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„What About Bonn?“ | Bonn | bpb.de

Bonn Editorial Die Bonner und ihre Republik „What About Bonn?“. Bonns Platz in der deutschen Geschichte Spuren rheinischer Demokratie. Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz Cocktail bei Konrad. Im ehemaligen Regierungsviertel von Bonn Bonner Republik – Begriff, Verortung und Erzählung Politik an Tisch und Tresen. „Lokal-Politik“ in Bonn zu Hauptstadtzeiten Bonn – Ein historisches Stadtporträt

„What About Bonn?“ Bonns Platz in der deutschen Geschichte

Benedikt Wintgens

/ 16 Minuten zu lesen

Bonn war ein außergewöhnlicher Parlaments- und Regierungssitz, der zum dezentralen Charakter der alten Bundesrepublik passte. Viele am Rhein gelegte politische Fundamente tragen bis heute, weshalb die Bonner Republik als Zäsur in der deutschen Geschichte gelten kann.

Bonn war eine außergewöhnliche Hauptstadt. Auch wenn es heute in Berlin fast merkwürdig erscheint: Fünfzig Jahre lang, von 1949 bis 1999, wurde die Bundesrepublik von einer eher kleinen Großstadt im Rheinland aus regiert, einer ehemaligen Residenzstadt, die man im 19. Jahrhundert als Ausflugsziel entdeckt hatte, vor allem aber mit dem Ruf ihrer Universität in Verbindung brachte. 1948/49 zog dann mit dem Parlamentarischen Rat und anschließend dem Bundestag die große Politik nach Bonn – zunächst zumindest das, was nach dem Nationalsozialismus und im Ost-West-Konflikt davon übriggeblieben war. Denn Berlin kam angesichts der sowjetischen Blockade und der westalliierten Luftbrücke nicht als Hauptstadt einer Bundesrepublik infrage, die vorerst nur aus den drei westdeutschen Besatzungszonen gebildet wurde.

Allerdings sollte Bonn nie eine echte Hauptstadt werden, und zwar gerade wegen der deutschen Zweistaatlichkeit. Entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“, hielten die westdeutschen Regierungen am Ziel der Wiedervereinigung sowie einer ungeteilten deutschen Hauptstadt Berlin fest. Für Bonn fand man andere, zurückhaltende Umschreibungen, die das Wort Hauptstadt bewusst vermieden oder einschränkten: „Sitz der Bundesorgane“ und „Bundessitz“ hieß es zuerst, oft ergänzt um den Zeitbegriff „vorläufig“.

„Bundeshauptstadt Bonn“ lautete die Bezeichnung, als die Konsolidierung des westdeutschen Staates weit fortgeschritten war und das Provisorium Bestand zu haben schien, wohlgemerkt als Bundesrepublik. Und die Begriffsgeschichte überdauerte sogar die Rückkehr von Parlament und Regierung ins wiedervereinigte Berlin. Das im Frühjahr 1994 vom Bundestag verabschiedete Bonn-Berlin-Gesetz etablierte neben zahlreichen Ausgleichs- und Übergangsregeln die „Bundesstadt Bonn“.

Hauptstadtbilder

Als Hauptstadt im vollen Wortsinn wirkte Bonn aber auch nicht, wenn man darunter neben der politischen Bedeutung die ökonomische Kraft oder kulturelle Ausstrahlung einer Metropole versteht. Mit beidem war es in Bonn, wo vor der Zusammenlegung unter anderem mit den bis 1969 eigenständigen Nachbargemeinden Bad Godesberg und Beuel kaum mehr als 125000 Menschen lebten, nicht weit her. Weder in Wirtschaft und Industrie noch in Kunst und Kultur, nicht in den Medien und nicht mal in der Wissenschaft war Bonn das Zentrum der Bundesrepublik. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die weit großstädtischer geprägten Orte an Rhein und Ruhr sowie im Rhein-Main-Gebiet in kurzer Zeit erreichbar waren.

So zeichnete sich die Bonner Republik durch einen polyzentrischen Charakter aus. Die Hauptstadt Bonn hatte primär eine politische Funktion als Tagungsort des demokratisch gewählten deutschen Parlaments und als Sitz der Regierung – wobei im bundesrepublikanischen Föderalismus auch Landeshauptstädte wie München und Düsseldorf beträchtlichen Einfluss hatten. Bonn war Hotspot der westdeutschen Politik, und „Bonn“ wurde zum Synonym der Entscheidungsprozesse in der Bundesrepublik. In diesem Kontext kamen die vier Buchstaben des Stadtnamens alltäglich in den Nachrichten zur Sprache, im Fernsehen untermalt mit Bildern dunkler Limousinen, die in der Parklandschaft am Kanzleramt vorfuhren, oder Redeszenen aus dem Plenarsaal des Deutschen Bundestages.

In Europa gehört zu einem modernen Territorial- oder Nationalstaat scheinbar selbstverständlich die Existenz einer Hauptstadt als historisch gewachsenes und dauerhaftes Zentrum, als symbolischer, aber auch realer Kristallisationspunkt von Staat und Nation, wie es in idealtypischer Weise Paris oder London darstellen. Aus einer Vielzahl von Gründen, insbesondere wegen der deutschen Teilung, konnte Bonn – nach 1949 die jüngste Hauptstadt Westeuropas – diese Entwicklung nicht nachholen. Bonn war nämlich nicht in Jahrzehnten oder Jahrhunderten zur Kapitale herangereift, sondern wurde binnen weniger Monate aufgrund des Gegensatzes zwischen dem demokratisch-marktwirtschaftlichen Westen und den kommunistischen Diktaturen im sowjetischen Machtbereich zum Parlaments- und Regierungssitz bestimmt. Um ein weiteres Mal die nach der Wiedervereinigung 1990 neu formulierte Präambel des Grundgesetzes zu zitieren: Am Rhein galt es, „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“.

In diesem Sinne war Bonn eher Arbeitsplatz für die Politik als deren Bühne. Auch die barocken Repräsentationsorte der früheren Residenzstadt – die Schlösser der Kölner Fürsterzbischöfe in Bonn und Poppelsdorf – gehörten zur Universität. Im Parlamentsviertel, das in der Gronau abseits der Innenstadt lag, beschrieben Journalisten wie Hermann Rudolph dagegen immer wieder die nüchterne Atmosphäre einer Geschäftsstelle: „[A]ls Stadt bleibt Bonn dafür kaum weniger Hintergrund als die idyllische Kulisse des Siebengebirges, die den Blick nach Süden zu abschließt.“

Der Weg nach Bonn

Die Entstehung der Bundesrepublik war eine Staatsgründung in Stufen. Die US-amerikanische Wirtschaftshilfe mit dem Marshallplan, die Einführung der D-Mark 1948 und die Aufnahme ins westliche Verteidigungsbündnis 1955, die mit der Übertragung wichtiger Befugnisse von den früheren Besatzungsmächten auf westdeutsche Akteure verbunden war, kennzeichnen wichtige Wegmarken vor und nach der Verfassungsgebung. Der Parlamentarische Rat, die erste Bundestagswahl 1949 und die Konstituierung der Bundesorgane in Bonn waren in diesem Prozess zwar entscheidende Etappen, zeitgenössisch aber wurden sie von vielen nicht als tiefe Zäsur wahrgenommen, zumal die vereinten Besatzungszonen beziehungsweise Länder keinen voll souveränen Staat gründeten.

Daher spielten bei der Wahl Bonns zum Tagungsort des Parlamentarischen Rates neben der Weltpolitik, die den Weg nach Berlin versperrte, der Zufall, pragmatische Übergangslösungen und Absprachen mit den Alliierten eine entscheidende Rolle; auch die Interessen der Landesregierungen kamen zur Geltung. Nach einer Konferenz der Ministerpräsidenten in Koblenz, das zur französischen Besatzungszone gehörte, und nachdem sich eine Expertenkommission auf der Herreninsel im Chiemsee in der amerikanischen Zone beraten hatte, waren nun die Briten und Nordrhein-Westfalen an der Reihe. In London hatten Diplomaten schon 1946 über die mögliche Zentrale eines westdeutschen Staates nachgedacht und die Vorzüge einer Stadt betont, die im Zweiten Weltkrieg weniger zerstört worden war als die großen Industriestädte – „what about Bonn?“

Transitraum

Die politische Kulturgeschichte deutscher Hauptstadtpolitik im 20. Jahrhundert wurde bislang nicht geschrieben. Bei ihrem rheinischen Kapitel wären die internationalen Rahmenbedingungen ebenso zu berücksichtigen wie innen- und parteipolitische Veränderungsprozesse, außerdem geografisch geprägte Geschichtsbilder und kulturelle Deutungsmuster. Als teilsouveränes Provisorium gestartet, galt die Bonner Republik vielen als Übergangslösung auf dem Weg zu einem wiedervereinigten deutschen Nationalstaat in Berlin oder zu einem europäisch-supranationalen Verbund mit Sitz in Brüssel. Als Transitorium eignete sich die kleine Stadt am großen Fluss perfekt. Auch die ihr und ihren Gebäuden immer wieder zugeschriebenen Charaktereigenschaften von Bescheidenheit und Funktionalität im Stil der internationalen Nachkriegsmoderne korrespondierten mit dem fluide-dezentralen, rheinischen Charakter der alten Bundesrepublik. „Der Bonner Raum“, so hatte es schon 1953 der Architekt Josef Wolff formuliert, sei „mehr die Herberge als die Hauptstadt der Regierung des Bundes“.

Bis in die Neunzigerjahre blieb Bonn die improvisierte Zentrale einer sich als provisorisch verstehenden Bundesrepublik. Sie war insofern auch der sinnfällige Ausdruck der „deutschen Frage“ von Nationalstaatlichkeit und Demokratisierung nach 1945. Wie war es möglich, dass aus den Trümmern des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs ein freiheitlich-demokratisches, wohlhabendes und weithin angesehenes Land wurde? „Bonn, die Bonner Demokratie, hat in der ganzen Welt Positives geleistet, Positives gezeigt“, bilanzierte 1993 der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser und hob als herausragende Eigenschaften die Bonn eigene Bescheidenheit und die Westorientierung hervor.

Neubeginn des Parlamentarismus

Das 1948/49 in der Pädagogischen Akademie verhandelte Grundgesetz hatte das Parlament ins Zentrum der politischen Prozesse gestellt. In der stark repräsentativ verfassten deutschen Demokratie ist der Bundestag das einzige direkt von den Staatsbürgerinnen und -bürgern gewählte Verfassungsorgan auf Bundesebene und soll die Volkssouveränität verwirklichen. Im und um das Parlament am Rheinufer wurden in politischer Hinsicht die Fundamente gelegt, auf denen die Bundesrepublik zu wesentlichen Teilen bis heute steht. Dies betrifft erstens die institutionelle Ebene, wenn man an die Interaktion des Parlaments mit der Bundesregierung sowie den Länderregierungen im Bundesrat oder an die Gründung des Bundesverfassungsgerichts denkt. Es gilt zweitens inhaltlich, weil verschiedene Grundentscheidungen bis heute – angepasst und erneuert – weiter wirken, allen voran Marktwirtschaft und Sozialstaat, der Prozess der europäischen Einigung und die Sicherheitspolitik in der westlichen Verteidigungsgemeinschaft. Zum Dritten gibt es organisatorische wie kulturelle Traditionslinien wie die Arbeitsweisen, den Debattenstil und das Selbstverständnis der Abgeordneten. Veränderungen zeigen sich vor allem im Parteiensystem und in der politischen Kultur. Denn die Bonner Republik war gekennzeichnet durch starke Institutionen und organisierte Aushandlungsprozesse, in denen Parteien, Medien und Verbände eine zentrale Rolle spielten. Demokratie wurde in Wahlen gelebt; für den Rest, könnte man zugespitzt sagen, sorgten die Profis in Bonn.

Nach der nationalsozialistischen Diktatur und ihren Menschheitsverbrechen wurde Demokratie in Westdeutschland neu gelernt. Entsprechend verbreitet waren Sprachbilder aus dem Bereich der Bildung (wie Re-Education) oder des Wachstums. Auch dafür bot die umgebaute Pädagogische Akademie, eine vormalige Ausbildungsstätte für Lehrer, auf der grünen Wiese den passenden Rahmen. Nicht nur Bonn war eine ungewohnte Hauptstadt, auch Parlament und Demokratie erinnerten an zarte Pflänzchen. Wie ungewiss und umstritten die Etablierung der frühen Bundesrepublik war, zeigt Wolfgang Koeppens 1953 erschienener Bonn-Roman „Das Treibhaus“, in dem Fremdheitsgefühle in der repräsentativen Demokratie und die Distanz gegenüber dem politischen Betrieb in einer Atmosphäre schwüler Künstlichkeit verdichtet wurden.

Systemkonkurrenz

Die deutsche Geschichte ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Brüchen und tiefgreifenden Veränderungen. Dies prägte vielfach den zeitgenössischen Blick auf den westdeutschen Teilstaat. „Die eigentliche Kontinuität der deutschen Geschichte scheint also zunächst einmal ihre Diskontinuität zu sein“, meinte etwa der Historiker Lothar Gall und erkannte ein Grundmuster der „Kontinuität der Diskontinuität“. Zu anders war nach 1945 beziehungsweise 1949 das, was mit dem Begriff Deutschland bezeichnet wurde; zu deutlich schienen die Kräfteverschiebungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – vor allem aber die Opposition der zwei sich im Innern verfestigenden Staatsgebilde im Westen und Osten. Der weitverbreitete Wunsch nach einem Neuanfang brachte es mit sich, dass Bonn, immerhin römisch-ubischen Ursprungs, eine junge Stadt zu sein schien, während Berlin, das erst nach der Reichsgründung 1871 deutsche Hauptstadt geworden war, mit der Entwicklung von Preußen über das Kaiserreich bis in die letzten Tage von Hitlers Herrschaft in Verbindung gebracht wurde.

Um die Kontinuitäten und Wandlungsprozesse in der Demokratiegeschichte zu diskutieren, werden in Deutschland oft Ortsnamen mit den Republiken in Beziehung gesetzt. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass sich die Bezeichnung „Weimarer Republik“ ausgerechnet in den 1950er Jahren durchgesetzt hat. Zeitgleich erschienen im westeuropäischen Ausland erste Publikationen mit dem Begriffspaar „Bonner Republik“. Dass sich diese Bezeichnung damals jedoch für den neuen westdeutschen Staat nicht etablieren konnte, hatte zwei Gründe: Erstens war die Chiffre „Weimar“ von Politikern und Intellektuellen des Exils als eine abgeschlossene Phase der Geschichte definiert worden und stand im Schatten des Scheiterns der Demokratie 1933. Das zweite Motiv, das gegen die „Bonner Republik“ sprach, war die Existenz des SED-Regimes in der DDR. Denn bis in die 1960er Jahre bezeichnete der Berliner Ortsteil „Pankow“ im Westen die kommunistische Staats- und Parteiführung. Diese Sprechweise hatte den Ursprung in der Tatsache, dass viele SED-Politiker tatsächlich im Nordosten Berlins wohnten – und den Vorteil, dass man in der Bundesrepublik nicht „Ost-Berlin“ sagen musste. Umgekehrt diente „Bonn“ in der Propaganda der DDR als Chiffre für das Feindbild einer konservativ-klerikal-kapitalistischen Filiale des amerikanischen Imperialismus im Westen. In der Summe verwies „Bonner Republik“ vor 1989/90 zumindest implizit sowohl auf den Untergang der Demokratie als auch die Teilstaatlichkeit – und konnte deshalb keine Identifikationskraft entwickeln.

Bonn und Weimar

Der Wunsch nach Abgrenzung bestimmte lange das Bild der Weimarer Republik in Westdeutschland. „Weimar“ wurde als bedrohte, umkämpfte und zum Scheitern gebrachte Demokratie bewertet. Es nach 1945 anders zu machen und die zweite Chance zu nutzen, war die normative Konsequenz. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Formel des Schweizer Journalisten Fritz René Allemann: „Bonn ist nicht Weimar“.

Im Vergleich von Weimar und Bonn wurden vor allem die Unterschiede hervorgehoben, wobei das Grundgesetz als die überlegene Verfassung galt. Noch bevor der Begriff Verfassungspatriotismus geprägt wurde, hatte sich ein Kanon der Bonner Vorzüge herausgebildet: die Stärkung des Parlaments sowie des Bundeskanzlers; der Verzicht auf direktdemokratische Elemente und die Volkswahl des nunmehr fast nur repräsentative Aufgaben ausübenden Staatspräsidenten, der in Weimar größeren, am Ende schädlichen Einfluss gehabt hatte; der Schutz der Grundrechte durch ein Verfassungsgericht sowie das Leitbild einer wehrhaften Demokratie. Seit den 1950er Jahren stimmten Juristen, Historiker und Politikwissenschaftler darin überein, das Nebeneinander von parlamentarischen, präsidentiellen und plebiszitären Elementen sei ein Weimarer Konstruktionsfehler gewesen. Diese Interpretation hatte auch eine entlastende Funktion: Wenn schon die Verfassung wehrlos war, konnte es auf das Verhalten der Wähler oder Eliten nicht so sehr ankommen.

Darüber hinaus wurde der Unterschied zu Weimar zum Zeichen einer über Verfassungsnormen hinausgehenden Erfolgsgeschichte. „Weimar“ stand für eine gespaltene Gesellschaft am Rande des Bürgerkriegs, für politischen Extremismus der Linken und Rechten sowie ein schädliches Freund-Feind-Denken, für Massenarbeitslosigkeit, Inflation und eine unter dem Strich wenig erfolgreiche Außenpolitik. Demgegenüber repräsentierte „Bonn“ die schnelle Etablierung einer antitotalitären Demokratie, eine Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Wohlstand produzierte, einen expandierenden Sozialstaat anstelle von Streiks und Armut und eine Außenpolitik, die auf die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten wie mit den westeuropäischen Nachbarn setzte. In dieser Hinsicht hat sich die Überlegenheit der Bundesrepublik 1989 durch die Wiedervereinigung bestätigt, als die Ostdeutschen sich auf der Straße und in freien Wahlen mehrheitlich für den Beitritt zum westlichen Erfolgsmodell entschieden.

Erfolgsgeschichte Bundesrepublik?

Solange es in Westdeutschland mit Freiheit, Sicherheit und Wohlstand aufwärts ging, kannte der Vergleich mit der Weimarer Republik nur eine Siegerin. Deshalb diente die Abgrenzung von Weimar vor 1933 nicht allein der wissenschaftlichen Erkenntnis; sie war stets auch ein Argument in der öffentlichen Auseinandersetzung. Zugleich wurde die Differenzerzählung der Bonner Republik zur Grundlage der Deutung der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte, die lange die Geschichtsschreibung dominiert hat. Als „Negativfolie“ stärkte Weimar die Selbstanerkennung des westdeutschen Teilstaates, auf dessen Stabilisierung in der ungesicherten Nachkriegszeit die Wenigsten gewettet hätten. Im Kern war „Bonn ist nicht Weimar“ eine Formel des Anders-Seins. So erleichterte die Distinktion von der ersten deutschen Republik den demokratischen Neuanfang nach dem Nationalsozialismus, ungeachtet der zahlreichen personellen Kontinuitäten einer post-nationalsozialistischen Gesellschaft, nicht zuletzt in den Ministerien und Behörden.

Gegenwärtig ist die viele Jahre unter-, ja geringgeschätzte Weimarer Republik so aktuell wie lange nicht. Sie bleibt ein Warnhinweis auf die Gefährdungen der Demokratie und das zerstörerische Potenzial antidemokratischer Kräfte. Zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung aber, vierzig Jahre nach dem Auftakt in Bonn, zog der Zeithistoriker Hans-Peter Schwarz die Bilanz: „Die eigentliche Zäsur in der neuesten Geschichte Deutschlands und Europas ist die Geschichte der Bundesrepublik selbst.“

Bonn und Berlin

Am 20. Juni 1991 entschied der Bundestag in Bonn, dass im wiedervereinigten Deutschland Parlament und weite Teile der Regierung ihren Sitz in Berlin haben sollten. Die knappe, aber eindeutige Mehrheit von 338 zu 320 Stimmen und die kontrovers geführte Debatte rückten vor allem die Unterschiede zwischen den beiden Städten in den Mittelpunkt. Wenige Monate nach dem Beitritt der fünf ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes galt Bonn vielen als Sinnbild des Neubeginns nach 1945, als Inbegriff des bundesrepublikanischen Erfolgsmodells. In dieser Lesart stand „Bonn“ für Bescheidenheit, Föderalismus und die historische Abkehr von Nationalismus und Machtpolitik. Insbesondere schien die Stadt am Rhein die Westbindung in Form des atlantischen Bündnisses und der europäischen Integration zu verbürgen.

Berlin hingegen, mit dem Einigungsvertrag immerhin als Hauptstadt definiert, was die Frage des Parlaments- und Regierungssitzes zunächst noch einmal ausgeklammert hatte, verkörperte das in den Jahrzehnten der Teilung immer wiederholte Versprechen einer Rückkehr aus dem rheinischen Provisorium. Darüber hinaus verhieß die Millionenstadt an der Spree einen Aufbruch in eine neue Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. An keinem anderen Ort, schon gar nicht in Bonn, so hieß es, könnte man die Folgen des Ost-West-Konflikts überwinden, weil hierfür Verbindungen nach Mitteleuropa von zentraler Bedeutung sein würden. Schließlich verhieß Berlin an der Schwelle zum 21. Jahrhundert die Vorzüge einer aufregenden Metropole, der gegenüber Bonn bloß ein in Wohlstand ermüdetes Provinznest abgab.

Allerdings lässt die zugespitzte Alternative „Bonn versus Berlin“ leicht die zahlreichen Verbindungslinien zwischen Rhein und Spree übersehen, die dem historischen Verhältnis zwischen der vormals preußischen Rheinprovinz und der Zentrale im Brandenburgischen vergleichbar sind. Bei der Gründung der Bundesrepublik war Bonn eine Übergangslösung für das Dilemma, an Berlin und der nationalen Einheit festzuhalten und gleichzeitig einen Parlamentssitz für den westdeutschen Teilstaat zu begründen. 1948/49 hatte die Weltordnung des Kalten Krieges nach Bonn geführt, nach der Epochenzäsur 1989 bis 1991 ging es den umgekehrten Weg zurück. Insofern passte die Charakterisierung aus „A Small Town in Germany“, einem 1968 erschienenen Spionage- und Diplomaten-Thriller des britischen Schriftstellers John le Carré. Der Roman zeigte mit der „ganzen künstlich geschaffenen Wildnis der Beamtenstadt Bonn“ bloß einen „Wartesaal für Berlin“. Von der Spree aus gesehen konnte Bonn keine echte Hauptstadt sein: zu klein, zu eng, zu langweilig.

Im Hauptstadtstreit 1949 war jedoch die unscheinbare Vorläufigkeit Bonns ein entscheidendes Argument für den Bundessitz am Rhein gewesen. Frankfurt am Main, die in der Nachkriegszeit wichtigste mit Bonn konkurrierende Stadt, hätte dagegen eine womöglich dauerhafte Alternative zu Berlin bedeutet: als Wirtschafts- und Finanzzentrum sowie aufgrund ihrer historischen Tradition. In Frankfurt waren nicht nur Könige und Kaiser gewählt und gekrönt worden, die Stadt war 1848 auch Schauplatz des ersten deutschen Nationalparlaments in der Paulskirche gewesen. So konstatierte der in Frankfurt geborene Alfred Grosser nach dem Umzugsbeschluss: „Bonn als Hauptstadt, das war an sich so lächerlich, daß unmittelbar einsichtig war, daß natürlich Berlin die eigentliche Hauptstadt bleiben sollte – und das Symbol der echten Hauptstadt geblieben ist.“

„Bundesrepublik 2.0“

Die Übergänge zwischen Bonn und Berlin waren fließend, daher ist die Berliner Republik nicht etwas kategorisch Anderes als ihre Bonner Vorläuferin, sondern deren Erweiterung und Fortsetzung – eine „Art Bundesrepublik 2.0“. Das Grundgesetz, ursprünglich verfasst als Provisorium bis zur Wiedervereinigung, hat Bestand. Überhaupt schien die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit das Erfolgsmodell von Stabilisierung, Demokratisierung und Prosperität nicht nur zu bestätigen, sondern gewissermaßen zu vollenden. Weder gab sich die größer werdende Bundesrepublik eine neue Verfassung, noch kam es zu einer markanten Umgestaltung der staatlichen Institutionen oder der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

In diesem Sinne ist die inzwischen gebräuchliche Wendung „Bonner Republik“ ein Vehikel, um im bundesrepublikanischen Kontinuum seit 1949 Unterschiede und Umbrüche auf den Begriff zu bringen. Denn seit dem späten 20. Jahrhundert gibt es eine Reihe grundlegender Veränderungen, die es vermutlich auch gegeben hätte, wären Parlament und Regierung in Bonn geblieben. Die weltpolitischen Rahmenbedingungen sind andere seit dem Ende der Bipolarität. Mit dem Internet erfasste ein tiefgreifender Strukturwandel Medien und Öffentlichkeit. Schließlich: Deutschland wurde hinsichtlich der Fläche und Bevölkerungszahl größer und wieder als echter Nationalstaat wahrgenommen. Damit verbunden waren alte Probleme der politischen Geografie, es ergaben sich jedoch zugleich Gestaltungschancen. Deutschland hatte wieder, wie sich Kritiker des Bonner „Provinzialismus“ freuten, eine „richtige Hauptstadt“ – wobei in Berlin Spuren der Geschichte, insbesondere Orte der Diktaturgeschichte, sichtbar bleiben. Die liberale Demokratie ist dagegen auf die Gegenwart bezogen und offen für die Zukunft.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Präambel des Bonner Grundgesetzes in der Fassung vom 23. Mai 1949.

  2. Vgl. Merle Ziegler, Kybernetisch regieren. Architektur des Bonner Bundeskanzleramtes 1969–1976, Düsseldorf 2016.

  3. Vgl. Theodor Schieder/Gerhard Brunn (Hrsg.), Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten, München–Wien 1983.

  4. Präambel des Bonner Grundgesetzes (Anm. 1).

  5. Hermann Rudolph, Bonn – Die Geschäftsstelle, in: Merkur 5/1979, S. 512ff., hier S. 513.

  6. Vgl. Dominik Geppert, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2021, S. 7–11.

  7. Zum Verfassungskonvent von Herrenchiemsee siehe auch den Beitrag von Jasper von Altenbockum in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  8. Zit. nach Reiner Pommerin, Von Berlin nach Bonn. Die Alliierten, die Deutschen und die Hauptstadtfrage nach 1945, Köln 1989, S. 35.

  9. Als journalistischer Chronist hat Klaus Dreher zwei Darstellungen vorgelegt, die einzigartig sind, allerdings legendäre Anekdoten sowie Klischees weitertragen und der Quellenbasis wegen nur bedingt wissenschaftlichen Kriterien entsprechen: Klaus Dreher, Ein Kampf um Bonn, München 1979; ders., Treibhaus Bonn, Schaubühne Berlin. Deutsche Befindlichkeiten, Stuttgart 1999. Der diplomatiegeschichtliche Weg nach Bonn wird in Pommerin (Anm. 8) rekonstruiert. Für die stadthistorische Perspektive vgl. Gabriele Müller-List, Bonn als Bundeshauptstadt 1949–1989, in: Edith Ennen/Dietrich Höroldt (Hrsg.), Geschichte der Stadt Bonn, Bd. 4, Von einer französischen Bezirksstadt zur Bundeshauptstadt 1794–1989, Bonn 1989, S. 639–744.

  10. Die „transitorische Funktion“ Bonns betont Tilman Mayer, Politik lehren in Bonn. Das Erbe Friedrich Christoph Dahlmanns, in: ders./Dagmar Schulze Heuling (Hrsg.), Über Bonn hinaus. Die ehemalige Bundeshauptstadt und ihre Rolle in der deutschen Geschichte, Baden-Baden 2017, S. 27–34, hier S. 28.

  11. Für eine Betrachtung der Regierungsbauten in Bonn siehe den Beitrag von Matthias Hannemann in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  12. Josef Wolff, Vier Jahre Bundeshauptstadt. Ein Architekt sieht sich um, in: Der Baumeister – Zeitschrift für Baukultur und Bautechnik 11/1953, S. 740–745, hier S. 741.

  13. Alfred Grosser, Der aktuelle Streit zwischen Bonn und Berlin, in: Uwe Schultz (Hrsg.), Die Hauptstädte der Deutschen. Von der Kaiserpfalz in Aachen zum Regierungssitz Berlin, München 1993, S. 229–238, hier S. 232.

  14. Vgl. Marie-Luise Recker, Parlamentarismus in der Bewährung. Der Deutsche Bundestag 1949–2020, Düsseldorf 2021.

  15. Vgl. Claudia C. Gatzka, Berlin ist nicht Bonn ist nicht Weimar. Die deutschen Republiken im politischen Deutungskampf, in: Jürgen Zimmerer (Hrsg.), Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein, Stuttgart 2023, S. 414–431.

  16. Vgl. Sonja Levsen, Autorität und Demokratie. Eine Kulturgeschichte des Erziehungswandels in Westdeutschland und Frankreich 1945–1975, Göttingen 2019.

  17. Vgl. Benedikt Wintgens, Treibhaus Bonn. Die politische Kulturgeschichte eines Romans, Düsseldorf 2019.

  18. Lothar Gall, Die Bundesrepublik in der Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 1/1984, S. 603–614, hier S. 605f.

  19. Vgl. Gerhard Brunn, Die deutsche Einigungsbewegung und der Aufstieg Berlins zur deutschen Hauptstadt, in: Schieder/Brunn (Anm. 3), S. 15–33, hier S. 31.

  20. Vgl. Sebastian Ullrich, Mehr als Schall und Rauch. Der Streit um den Namen der ersten deutschen Demokratie 1918–1949, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.), Die „Krise“ der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt/M.– New York 2005, S. 187–207.

  21. Vgl. Jasmin Grande, „Specters of Bonn“. Zur Topologie der „Bonner Republik“ nach 1991, in: Gertrude Cepl-Kaufmann et al. (Hrsg.), Ende der Bonner Republik? Der Berlin-Beschluss 1991 und sein Kontext, i.E.

  22. Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, „Pankow“ und „Bonn“. Provisorien bis zur künftigen Einheit, in: Mayer/Schulze Heuling (Anm. 10), S. 151–156.

  23. Vgl. Sebastian Ullrich, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945–1959, Göttingen 2009.

  24. Vgl. Fritz René Allemann, Bonn ist nicht Weimar, Köln–Berlin 1956.

  25. Vgl. Thomas Hertfelder, Erfolgsgeschichte Bundesrepublik. Vom Anfang und Ende einer Meistererzählung, in: Merkur 9/2022, S. 5–26.

  26. Andreas Wirsching, Weimar als Generationserfahrung, in: Tim Schanetzky et al. (Hrsg.), Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen 2020, S. 39–50.

  27. Vgl. Nadine Rossol/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021.

  28. Hans-Peter Schwarz, Segmentäre Zäsuren. 1949–1989: eine Außenpolitik der gleitenden Übergänge, in: Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 11–20, hier S. 18.

  29. Vgl. Cepl-Kaufmann et al. (Anm. 21).

  30. John le Carré, Eine kleine Stadt in Deutschland, Berlin 2021 [1968], S. 19.

  31. Vgl. Holger Löttel, Hauptstadtfrage im Parteienstreit. Konrad Adenauer, Kurt Schumacher und die Wahl Bonns zum vorläufigen Bundessitz 1948/49, in: Cepl-Kaufmann et al. (Anm. 21).

  32. Grosser (Anm. 13), S. 235.

  33. Gatzka (Anm. 15), S. 416; vgl. Hans Walter Hütter, Bonn – Grundlage und Perspektive für die Bundesrepublik Deutschland, in: Mayer/Schulze Heuling (Anm. 10), S. 253–266.

  34. Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel, Editorial, in: Merkur 9–10/2006, S. 747.

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ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V. (KGParl) in Berlin.