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Ökonomische Resilienz durch mehr Protektionismus? Die Handelspolitik der Europäischen Union

Andreas Baur Lisandra Flach

/ 14 Minuten zu lesen

In ihren handelspolitischen Leitlinien hat die EU-Kommission eine "offene strategische Autonomie" als Ziel ausgegeben. Doch stellt sich die Frage, ob die EU angesichts schwieriger geopolitischer Vorzeichen ihre handelspolitische Offenheit einschränken sollte.

Die Europäische Kommission hat im Frühjahr des vergangenen Jahres eine neue Fassung ihrer handelspolitischen Leitlinien (trade policy review) veröffentlicht. Im Zentrum dieser Leitlinien steht dabei der Begriff der "offenen strategischen Autonomie" als Ziel der europäischen Handelspolitik. Doch auf den ersten Blick scheinen sich aus dieser Zielstellung nicht leicht zu lösende Zielkonflikte zu ergeben: Bedeutet die Offenheit gegenüber dem internationalen Handel nicht gerade einen teilweisen Verzicht auf wirtschaftliche Autonomie? Und lässt sich im Umkehrschluss eine strategische Autonomie gegenüber autokratischen Regimen wie Russland oder China nicht nur durch einen Rückbau von Handelsbeziehungen hin zu einer "Festung Europa" erreichen? Es ist zweifelsohne ein Balanceakt, den die Europäische Union mit ihrer neuen handelspolitischen Agenda unter schwierigen weltwirtschaftlichen und geopolitischen Vorzeichen versucht. Im Folgenden möchten wir daher eine Standortbestimmung der europäischen Handelspolitik vornehmen. Dafür blicken wir zum einen zurück auf den bisherigen handelspolitischen Kurs der EU und setzen diesen in den internationalen Kontext. Zum anderen blicken wir auf neue Herausforderungen für die europäische Handelspolitik, die sich im Hinblick auf die Widerstandsfähigkeit internationaler Lieferketten und die geopolitische Bedeutung wirtschaftlicher Interdependenzen ergeben.

Bedeutung des multilateralen Handelssystems für die EU

Wie offen ist die EU gegenüber dem internationalen Handel? Ein guter Ausgangspunkt, um diese Frage zu beantworten, ist die EU-Zollpolitik. Die EU-Mitgliedstaaten bilden seit 1968 eine Zollunion mit einem gemeinsamen Außenzoll gegenüber Einfuhren aus Nicht-EU-Ländern. Wie in der Abbildung ersichtlich wird, fiel im Jahr 2021 für knapp 70 Prozent der EU-Importe kein Zoll an. Dies liegt zum großen Teil daran, dass die EU für viele Produkte den sogenannten Meistbegünstigungszollsatz auf Null gesetzt hat. Der Meistbegünstigungszollsatz ist der Zollsatz, den die EU nach dem Meistbegünstigungsprinzip (Most Favoured Nation, MFN) gegenüber allen anderen Mitgliedsländern der Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) anwendet. Insgesamt erfolgten fast 80 Prozent aller EU-Einfuhren unter solchen MFN-Bedingungen. Dies betrifft beispielsweise den Handel mit großen Volkswirtschaften wie China, den USA und Indien, was die nach wie vor zentrale Bedeutung des multilateralen Handelssystems für den EU-Außenhandel verdeutlicht.

Stillstand der WTO: Ungleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten

Seit dem Abschluss der Uruguay-Runde und der Gründung der WTO im Jahr 1995 ist es jedoch zu keiner nennenswerten multilateralen Senkung von MFN-Zöllen mehr gekommen. Einer der Gründe für den Stillstand der Verhandlungen ist die Tatsache, dass die Zölle der Industrieländer bereits sehr niedrig sind, während die Zölle in vielen Entwicklungsländern immer noch relativ hoch sind. Während der durchschnittliche angewandte Meistbegünstigungszollsatz in Argentinien 13,4 Prozent, in Indien 18,3 Prozent und in Brasilien 13,3 Prozent beträgt, liegt er in den USA bei nur 3,4 Prozent, in Japan bei 4,2 Prozent und in der EU bei 5,2 Prozent. Das große Zollgefälle erschwert die Verhandlungen auf multilateraler Ebene, da die Industrieländer bei Verhandlungen über Zollsenkungen mit Schwellenländern weniger Spielraum für eigene Zollsenkungen haben.

Ein genauerer Blick auf die angewandten Zölle zeigt allerdings auch für die EU eine durchaus große Heterogenität zwischen einzelnen Produktgruppen. Besonders auffällig sind die hohen angewandten Zölle im Agrarsektor. So fallen im Durchschnitt auf landwirtschaftliche Güter MFN-Zölle in Höhe von 11,7 Prozent an, während die durchschnittlichen Einfuhrzölle für Industriegüter bei etwa 4,1 Prozent liegen. Besonders hohe Zölle werden dabei insbesondere bei Einfuhren von Milchprodukten (39,5 Prozent), Zucker und Zuckerwaren (24,3 Prozent) sowie Getränke und Tabak (19,9 Prozent) erhoben. Für Maschinen, Metalle und Mineralien liegt der durchschnittlich angewandte MFN-Zollsatz dagegen bei rund zwei Prozent. Diese Zahlen weisen auf eine stark protektionistisch ausgerichtete Handelspolitik der EU im Agrarsektor hin und zeigen, dass die EU auch hinsichtlich ihrer Einfuhrzölle durchaus noch weitere Schritte in Richtung Handelsliberalisierung gehen kann.

Die Ungleichgewichte zwischen den WTO-Mitgliedern gehen allerdings über Zölle hinaus. So machen beispielsweise Subventionen und exportbezogene Maßnahmen über 60 Prozent aller weltweit verhängten protektionistischen Maßnahmen aus. Die nationale Subventionspolitik ist ein zunehmender Grund für Handelsspannungen. Dies ist kein reines "China-Problem" und beschränkt sich auch nicht ausschließlich auf Industriesubventionen. Grundsätzlich können Subventionen beispielsweise in Krisenzeiten beschäftigungsstabilisierend wirken. Allerdings führen sie häufig auch zu "Market-share stealing"-Strategien, die den Marktzugang für andere Unternehmen erschweren. Um Wettbewerbsverzerrungen durch staatliche Subventionen zu vermeiden, ist die internationale Zusammenarbeit grundsätzlich von großer Bedeutung: Wenn solche Bemühungen nicht international koordiniert werden, könnten staatlich subventionierte Sektoren die Hauptprofiteure sein, da Unternehmen dies als Anlass zum "subsidy shopping" in verschiedenen Ländern nutzen können – Unternehmen suchen sich das höchste staatliche Förderangebot aus, mit hohen Kosten für den Staatshaushalt. Die EU-Kommission hat jüngst einen Vorschlag für ein neues Handelsschutzinstrument unterbreitet, um gegen Verzerrungen auf dem EU-Binnenmarkt durch ausländische Subventionen unilateral vorgehen zu können. Eine wichtige Frage ist in diesem Zusammenhang, welche Instrumente und Regeln notwendig sind, um faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, ohne dabei protektionistische Partikularinteressen zu befördern. Dies betrifft neben Schutzmechanismen im Bereich von staatlichen Subventionen grundsätzlich auch andere Handelsschutzinstrumente. Dieses Beispiel zeigt, dass die Notwendigkeit zur multilateralen Zusammenarbeit im Rahmen der WTO weit über Zölle hinausgeht und eine vielschichtige Agenda umfasst.

Die EU als Vorreiter bei Handelsabkommen

Eine wichtige Entwicklung in der Handelspolitik seit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" ist die rasche Zunahme von Handelsabkommen. Allein in den ersten zehn Jahren nach der Gründung der WTO hat sich die Zahl der Handelsabkommen von 58 auf 188 mehr als verdreifacht. Diese Zahl ist in den vergangenen Jahren weiter gestiegen, wobei die derzeit größte Freihandelszone der Welt, die RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership), im November 2020 entstanden ist.

Die EU ist weltweit einer der Vorreiter, was die Anzahl der unterzeichneten Handelsabkommen angeht: Nach Angaben der WTO hat die EU 45 Handelsabkommen mit 77 Ländern abgeschlossen, auf die (exklusive der EU) rund ein Fünftel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) entfallen. Darunter sind mehrere kleine Länder und Inselstaaten, die in den vergangenen zehn Jahren Handelsabkommen mit der EU unterzeichnet haben, wie beispielweise Botswana, El Salvador oder St. Lucia, aber auch größere Volkswirtschaften wie Kanada, Singapur, Südkorea, Vietnam oder zuletzt das Vereinigte Königreich nach dem erfolgten Brexit.

Moderne Handelsabkommen sind mit der Zeit wesentlich umfassender geworden, da sie neben Zollvereinbarungen auch weitere Regelungen wie beispielweise die Harmonisierung von Produktsicherheits- und Hygienestandards, Zulassungsverfahren, die Anerkennung geografischer Ursprungsbezeichnungen sowie den Zugang zu lokalen Dienstleistungsmärkten umfassen. Besonders für den Handel mit Dienstleistungen spielen weitreichende Handelsabkommen durch die Reduzierung von nichttarifären Handelsbarrieren eine zentrale Rolle. Ökonomische Studien zeigen, dass sie einen größeren Einfluss auf den Handel mit Dienstleistungen haben als auf den Handel mit Waren. Allerdings geht der Abschluss von vertieften Handelsabkommen häufig auch mit einem verstärkten Einsatz von unilateralen Handelsschutzinstrumenten einher, was wiederum zu einer Erhöhung von Handelsbarrieren führt. So werden beispielweise technische Handelshemmnisse und Antidumpingmaßnahmen oft aus klassischen protektionistischen Motiven heraus eingesetzt.

Trotz des Erfolgs der EU hinsichtlich der Anzahl an Freihandelsabkommen im internationalen Vergleich erwiesen sich ihre jüngsten Verhandlungs- und Ratifizierungsprozesse jedoch häufig als langwierig, wie beispielweise die Verhandlungen über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur oder das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und Westafrika zeigen. Gleichzeitig entstehen in Asien in raschem Tempo neue Wirtschaftsverflechtungen, wie beispielweise durch das RCEP-Abkommen, das handelspolitisch nicht tiefgreifend ist, aber die wirtschaftliche Integration innerhalb des asiatisch-pazifischen Raums dennoch voranbringen wird. Dies sollte ein Warnsignal für die EU sein, bei Verhandlungen über Freihandelsabkommen pragmatisch vorzugehen und zügige Verhandlungsabschlüsse anzustreben.

Handelsabkommen und Ursprungsregeln

Gerade auch im Vergleich zur multilateralen Handelsliberalisierung sind Freihandelsabkommen trotz ihres Namens nicht uneingeschränkt handelsfördernd. Erstens profitieren von bilateralen Handelsabkommen in der Regel vor allem die unterzeichnenden Länder, während die übrigen WTO-Mitgliedstaaten vergleichsweise schlechter gestellt werden, da sich ihr relativer Marktzugang verschlechtert. Aufgrund der niedrigeren Handelskosten innerhalb des Abkommens verschiebt sich der Handel zugunsten der jeweiligen Vertragspartner. Zweitens kann auch die tatsächliche Nutzung von Handelsabkommen durch Firmen gering ausfallen, denn sie ist meist mit hohen bürokratischen Hürden verbunden, die vor allem für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) ein Hindernis darstellen. Ein wichtiges Beispiel hierfür sind Ursprungsregeln: Wenn die präferenziellen Zollsätze eines Handelsabkommens genutzt werden sollen, für bestimmte Waren aus bestimmten Gebieten also Zollvergünstigungen gewährt werden sollen, müssen in der Regel Exporteure einen Ursprungsnachweis erbringen, der die Produktion im Inland belegt. Auf diese Weise soll ausgeschlossen werden, dass Waren, die zuvor aus Drittländern importiert wurden, ebenfalls von den Vorteilen eines Handelsabkommens profitieren. Jedes Handelsabkommen hat dabei eigene Ursprungsregeln, die befolgt werden müssen, um präferenziellen Marktzugang zu erhalten. Aufgrund der mit den Ursprungsnachweisen verbundenen Kosten erschweren sie die Nutzung von Handelsabkommen und reduzieren somit ihren handelsliberalisierenden Charakter.

Das Trade and Cooperation Agreement (TCA), das zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich in Folge des Brexit unterzeichnet wurde und im Januar 2021 in Kraft getreten ist, illustriert die bürokratischen Hürden, die durch Ursprungsregeln entstehen können. Im Rahmen des TCA wurden grundsätzlich alle Zölle für den Warenhandel auf null Prozent festgesetzt. Dieser präferenzielle Marktzugang ist jedoch an die Bedingung geknüpft, dass die gehandelten Produkte die Ursprungsregeln erfüllen. Solche Regeln erschweren den Marktzugang insbesondere für KMU, da ein entsprechender Ursprungsnachweis in der Regel mit Fixkosten verbunden ist, die für diese Unternehmen prohibitiv sein können. Aber auch für große EU-Unternehmen, die in länderübergreifende Lieferketten mit dem Vereinigten Königreich integriert sind, erhöht sich der bürokratische Aufwand deutlich: Möchte ein Unternehmen im Vereinigten Königreich beispielsweise Waren in die EU exportieren, bei deren Produktion Vorleistungen aus Drittländern verwendet wurden, ist es möglich, dass dieses Produkt nicht mehr die entsprechenden Ursprungsregeln erfüllt. Statt der Nullzollsätze würden dann gegebenenfalls positive MFN-Zollsätze fällig werden. Trotz der weitreichenden Handelsliberalisierung im Rahmen des TCA in Form von Nullzollsätzen wurden in der Folge des Brexit also dennoch beachtliche Handelsbarrieren aufgebaut, die insbesondere internationale Wertschöpfungsketten zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich betreffen. Dass im Jahr 2021 für rund 16 Prozent der Importe aus dem Vereinigten Königreichs positive MFN-Zölle gezahlt wurden, verdeutlicht deren Bedeutung.

Handelsintegration nach Innen und Außen

Der Brexit bedeutet zwar eine Zäsur für den europäischen Integrationsprozess, doch er verdeutlicht auch, dass das Ausmaß der wirtschaftlichen Integration zwischen den EU-Mitgliedstaaten weder selbstverständlich noch irreversibel ist. Die Entstehung des europäischen Binnenmarktes, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen garantiert, hat nationale Handelsbarrieren drastisch gesenkt und zu enormen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten beigetragen. So zeigen beispielsweise die Ökonomen Keith Head und Thierry Mayer, dass das Niveau der EU-Wirtschaftsintegration in Teilbereichen wie dem Güterhandel durchaus vergleichbar ist mit der Integration zwischen den 50 US-Bundesstaaten. Dabei finden die Forscher empirische Evidenz dafür, dass die Senkung von Handelskosten innerhalb der EU von einem parallelen Abbau von Handelsbarrieren gegenüber Ländern außerhalb der EU begleitet wurde.

Auch mehrere statistische Indikatoren belegen, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen der EU mit der Weltwirtschaft in jüngster Zeit weiter gewachsen sind. Selbst wenn man die Handelsströme zwischen einzelnen EU-Mitgliedstaaten herausrechnet, ist die EU vor den USA und China sowohl der weltweit größte Exporteur als auch Importeur von Waren und Dienstleistungen. Die Bedeutung ausländischer Märkte ist dabei für die EU als Ganzes betrachtet fast kontinuierlich gewachsen: Während 1995 rund 10 Prozent der gesamten Wertschöpfung der heutigen EU-Mitgliedstaaten von der Nachfrage außerhalb der EU-27 abhing, stieg dieser Wert auf 17,3 Prozent im Jahr 2018 an. Für die USA und China ist dagegen die Bedeutung der Auslandsnachfrage mit einem Anteil von 9,4 beziehungsweise 14,4 Prozent deutlich geringer und war in den vergangenen Jahren sogar rückläufig. Ebenso spielen importierte Vorleistungen eine wichtige Rolle für die europäische Wirtschaft. So basieren alleine 13,7 Prozent der EU-Exporte auf Wertschöpfung aus Ländern außerhalb der EU.

Resilientere Lieferketten durch eine "Festung Europa"?

Doch die weitreichenden außenwirtschaftlichen Verflechtungen der EU und der mit ihr verbundene handelspolitische Kurs stehen derzeit stärker denn je auf dem Prüfstand. So haben zum einen die im Zuge der Corona-Pandemie aufgetretenen massiven Lieferkettenstörungen und Transportschwierigkeiten Zweifel an der Verlässlichkeit von länderübergreifenden Produktionsnetzwerken wachsen lassen. Zum anderen ist nicht zuletzt durch den Krieg in der Ukraine die geopolitische Bedeutung wirtschaftlicher Interdependenzen verstärkt in den öffentlichen Fokus geraten. Vor diesem Hintergrund sind Forderungen nach einer Nationalisierung beziehungsweise Europäisierung von Lieferketten und einer wirtschaftlichen Entflechtung von Autokratien ("Decoupling") immer deutlicher zu vernehmen. Sollte die EU also auch handelspolitisch eine "Festung Europa" anstreben, um die Widerstandsfähigkeit von Lieferketten zu erhöhen und geoökonomische Verwundbarkeiten zu reduzieren?

Grundsätzlich müsste eine breit angelegte Europäisierung von Lieferketten mit erheblichen wirtschaftlichen Einbußen erkauft werden. Eine Simulationsstudie des ifo Instituts zeigt, dass eine Rückverlagerung von Wertschöpfungsketten in die EU, die Türkei und Nordafrika ("Nearshoring") zu einem langfristigen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts der EU von rund 4 Prozent führen würde. Die tatsächlichen Kosten einer solchen Abkopplungsstrategie wären aber wahrscheinlich sogar deutlich höher, denn in dem simulierten Szenario wird angenommen, dass kein Handelspartner der EU eine ähnliche Strategie verfolgt oder Vergeltungszölle als Gegenreaktion erhebt. Ein weltweiter Nearshoring-Trend wäre dagegen voraussichtlich mit noch weitaus größeren Wohlfahrtsverlusten verbunden.

Gleichzeitig ist aber auch fraglich, inwieweit eine allgemeine Rückverlagerung von Produktionsstätten zurück in die EU tatsächlich zu widerstandsfähigeren Lieferketten führen würde. Aus ökonomischer Sicht ist es gerade der internationale Handel, der Unternehmen und Volkswirtschaften eine Art Versicherungsfunktion gegenüber länderspezifischen Schocks ermöglicht. Kommt es im In- oder Ausland zu Lieferunterbrechungen, ermöglichen es gut diversifizierte Handelsbeziehungen mit einer Vielzahl von Ländern und Regionen, diese zumindest teilweise aufzufangen. Eine breit angelegte Nearshoring-Strategie könnte dagegen zu einer stärkeren regionalen Konzentration von Lieferkettenrisiken führen. So zeigen mehrere ökonomische Studien unter Zuhilfenahme verschiedener Schockszenarien, dass die wirtschaftliche Stabilität durch Re- und Nearshoring im Allgemeinen nicht erhöht, sondern vielmehr reduziert wird, da sich die Risikostreuung auf diese Weise tendenziell verringert.

Ähnliche Aspekte betreffen auch den Vorschlag, den Außenhandel mit Autokratien pauschal einzuschränken und stattdessen die Wirtschaftsbeziehungen mit demokratischen Staaten zu intensivieren ("Friendshoring"). Zwar wären die Wohlstandsverluste in einem solchen Szenario geringer als bei einer allgemeinen Europäisierung von Lieferketten, aber sie würden für die EU immer noch ein Vielfaches der Verluste bedeuten, die beispielsweise durch den Brexit verursacht wurden. Aufgrund der Vielschichtigkeit länderspezifischer Risiken, die nicht nur geopolitisch sein müssen, wäre zudem nicht garantiert, dass die ökonomische Resilienz der europäischen Wirtschaft auf diese Weise insgesamt gestärkt werden würde. Darüber hinaus ist es auch aus strategischen Gründen wichtig, die geopolitische Ambiguität wirtschaftlicher Interdependenzen zu berücksichtigen. Tiefergehende wirtschaftliche Verflechtungen können im Konfliktfall zu größeren negativen Auswirkungen für eine Volkswirtschaft führen. Sie bieten auch keine Garantie dafür, dass Konflikte nicht eskalieren oder Außenwirtschaftsbeziehungen nicht als Druckmittel eingesetzt werden. Doch gleichzeitig können intakte Außenwirtschaftsbeziehungen aufgrund ihrer Bedeutung für den Wohlstand eines Landes zumindest Anreize für kooperatives Verhalten schaffen und die Wahrscheinlichkeit dafür reduzieren, dass Wirtschaftsbeziehungen für geopolitische Zwecke überhaupt erst instrumentalisiert werden. Eine vollständige wirtschaftliche Entkopplung von Autokratien würde die Zusammenarbeit mit diesen Staaten bei der Bewältigung großer globaler Herausforderungen in anderen Politikbereichen, wie der Bekämpfung des Klimawandels, möglicherweise deutlich erschweren.

Abhängigkeiten identifizieren und reduzieren

Insgesamt erscheint es also fraglich, dass ein handelspolitischer Rückzug in die "Festung Europa" tatsächlich zu einem widerstandsfähigeren europäischen Wirtschaftsraum führen würde. Ein wichtiges Ziel der europäischen Handelspolitik sollte dagegen die Identifikation außenwirtschaftlicher Abhängigkeiten sowie ein systematisches Management der damit verbundenen wirtschaftlichen wie politischen Risiken sein. Dass Klumpenrisiken im Bereich der europäischen Außenwirtschaftsbeziehungen existieren, haben nicht zuletzt die Corona-Pandemie und die wirtschaftlichen Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine gezeigt. Auch kritische wirtschaftliche Abhängigkeiten gegenüber China sind zuletzt verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. So zeigt beispielsweise eine Studie der EU-Kommission, dass etwa 65 Prozent aller Rohstoffe, die für die Produktion von Elektromotoren benötigt werden, aus China geliefert werden. Um solche kritischen wirtschaftlichen Abhängigkeiten frühzeitig zu erkennen und die Lieferkettentransparenz zu erhöhen, bedarf es weiterer politischer Anstrengungen sowie eines verbesserten Informationsaustausches zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren. So könnten beispielsweise auf europäischer Ebene organisierte Lieferkettenstresstests für kritische Güter einen Beitrag zur Identifikation von möglichen Schwachstellen und strategischen Verwundbarkeiten im europäischen Außenhandel leisten.

Für den Abbau kritischer Abhängigkeiten und die Gestaltung resilienter Lieferketten ist die Diversifizierung von Handelsbeziehungen essenziell. Besonders in diesem Bereich kommt der europäischen Handelspolitik eine entscheidende Rolle zu. Wie anfangs gezeigt wurde, wird nach wie vor ein Großteil des europäischen Handels im Rahmen des Meistbegünstigungsprinzips der WTO abgewickelt. Auch wenn die politischen Hürden groß sein mögen, sollte sich die EU weiterhin mit großem Engagement für eine ambitionierte WTO-Reform einsetzen, denn eine starke multilaterale Handelsordnung bietet die besten Voraussetzungen für gut diversifizierte Außenwirtschaftsbeziehungen. Daneben sollte es Ziel der EU-Handelspolitik sein, das bestehende Netz aus Freihandelsabkommen weiter auszubauen, um europäischen Unternehmen einen verbesserten Zugang zu wichtigen Absatz- und Beschaffungsmärkten zu ermöglichen und die bilaterale Zusammenarbeit mit Partnerländern zu stärken. Hier gilt es, sowohl die Verhandlungsprozesse als auch die Ratifizierung und Umsetzung von Handelsabkommen in Zukunft deutlich zu beschleunigen. Auch eine Vereinfachung und abkommensübergreifende Harmonisierung von Ursprungsregeln sollte für die Zukunft angestrebt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Europäische Kommission, Überprüfung der Handelspolitik. Eine offene, nachhaltige und entschlossene Handelspolitik, 18.2.2021, Externer Link: https://trade.ec.europa.eu/doclib/html/159542.htm.

  2. Für knapp 17 Prozent der EU-Importe wurden im Vergleich zum MFN-Zollsatz zusätzliche Zollvergünstigungen (sogenannte Präferenzzölle) gewährt, die beispielsweise im Rahmen von Freihandelsabkommen vereinbart wurden.

  3. Vgl. WTO/ITC/UNCTAD, World Tariff Profiles 2022, Genf 2022. Die Zahlen beziehen sich auf einfache, nicht-handelsgewichtete Durchschnittswerte für das Jahr 2021.

  4. Vgl. ebd.

  5. Vgl. Simon J. Evenett, Protectionism, State Discrimination, and International Business Since the Onset of the Global Financial Crisis, in: Journal of International Business Policy 2/2019, S. 9–36.

  6. Vgl. Bernard Hoekman/Douglas Nelson, Rethinking International Subsidy Rules, in: The World Economy 43/2020, S. 3104–3132.

  7. Vgl. Giovanni Maggi, International Trade Agreements, in: Gita Gopinath/Elhanan Helpman/Kenneth Rogoff (Hrsg.), Handbook of International Economics, Bd. 4, Oxford-Amsterdam 2014, S. 317–390.

  8. Die RCEP, an der die zehn ASEAN-Staaten, China, Japan, Südkorea sowie Australien und Neuseeland teilnehmen, umfasst 28 Prozent der Weltwirtschaftsleistung, 28 Prozent des Welthandels und 29 Prozent der Weltbevölkerung. Vgl. Lisandra Flach/Hannah Hildenbrand/Feodora Teti, The Regional Comprehensive Economic Partnership Agreement and Its Expected Effects on World Trade, in: Intereconomics 2/2021, S. 92–98.

  9. Eigene Berechnungen, basierend auf Angaben der Europäischen Kommission und der WTO zu Handelsabkommen sowie Daten der Weltbank zum BIP.

  10. Vgl. Swati Dhingra/Rebecca Freeman/Hanwei Huang, The Impact of Non-Tariff Barriers on Trade and Welfare, LSE Centre for Economic Performance, CEP Discussion Paper 1741/2021.

  11. Vgl. Hylke Vandenbussche/Maurizio Zanardi, What Explains the Proliferation of Antidumping Laws?, in: Economic Policy 23/2008, S. 94–138; Kjersti Nes/K. Aleks Schaefer, Retaliatory Use of Public Standards in Trade, in: Economic Inquiry 1/2020, S. 142–161.

  12. Vgl. Lisandra Flach/Feodora Teti, RCEP-Abkommen. Versteckte Auswirkungen, in: Wirtschaftsdienst 12/2020, S. 904.

  13. Vgl. Eurostat, International Trade in Goods – Tariffs, Juni 2022, Externer Link: https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/images/7/7a/Chapter_2.6_june_2022_update.xlsx.

  14. Vgl. Keith Head/Thierry Mayer, The United States of Europe. A Gravity Model Evaluation of the Four Freedoms, in: Journal of Economic Perspectives 2/2021, S. 23–48.

  15. Vgl. OECD, Trade in Value Added (TiVA) 2021 database, Externer Link: http://oe.cd/tiva.

  16. Vgl. Florian Dorn et al., Langfristige Effekte von Deglobalisierung und Handelskriegen auf die deutsche Wirtschaft, ifo Institut, ifo Schnelldienst 9/2022.

  17. Dass die negativen Auswirkungen der Pandemie auf die globale Wirtschaftsleistung mit nationalisierten Lieferketten noch stärker ausgefallen wäre als in einer Welt mit globalen Lieferketten, zeigen Barthélémy Bonadio et al., Global Supply Chains in the Pandemic, in: Journal of International Economics 133/2021, Artikel 103534. Eine weitere relevante Simulationsstudie ist Lucio D’Aguanno et al., Global Value Chains, Volatility and Safe Openness. Is Trade a Double-Edged Sword?, Bank of England Financial Stability Paper 46/2021.

  18. Vgl. Dorn et al. (Anm. 16).

  19. Vgl. Europäische Kommission, Critical Raw Materials for Strategic Technologies and Sectors in the EU. A Foresight Study, 3.9.2020, Externer Link: https://ec.europa.eu/docsroom/documents/42881.

  20. Vgl. David Simchi-Levi/Edith Simchi-Levi, We Need a Stress Test for Critical Supply Chains, in: Harvard Business Review, 28.4.2020, Externer Link: https://hbr.org/2020/04/we-need-a-stress-test-for-critical-supply-chains.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Andreas Baur, Lisandra Flach für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Doktorand am ifo Zentrum für Außenwirtschaft.
E-Mail Link: baur@ifo.de

leitet das ifo Zentrum für Außenwirtschaft und ist Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Ökonomik der Globalisierung, an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
E-Mail Link: flach@ifo.de