ff.; SOEP.

Die vielfältigen Ansätze zur Definition und Messung von Armut lassen sich im wesentlichen drei Paradigmen zuordnen: dem absoluten Armutskonzept, dem relativen Armutskonzept und -in jüngerer Zeit -dem subjektiven Armutskonzept. Darüber hinaus beziehen sich viele Studien auf die im jeweiligen Land bestehenden politischen Armutsgrenzen, die als Grundlage zur Gewährung von staatlichen Transferleistungen (Sozialhilfe) dienen. Die Zusammenfassung dieser Ansätze zu den genannten Konzepten (vgl. Übersicht) und ihre Bewertung sind jedoch keineswegs unumstritten.

Tabelle 7: Betroffenheit von Armut nach soziodemographischen Gruppen

1. Definition der Armut

Tabelle 8: Dauer von Armut nach sozialdemographischen Gruppen

Nach dem absoluten Armutskonzept wird Armut als objektiv bestimmbares Subsistenzminimum definiert. Arm ist demnach, wer über so wenig Ressourcen verfügt, daß ein minimaler Lebensstandard hinsichtlich Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung etc. nicht gewährleistet ist. Die Kritik an diesem Ansatz konzentiert sich im wesentlichen auf zwei Punkte: Erstens gibt es kein eindeutig ermittelbares Subsistenzminimum, das unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lebensstile allgemeingültig formuliert werden könnte. Zweitens bleiben bei diesem Ansatz die spezifischen Wohlstandsverhältnisse der jeweiligen Gesellschaft unberücksichtigt.

Tabelle 9: Betroffenheit von Armut nach Haushaltstyp und nach Lebenszyklus

Nach dem relativen Armutskonzept wird Armut als materielle und soziale Deprivation -bezogen auf die Gesellschaft, in der man lebt -definiert. Arm ist, wer den in dieser Gesellschaft allgemein anerkannten minimalen Konsumstandard unterschreitet. Die Kritik an diesem Ansatz richtet sich gegen die alleinige Abhängigkeit der Armutsdefinition von gegebenen gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Armut kann nach diesem Konzept nur durch eine Veränderung der Verteilung vermindert werden, nicht jedoch durch eine alle umfassende Verbesserung der Lebensbedingungen.

Tabelle 10: Zufriedenheit in Abhängigkeit von Betroffenheit von Armut und Dauer der Armut

Nach dem subjektiven Armutskonzept wird Armut aus den individuellen Bewertungen des Wohlstands abgeleitet. Arm ist, wer nach individuellem Urteil so wenig zum Leben hat, daß er damit nicht mehr zurechtkommt. Dieser Ansatz ist noch relativ jung. Die Kritik daran ist auf die prinzipielle Meßbarkeit von Wohlstandsniveaus und die interpersonelle Vergleichbarkeit der subjektiven Angaben gerichtet.

Eine eher pragmatische Definition der Armut leitet sich aus dem politischen Armutskonzept ab. Arm ist, wer die staatlich festgelegten Kriterien von Unterstützungsleistungen unterschreitet. An diesem Konzept wird vor allem kritisiert, daß definitionsgemäß die Betroffenheit von Armut mit einer Erhöhung der staatlichen Leistungen anstiege.2. Messung der Armut

Die eigentliche Messung der Armut folgt nicht immer eindeutig den oben genannten Definitionen.

Zur Messung von Armut können unterschiedliche Verfahren herangezogen werden Bei der Subsistenzmessung werden von Experten Warenkörbe der lebensnotwendigen Güter zusammengestellt. Die für deren Kauf erforderliche Einkommens-summe bildet die Armutsgrenze.

Bei der Ausgabenmessung werden die für die Ermittlung des Existenzminimums notwendigen Einkommen empirisch bestimmt. Häufig dienen hierbei die Ausgabenanteile für Nahrungsmittel als Ausgangsbasis der Berechnung. Je nachdem, ob die gesamtgesellschaftlichen Ausgabenverteilungen einbezogen werden oder nicht, ergeben sich hieraus absolute oder relative Armutskonzepte. Der Grad der Relativität des Armutsmaßes bestimmt sich empirisch aus der Einkommenselastizität, die sich aus dem Verhältnis von Armutsgrenze und Einkommensverteilung bei Veränderung des Wohlstandsniveaus ergibt: Ist die Armutsgrenze unabhängig von der Höhe des Wohlstandsniveaus (absolutes Armutskonzept), beträgt die Einkommenselastizität 0; verändert sich die Armutsgrenze proportional zur Veränderung des Wohlstandsniveaus (relatives Armutskonzept), beträgt die Einkommenselastizität 1

Die direkte Messung der relativen Deprivation erfolgt auf der Grundlage des Konsum-und Ausgabeverhaltens. Diese Armutsgrenze bestimmt sich empirisch aus dem Kurvenverlauf des Verhältnisses von Einkommensniveau und Deprivationsgrad. Die gängigste relative Armutsmessung orientiert sich jedoch an der Einkommensverteilung. Arm ist demnach, wessen Einkommen einen festgesetzten Prozentsatz des Mean-Einkommens (Durchschnittseinkommen) bzw. Median-Einkommens (Zentraler Einkommenswert; ober-und unterhalb dieses Wertes liegen bei einer nach Größe geordneten Aufstellung aller Einkommen der Bevölkerung gleichviele Einkommenswerte bzw. Einkommensbezieher) unterschreitet. Die Bestimmung des Schwellenwertes erfolgt extern. Im allgemeinen werden mehrere Schwellenwerte für unterschiedlich gravierende Armutslagen ausgewiesen Die subjektive Armutsmessung beruht auf der direkten Frage nach dem Einkommensbetrag, der zum Leben unbedingt notwendig ist, bzw. auf der Angabe von Einkommensschwellenwerten, die ein sehr gutes, ein gutes, mittleres, schlechtes oder sehr schlechtes Einkommensniveau kennzeichnet. Die Einkommenselastizität dieser Armutsmessung liegt zwischen den Werten 0 und 1.

Die Berechnung der bundesdeutschen Sozialhilfe orientiert sich an der Bestimmung des Existenzminimums im Sinne der absoluten Armutsdefinition. Die Armutsberechnung der Europäischen Gemeinschaft beruht auf der jeweiligen länderspezifischen Einkommensverteilung im Sinne der relativen Armutsdefinition. Arm ist, wer im jeweiligen Mitgliedsland die 50-Prozent-Grenze des landesspezifischen Median-Einkommens unterschreitet.

Die nachfolgend präsentierten Berechnungen zur Armut in Deutschland basieren auf der Armutsmessung der Europäischen Gemeinschaft. Als Armutsschwelle gilt demgemäß ein Wohlstands-niveau, das 50 Prozent des Durchschnittseinkommens nicht übersteigt. Dieser Ansatz wurde in zweifacher Hinsicht modifiziert. Zum einen wurden zur Kontrolle der unterschiedlichen Bedarfslagen, die sich bei unterschiedlicher Haushaltszusammensetzung ergeben, Regelsatzproportionen der bundesdeutschen Sozialhilfe, die auf einem absoluten Armutskonzept basieren, herangezogen. Zum anderen wurde zur Ermittlung vergleichbarer Armutsquoten in Ost-und Westdeutschland die Zufriedenheit mit dem Einkommen als subjektive Komponente der Einkommensverteilung zur Bestimmung des Grades der relativen Angleichung der Lebensbedingungen verwendet.

Bei der Beschreibung der Armut wird zwischen Betroffenheit, Dauer (gemessen an der Häufigkeit, mit der eine Person in einem bestimmten Zeitraum von Armutsperioden betroffen war) und Ausmaß unterschieden. Die Betroffenheit bezieht sich auf die Anzahl der Personen, die in Armut leben. Das Vorliegen von individuellen Verlaufsdaten ermöglicht die weitergehende Untersuchung von Armutsperioden für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Die Dauer der Armut gibt so auch Auskunft über die Chancen und Risiken bei der Überwindung von Armut. Das Ausmaß der Armut ergibt sich schließlich als relativer Abstand zum Bevölkerungsdurchschnitt. So läßt sich der Grad des Einkommensdefizits, der bei alleiniger Betrachtung der Betroffenheit nicht ermittelt werden kann, beschreiben.

III. Datenbasis und Methoden

Abbildung 3

Datengrundlage der vorliegenden Untersuchung ist das Sozio-ökonomische Panel (SOEP), eine seit 1984 in der Bundesrepublik jährlich durchgeführte, repräsentative Längsschnittuntersuchung (Untersuchung eines bestimmten Personenkreises über einen längeren Zeitraum). Befragt werden alle Personen im Haushalt, die älter als 16 Jahre sind. Die Bezugsperson, die über die Belange des Haushalts am besten informiert ist, gibt darüber hinaus Auskunft zu Fragen, die den Haushalt als Ganzes betreffen. Haushaltsmitglieder, die den Haushalt verlassen und innerhalb der Bundesrepublik in einen anderen Haushalt gezogen sind oder einen neuen Haushalt gegründet haben, werden weiterverfolgt und zusammen mit allen neuen Haushaltsmitgliedern entsprechenden Alters ebenfalls befragt. Auf diese Weise konnten seit 1984 für ca. 12000 Personen, die in 6000 Haushalten der alten Bundesländer lebten, jährliche Verlaufsinformationen gewonnen werden. Diese Erhebung wurde schon relativ früh auf das Gebiet der ehemaligen DDR ausgedehnt. Bereits im Juni 1990 -also noch vor Einführung der Währungs-, Wirtschafts-und Sozialunion am 1. Juli 1990 -konnten 4000 Personen in über 2000 Haushalten auf dem Wege einer Repräsentativerhebung nach westlichen Standards erstmals zu sozio-ökonomischen Themen direkt befragt werden. Für die vorliegende Arbeit sind vorläufige Daten aus der dritten Erhebungswelle in Ostdeutschland aus dem Jahr 1992 herangezogen worden In die nachfolgende Armutsauswertung wurden jedoch nicht nur die Befragungspersonen, sondern -sofern nicht anders ausgewiesen -alle im Haushalt lebenden Personen einschließlich minderjähriger Kinder einbezogen (circa 16000 im Westen, circa 6000 im Osten). Dieses Vorgehen (Armutsauswertung auf Basis der Gesamtpopulation) ist am besten geeignet, Aussagen über Armutslagen in allen Bevölkerungsgruppen der Bundesrepublik vergleichend zu beurteilen. Das Stichprobendesign und Weiterverfolgungskonzept des Sozio-ökonomischen Panels bezieht sich in erster Linie auf die Wohnbevölkerung der Bundesrepublik. Einige besonders von Armut betroffene Bevölkerungsgruppen werden dabei nur zum Teil oder gar nicht er­ faßt. Dies gilt für die Anstaltsbevölkerung für Nichtbefragbare (ältere Kranke, psychisch Kranke, Sehbehinderte und Gehörlose, Analphabeten) sowie für Personen in ungewöhnlichen Arbeits-, Lebens-und Wohnsituationen (Wohnungen in Bürogebäuden, Baracken oder Wohnwagen; Obdachlose und Nichtseßhafte; besonders mobile Gruppen wie Schausteller, Binnenschiffer, Sinti und Roma). Diese Personengruppen bleiben bei den nachfolgenden Ausführungen weitgehend unberücksichtigt.

Grundlage der Armutsmessung ist das verfügbare Einkommen im Haushalt im letzten Kalendermonat. Die Frage danach wird im Haushaltszusammenhang erhoben und von der Bezugsperson, die am besten über die Belange des Haushalts insgesamt informiert ist, beantwortet. Typischerweise ergeben sich beim Vergleich der so gemessenen Einkommensverteilungen Untererfassungen gegenüber der amtlichen Statistik, die im wesentlichen auf drei Ursachen zurückzuführen sind:

1. Mit zunehmender Haushaltsgröße werden Einkommen einzelner Haushaltsmitglieder leichter vergessen.

2. Einkommen aus staatlichen oder privaten Transferleistungen sowie aus Vermögensbeständen werden häufig unterschätzt oder vergessen.

3. Die Zuverlässigkeit der Einkommensangaben hängt von der auskunftgebenden Person im Haushalt ab.

Für einige Verzerrungen ergeben sich aufgrund des gleichzeitigen Vorliegens individueller Einkommensangaben Korrekturmöglichkeiten. Wir haben dazu aus den Individualangaben aller Haushaltsmitglieder die Summe aller Nettoeinkünfte im Haushalt aus Arbeits-und Renteneinkommen errechnet. Sofern diese die direkten Angaben bezüglich der Höhe des verfügbaren Einkommens im Haushalt überstiegen, wurde die errechnete Größe als beste Näherung an das reale Haushaltseinkommen angenommen.

Das generell niedrigere Niveau der verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte, das bei direkt erfragten Einkommen im Vergleich zu Rückrechnungen aus den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen der amtlichen Statistik immer zu beobach-ten ist bleibt auch bei der hier angewandten Berechnungsweise erhalten (vgl. Tabelle 1). Die Angaben der amtlichen Statistik auf der Basis von Jahreseinkommen übersteigen die monatlich ausgewiesenen Beträge des SOEPs um mehr als das löfache. Die Abweichungen von dem im Mittel etwa 13fachen Monatseinkommen im Vergleich zu den Jahresangaben dokumentieren die erhebungsbedingten Einkommensunterschiede.

Das Einkommen der Nichterwerbstätigenhaushalte mit überwiegendem Lebensunterhalt der Bezugs-person aus Sozialhilfe hegt in der amtlichen Statistik bei ca. 40 bis 45 Prozent der Durchschnittseinkommen. Dies entspricht in etwa dem hier zugrundeliegenden Schwellenwert des relativen Armutskonzeptes von 50 Prozent des Medianeinkommens.

Um Bedarfsunterschiede und Kostenvorteile bei Haushalten unterschiedlicher Größe auszugleichen, werden diese Einkommensangaben weiter in sogenannte Äquivalenzeinkommen umgerechnet. Das Ausgangsproblem läßt sich anhand folgender Frage illustrieren: Welches Einkommen eines Familienhaushalts mit zwei Kindern ist wohlstandsäquivalent zu dem Einkommen eines Einpersonenhaushalts von 1000 DM? Wird als Einkommensbedarf eines Haushaltes, unabhängig von seiner Zusammensetzung, ein absoluter Einkommensbetrag festgelegt, so wäre die Antwort: ebenfalls 1000 DM, d. h., daß der Mehrbedarf für jede weitere Person im Haushalt den Faktor (das Bedarfsgewicht) 0 hätte. Wird anstelle des absoluten Einkommensbetrags das Pro-Kopf-Einkommen zugrunde gelegt, so erhielte der Mehrbedarf für jede weitere Person im Haushalt den Faktor 1; das wohlstandsäquivalente Einkommen eines vierköpfigen Familienhaushalts, verglichen mit dem Ein-personen-Haushalt von 1000 DM, läge dann bei 4000 DM. Pro-Kopf-Einkommen und absoluter Einkommensbetrag sind die beiden Extrem-punkte, zwischen denen das „reale Wohlstands-äquivalent“ anzusiedeln ist Der Mehrbedarf für jede weitere Person wird in der vorliegenden Berechnung in Abhängigkeit vom Alter der Person mit einem Faktor zwischen 0, 45 und 0, 90 angesetzt. Die Bedarfsgewichte sind den Regelsatzproportionen der bundesdeutschen Sozialhilferegelung (Stand 1989) entnommen: Das wohlstandsäquivalente Einkommen eines vierköpfigen Familienhaushalts mit zwei Kindern unter sieben Jahren läge dann -verglichen mit dem Einkommen eines Einpersonenhaushalts von 1000DM -bei 2700DM (1000DM x [1 + 0, 8 + 0, 45 + 0, 45]).

Das allgemeine Äquivalenzeinkommen wird berechnet, indem die absoluten Einkommen durch die Summe der personellen Bedarfsgewichte dividiert werden. Als Ergebnis erhält man ein unter Bedarfsgesichtspunkten erweitertes Pro-Kopf-Einkommen. Dieses Einkommen gibt das wohlstands-äquivalente Einkommensniveau aller Haushalte an und ist Grundlage für die Ableitung einer Armutsgrenze unter Berücksichtigung der gesamten Einkommensverteilung bei unterschiedlichen Haushaltszusammensetzungen.

Tabelle 2 gibt die durchschnittlichen Absolut-und Pro-Kopf-Beträge der Haushaltseinkommen seit 1984 auf der Basis der Personen im SOEP wieder. Ferner sind hier die zur Berechnung der Armutsgrenzen ermittelten Äquivalenzeinkommen sowie die durchschnittliche Bewertung der Einkommens-verhältnisse seit 1984 ausgewiesen.

Die Armutsgrenzen wurden für West-und Ostdeutschland getrennt berechnet. Für die Berechnung der Armutsgrenzen in der ehemaligen DDR wurde ein Einkommensbetrag simuliert, der der mittleren Einkommenszufriedenheit (6, 6 Punkte auf einer Skala von 0 bis 10) vor der deutschen Vereinigung in Westdeutschland entspricht. Auf diese Weise wird dem Umstand Rechnung getragen, daß aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Angleichung der Lebensverhältnisse das Referenz-niveau des Wohlstandes gemäß der relativen Armutsbetrachtung noch unterhalb des westlichen Wohlstandsniveaus liegt. Bei Zugrundelegung einer gemeinsamen Einkommensbasis käme esalso zu einer Überschätzung der Armut in den neuen Bundesländern und zu einer relativen Verharmlosung der Armutsproblematik in den alten Bundesländern. Andererseits würde das alleinige Heranziehen der Einkommensverhältnisse in Ostdeutschland der bereits vollzogenen Angleichung der Lebensbedingungen nicht gerecht und hätte eine Unterschätzung des Armutsausmaßes in Ostdeutschland zur Folge. Nach dieser Berechnungsweise entspricht das für die Bestimmung von Armutsquoten in Ostdeutschland zugrunde gelegte Einkommensniveau im Jahr 1992 in etwa dem nominalen Einkommensniveau in Westdeutschland aus dem Jahr 1985.

IV. Betroffenheit, Dauer und Ausmaß der Armut

Tabelle 2: Eckdaten zur Bestimmung der Armutsgrenze mit dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) in West- und Ostdeutschland

1. Betroffenheit von Armut

In Tabelle 3 sind die jährlichen Armutsraten in Westdeutschland von 1984 bis 1991 sowie in Ostdeutschland von 1990 bis 1992 ausgewiesen. Die Armutsraten schwanken nach der hier zugrundeliegenden Berechnungsweise (Armutsgrenze der EG-Definition: 50 Prozent des Medianeinkommens) zwischen 1984 und 1992 zwi-sehen 6 Prozent und 8 Prozent bezogen auf die Wohnbevölkerung in Westdeutschland. Die entsprechenden Raten der 40-Prozent-Grenze, die eine strenge Armut kennzeichnen, liegen bei etwa 3 Prozent der Wohnbevölkerung. Im Niedrigeinkommensbereich der 60-Prozent-Grenze leben zwischen 12 und 15 Prozent der Bevölkerung.

Die Armutsraten in Ostdeutschland liegen im Ausgangsjahr 1990 noch deutlich niedriger. Dies hängt neben einer etwas gleichmäßigeren Einkommens-verteilung auch mit dem wesentlich niedrigeren Wohlstandsniveau zusammen. Wie bereits aus Tabelle 2 ersichtlich wird, ist ein deutliches Wachstum der Einkommen der privaten Haushalte in Ostdeutschland seit 1990 zu verzeichnen. In mindestens gleichem Umfang sind aber auch die Referenzeinkommen gestiegen, die das aus der Sicht der Bevölkerung notwendige Einkommensniveau zur Realisierung des Angleichungsprozesses markieren. Die Armutsraten haben sich zwischen 1990 und 1992 hier mehr als verdoppelt. Sie liegen gegenwärtig knapp unter dem Armutsniveau in Westdeutschland.

2. Dauer der Armut

Aussagen über die Dauer der Armut sind wesentlich von der Betrachtungsweise abhängig. So ergeben sich Unterschiede je nachdem, ob die Gesamtbevölkerung, die gerade in Armutsperioden lebt, oder ob individuelle Armutsverläufe von Beginn an betrachtet werden. In Tabelle 4 sind beide Betrachtungsweisen für unterschiedliche Armutsgrenzen in Westdeutschland ausgewiesen.

Mehr als ein Fünftel der westdeutschen Bevölkerung hat demnach zwischen 1984 und 1991 mindestens einmal in Armut gelebt. Etwa die Hälfte der Armutsperioden treten nur einmal auf. Die überwiegende Zeit in Armut verbringen je nach Betrachtungsweise zwischen 13 Prozent und 24 Prozent der Armen, das sind zwischen 2, 1 und 4, 5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Personen, die bereits Armutsperioden aufweisen, sind überproportional durch Langzeitarmut gefährdet. Perioden strenger Armut sind durchschnittlich kürzer als Perioden im Niedrigeinkommensbereich. In Tabelle 5 sind Armutsverläufe im Drei-Jahres-Zeitraum für West-und Ostdeutschland vergleichend wiedergegeben.

Die Armutsperioden in Westdeutschland zwischen 1984 und 1986 unterscheiden sich kaum von denen zwischen 1989 und 1991: In beiden Zeitperioden waren jeweils etwa 15 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Tendenziell ist ein leichter Rückgang längerer Armutsperioden zu beobachten. Die Verlaufsinformationen in Ostdeutschland sind aufgrund des geringen Armutsniveaus im Ausgangsjahr 1990 nur schwer mit den westdeutschen Armutsperioden vergleichbar. Trotz geringer Armutsraten im Ausgangsjahr liegt die Betroffenheit von Armut über den gesamten Drei-Jah-res-Zeitraum 1990-1992 bereits in der Nähe des westdeutschen Wertes bei 11 Prozent und damit etwa doppelt so hoch wie die Armutsrate im Jahr 1992. Dieses Verhältnis entspricht auch der westdeutschen Relation: 7 Prozent der Bevölkerung sind jährlich von Armut betroffen, etwa 15 Prozent im Drei-Jahres-Zeitraum und 22 Prozent im Acht-Jahres-Zeitraum.

3. Ausmaß der Armut

In Tabelle 6 sind Einkommen und Mietbelastung der Armen in Relation zum Bevölkerungsdurchschnitt für West-und Ostdeutschland wiedergegeben.

Die Äquivalenzeinkommen der Armen betragen in Westdeutschland zwischen 1984 und 1991 etwa 36 Prozent des Bevölkerungsdurchschnitts. In Ostdeutschland liegen die entsprechenden Anteile aufgrund der Armutsberechnung auf der Basis von Referenzeinkommen etwas höher. Die Einkommen der Armen sind dort also weniger weit von dem insgesamt allerdings niedrigeren Durchschnittseinkommen entfernt. Die Arbeitseinkommen der Armen belaufen sich in Westdeutschland auf weniger als 60 Prozent der durchschnittlichen Nettolöhne. In Ostdeutschland sind die entsprechenden Werte zwischen 1990 und 1992 von 75 Prozent auf 62 Prozent gesunken. Bei der Altersrente sind in Westdeutschland die Einkommensabstände der Armen von den Durchschnittsleistungen noch größer. Sie liegen zwischen 1984 und 1987 knapp unter 50 Prozent und sind bis 1991 auf 43, 5 Prozent gefallen. In Ostdeutschland haben die Erhöhungen der Renten zwischen 1990 und 1991 zu einer kurzfristigen Verminderung des Abstandes der Renteneinkommen der Armen von der Durchschnittsleistung geführt. Der -verglichen mit Westdeutschland -hohe Ausgangswert von 70 Prozent, der sich allerdings aus einem sehr niedrigen allgemeinen Leistungsumfang bereits vor 1990 herleitet, hat sich 1991 auf 90 Prozent erhöht, ist aber 1992 wieder rückläufig. Er beträgt jetzt 80 Prozent. Die mittleren Wohnungsmieten der Armen lagen in Westdeutschland 1984 bei 80 Prozent der Durchschnittsmiete. Dieser Wert ist bis 1991 auf nahezu 90 Prozent gestiegen, d. h., Arme zahlen nunmehr nahezu dieselben Mietbeträge wie Durchschnittseinkommensbezieher. Eine ähnliche Entwicklung war auch in Ostdeutschland bei einem allerdings weitaus niedrigeren Mietniveau zu beobachten. Die Mietbelastungen betragen in Westdeutschland durchschnittlich 20 Prozent des Haushaltseinkommens. Die Armen müssen dagegen etwa ein Drittel ihres Einkommens für Miete aufwenden. Die durchschnittliche Mietbelastung in Ostdeutschland lag zwischen 1990 und 1991 bei etwa 4 Prozent. Sie ist nach der inzwischen eingetretenen Mietenerhöhung auf 13, 4 Prozent angestiegen. Arme sind in Ostdeutschland überproportional von Mietenerhöhung betroffen. Ihre Mietbelastung liegt 1992 bereits über dem westdeutschen Durchschnittswert.

V. Sozio-Demographie der Armut

Tabelle 3: Anteile der von Armut Betroffenen in West-und Ostdeutschland nach unterschiedlichen Armutsgrenzen: 1984-1992

In den Tabellen 7 und 8 sind summarisch Betroffenheit und Dauer von Armut unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen für West-und Ostdeutschland vergleichend wiedergegeben.

Geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich Betroffenheit und Dauer von Armut sind in Ost-und Westdeutschland kaum feststellbar. Die alters-abhängige Betroffenheit von Armut hat sich in Westdeutschland zwischen 1984 und 1991 etwas gewandelt. Vor allem Ältere weisen in jüngerer Zeit geringere Armutsquoten auf. Unverändert hoch sind hingegen die Armutsraten bei Kindern unter 16 Jahren. Über 10 Prozent dieser Altersgruppe leben in armen Familien. 25 Prozent dieser Personengruppe waren im Drei-Jahres-Zeitraum von Armut betroffen, die Hälfte davon mehrfach. In Ostdeutschland hat die schon erwähnte Rentenerhöhung die Altersarmut praktisch verschwinden lassen. Demgegenüber haben sich die Armutsquoten für die jüngeren Altersgruppen teils mehr als verdoppelt.Ausländer in Westdeutschland sind mehr als doppelt so stark von Armut betroffen wie Deutsche. Darüber hinaus sind ihre Armutsperioden von längerer Dauer. Bei der Differenzierung nach Bil­ dungsabschlüssen ergeben sich in West und Ost die erwarteten Unterschiede: hohe Betroffenheit und längere Dauer bei niedrigeren im Vergleich zu höheren Bildungsabschlüssen. Die Armutsquotender Ledigen und Verwitweten sind in Westdeutschland seit 1984 rückläufig, wogegen sich die Armutsbetroffenheit der Geschiedenen eher erhöht hat. Bei Verwitweten in Ostdeutschland hat sich Armutsbetroffenheit verringert. Ledige und Geschiedene weisen neuerdings gemeinsam die höchsten Quoten auf. Arbeitslose sind in Westdeutschland und seit 1992 auch in Ostdeutschland von einer fünfmal so hohen Armutsrate wie die Erwerbstätigen betroffen. Die Armutsraten von den in Ausbildung Befindlichen übersteigen die der Erwerbstätigen um das Dreifache. Regionale Armutsquoten sind im Zeitverlauf eher instabil.

VI. Armut im Haushaltskontext und Lebenszyklus

Tabelle 4: Dauer der Armut in Westdeutschland, 1984-1991

In Tabelle 9 wird die Betroffenheit von Armut unter der Perspektive der Haushaltszusammensetzung und des Familienzyklus wiedergegeben.

Die Betroffenheit von Armut ist unter dieser Perspektive weitgehend stabil. Strukturunterschiede zwischen Ost-und Westdeutschland sind kaum zu beobachten. Armut tritt überproportional in großen Haushalten auf. Mit zunehmendem Alter des Haushaltsvorstandes sinkt die Armutsrate. Jüngere Kinder leben am häufigsten von allen Personengruppen in Haushalten, die von Armut betroffen sind. Die hohe Armutsbetroffenheit von Haushalten mit weiteren Haushaltsmitgliedern über 65 Jahren hat sich zwischen 1984 und 1991 in Westdeutschland deutlich verringert. In Ostdeutschland tritt diese Personenkonstellation praktisch nicht auf. Unter allen berücksichtigten Personengruppen sind Alleinerziehende mit Abstand am höchsten von Armut betroffen. Dies gilt in West-und Ostdeutschland gleichermaßen für alle hier betrachteten Zeitpunkte.

Im Familienzyklus einer Standardbiographie ergeben sich jeweils typische Phasen, die in unterschiedlicher Weise mit Armutsrisiken einhergehen. Die junge, sich meist in Ausbildung befindliche Person im Ein-Personen-Haushalt weist hohe Betroffenheit von Einkommensarmut auf. Diese reduziert sich auf ein Minimum beim Übergang zum Partnerhaushalt von typischerweise zwei potentiell Erwerbstätigen mit abgeschlossener Berufsausbildung. Der Übergang zum Familienhaushalt birgt wiederum erhebliche Armutsrisiken, die sowohl mit den zusätzlichen Mehrausgaben als auch den eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten verbunden sind. Nach dem Auszug der Kinder aus dem Haushalt beginnt die nachelterliche Gefährtenschaft mit deutlich verringerten Armutsrisiken, die sich allerdings mit dem Tod des Partners und dem damit verbundenen Übergang zum Ein-Personen-Haushalt wieder erhöhen.

VII. Armut und Lebensbewertung

Tabelle 5: Dauer der Armut in West-und Ostdeutschland im Vergleich

Die Entwicklung der Einkommenszufriedenheit in Ostdeutschland steht in gewissem Kontrast zur Entwicklung der verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte (vgl. Tabelle 2): Trotz deutlicher Erhöhung der Haushaltseinkünfte seit 1990 hat sich die Bewertung der Einkommen spürbar verschlechtert. Eine Erklärung für diese gegenläufige Entwicklung, der auch die allgemeine Lebenszufriedenheit folgt, liegt mit Blick auf die Arbeitsmarktentwicklung vor allem in der mangelnden Sicherheit der Arbeitseinkommen, die das Wohlstandsniveau aller Haushaltsmitglieder tangiert. Beim Vergleich der Armen mit dem Bevölkerungsdurchschnitt ergeben sich die zu erwartenden Unterschiede im Zufriedenheitsniveau (vgl. Tabelle 10).

Die Mittelwerte der Einkommenszufriedenheit liegen bei den Armen deutlich unter denen des Bevölkerungsdurchschnitts. Der Anteil der mit ihrem Einkommen unzufriedenen Armen schwankt in Westdeutschland im Zeitraum von 1984 bis 1991 zwischen 40 und 50 Prozent. In Ostdeutschland wird aufgrund des niedrigen Wohlstands-niveaus das Einkommen" von vornherein subjektiv niedriger bewertet. Der Unzufriedenheitsanteil bei der von Armut betroffenen Bevölkerung stieg zwischen 1990 und 1992 von 53 auf über 70 Prozent. Die Bewertung der Einkommenssituation hat direkte Auswirkungen auf die Beurteilung des Lebens insgesamt. Entsprechend sind Arme weitaus häufiger mit ihrem Leben unzufrieden als der Bevölkerungsdurchschnitt. In Ostdeutschland lag der Anteil der mit dem Leben unzufriedenen Armen im Jahr 1990 etwa bei den Vergleichswerten in Westdeutschland zwischen 13 und 14 Prozent. Dieser Anteil ist ab 1991 auf über 30 Prozent angestiegen. Die Sicherung der Einkommen und materiellen Lebensgrundlagen hat offenkundig im Laufe des Angleichungsprozesses in Ostdeutschland in erheblichem Maße an Bedeutung gewonnen.

Hinsichtlich der Dauer von Armut ergeben sich divergierende Auswirkungen auf Einkommens-undLebenszufriedenheit. Nicht von Armut Betroffene beurteilen ihre Einkommenssituation wesentlich positiver als Arme. Dies gilt auch für die Beurteilung des Lebens insgesamt. Mit zunehmender Dauer der Armut nimmt die Unzufriedenheit mit dem Einkommen weiter zu. Die Bewertung des Lebens insgesamt bleibt jedoch auf niedrigem Niveau nahezu stabil.

VIII. Resümee

Tabelle 6: Ausmaß der Armut in West- und Ostdeutschland nach Einkommensarten und Mietbelastung

Die vorliegenden empirischen Ergebnisse zur Einkommensarmut in den alten und neuen Bundesländern beruhen auf dem Konzept der relativen Armutsmessung. Armut wird demnach definiert in Relation zum bestehenden Wohlstandsniveau in der Bundesrepublik. Dem Prozeß der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ostdeutschland wird innerhalb dieses Konzeptes durch Berücksichtigung der Einkommenszufriedenheit Rechnung getragen.

Im Ergebnis hat sich das Ausmaß der Armut in Ostdeutschland -ausgehend von einem sehr geringen Armutsniveau im Jahre 1990 -deutlich erhöht. Die Betroffenheit von Armut liegt nach vorläufigen Berechnungen im Jahr 1992 mit 5, 6 Prozent knapp unter dem westdeutschen Niveau. Im Zeitraum von drei Jahren zwischen 1990 und 1992 waren 11 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung mindestens einmal in Armut geraten. In Westdeutschland waren etwa 7 Prozent der Bevölkerung jährlich von Armut betroffen, etwa 15 Prozent im Drei-Jahres-Zeitraum und etwa 22 Prozent im Acht-Jahres-Zeitraum zwischen 1984 und 1991.Die durchschnittlichen Arbeits-und Renteneinkommen der Armen liegen in Westdeutschland bei knapp 60 Prozent bzw. knapp 50 Prozent der entsprechenden Durchschnittseinkommen. Ihre Mietausgaben betragen jedoch 80 bis 90 Prozent der Durchschnittsmieten. Die durchschnittliche Mietbelastung der Armen liegt bei über 30 Prozent im Vergleich zu 20 Prozent der Bezieher von Durchschnittseinkommen.

In Ostdeutschland ist eine schrittweise Angleichung des Verhältnisses von Einkommen zu Mietbelastung an das westdeutsche Muster zu beobachten. Die Einkommensabstände zwischen Armen und der Durchschnittsbevölkerung sind gegenwärtig noch wesentlich günstiger als in Westdeutschland -bei allerdings niedrigerem Wohlstandsniveau.

Bei der Differenzierung nach sozio-demographischen Merkmalen sind vor allem die hohen Armutsquoten der jüngeren Altersgruppen in West-und neuerdings auch in Ostdeutschland bemerkenswert. Die schnelle, weitgreifende Erhöhung der Altersrenten hat die Altersarmut in Ostdeutschland nahezu beseitigt. Ein-Eltem-Haushalte sind in Ost und West zu allen Betrachtungszeitpunkten in hohem Maße von Armut betroffen. Die Einkommens-und Lebensverhältnisse werden von Armen deutlich schlechter bewertet als im Bevölkerungsdurchschnitt. Der allgemeine Verlauf der Einkommens-und Lebensbewertung in Ostdeutschland steht in gewissem Kontrast zur Entwicklung der verfügbaren Einkommen. Dem Aspekt der materiellen Sicherheit kommt in dieser Phase des Transformationsprozesses eine überproportionale Bedeutung zu.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Stein Ringen, Direct and indirect measures of poverty, in: Journal of Social Policy, 17 (1988), S. 351-366.

  2. Vgl. Aldi J. M. Hagenaars/Klaas de Vos, The Definition and Measurement of Poverty, in: The Journal of Human Resources, 23 (1988) 2, S. 211-221; Ruud Muffels/Jos Berghman, The Incidence and Evolution of Poverty in the 80s, Discussion Paper, Doc No HI 7, Tilburg 1991; David Piachaud, Problems in the Definition and Measurement of Poverty, in: Journal of Social Policy, 16 (1987) 2, S. 147-164; Christian Seidl, Poverty Measurement: A Survey, in: D. Bös/M. Rose/Ch. Seidl (Hrsg.), Welfare and Efficiency in Public Economies, Berlin-Heidelberg 1988.

  3. Vgl. Robert W. Kilpatrick, The Income Elasticity of the Poverty Line, in: The Review of Economics and Statistics, 55 (1973), S. 327-332; Aldi J. M. Hagenaars, The Perception of Poverty, Amsterdam 1986.

  4. Vgl. Richard Hauser/Helga Cremer-Schäfer/Udo Nouvertuä, Armut, Niedrigeinkommen und Unterversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Bestandsaufnahme und sozialpolitische Perspektiven, Frankfurt/Main, 1981. Sie unterscheiden für Deutschland nach strenger (40 Prozent des Durchschnittseinkommens), mittlerer (50 Prozent) und geringer (60 Prozent) relativer Einkommensarmut.

  5. Diese Auswertung wäre ohne die sehr schnelle Vorablieferung der Daten vom Erhebungsinstitut Infratest Sozialforschung München nicht möglich gewesen.

  6. Die Anstaltsbevölkerung wird im Sozio-ökonomischen Panel nur über das Weiterverfolgungskonzept erfaßt; sie gehört nicht zur ursprünglichen Stichprobenpopulation.

  7. Vgl. Klaus-Dietrich Bedau, Einkommensverteilung, in: Hans-Jürgen Krupp/Jürgen Schupp (Hrsg.), Lebenslagen im Wandel: Daten 1987, Frankfurt/M. 1988, S. 61-87.

  8. Vgl. Brigitte Buhmann u. a., Equivalence Scale, Well-Being, Inequality, and Poverty: Sensitivity Estimates Across Ten Countries Using The Luxembourg Income Study (LIS) Database, in: Review of Income and Wealth, 34 (1988) 2, S. 115-142.

Weitere Inhalte

Peter Krause, Diplom-Soziologe, geboren 1956; Studium der Sozialwissenschaften in Mannheim; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Das Sozio-ökonomische Panel“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin. Veröffentlichungen u. a.: (Zus. mit Bruce Headey und Roland Habich) Armut im Reichtum -Ist die Bundesrepublik Deutschland eine Zwei-Drittel-Gesellschaft?, in: Ulrich Rendtel und Gert Wagner (Hrsg.), Lebenslagen im Wandel. Zur Einkommensdynamik in Deutschland seit 1984, Frankfurt/M. -New York 1991; Einkommensentwicklung der privaten Haushalte in Ostdeuschland, in: Deutschland Archiv, 25 (1992), 3; (zus. mit Frank Klanberg und Aloys Prinz) Einkommenssicherung in Familien mit einem Eltemteil, in: Notburga Ott und Gert Wagner (Hrsg.), Familie und Erwerbstätigkeit im Umbruch. Referate der Herbsttagung 1991 des Arbeitskreises Bevölkerungsökonomie der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft, Sonderheft 148, Berlin 1992; Akkomodationsmechanismen im ostdeutschen Transformationsprozeß, in: Wolfgang Glatzer und Heinz-Herbert Noll (Hrsg.), Lebensverhältnisse in Deutschland: Ungleichheit und Angleichung, Frankfurt/M. -New York 1992.