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Die europäische Nachkriegsordnung | Krieg in Europa | bpb.de

Krieg in Europa Editorial Die europäische Nachkriegsordnung. Ein Nachruf Europas neue (Un-)Sicherheit. Von der Friedens- zur Konfliktordnung Im Osten nichts Neues. Was der Westen übersah – oder ignorierte Unter dem deutschen Radar. Die postsowjetischen Kriege 1991 bis 2022 Zur Gegenwart der Geschichte im russisch-ukrainischen Krieg Das System Putin. Regimepersonalisierung in Russland und der Krieg gegen die Ukraine Desinformation als Waffe. Über einen Krieg, den Russland seit Jahren führt

Die europäische Nachkriegsordnung Ein Nachruf - Essay

Herfried Münkler

/ 16 Minuten zu lesen

Der russische Angriff auf die Ukraine hat die europäische Friedensordnung buchstäblich zertrümmert. In mancher Hinsicht ähneln die neuen Konstellationen denen der Zwischenkriegszeit, es gibt aber auch bedeutende Unterschiede. Es droht eine Aufrüstungsspirale ohne absehbares Ende.

Der russische Angriff auf die Ukraine, die Bombardierung von Wohnvierteln großer Städte und die systematische Zerstörung der zivilen Infrastruktur, schließlich Putins unverhohlene Drohung mit einer militärischen Eskalation bis hin zum Einsatz von Atomwaffen für den Fall, dass die Nato aufseiten der Ukraine in den Krieg eingreift, haben die europäische Friedensordnung nicht nur erschüttert, sondern sie buchstäblich zertrümmert. Die Invasion ist kein bloßer "Rückfall in die Zeiten des Kalten Krieges", sondern die Entstehung einer grundlegend neuen Konfliktstruktur, wie es sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa nicht gegeben hat. In mancher Hinsicht ähneln die jetzt entstandenen Konstellationen denen der Zwischenkriegszeit, also den zwei Jahrzehnten zwischen 1919 und 1939, als in Mittel-, Ost- und Südosteuropa mehrere Kriege geführt wurden. Aber neben gewissen Ähnlichkeiten zur Zwischenkriegszeit lassen sich auch einige Unterschiede konstatieren. Es gibt für die jüngsten Ereignisse keine eins zu eins übertragbare Blaupause, auch nicht den deutschen Überfall auf Polen im September 1939, der als weiterer Kandidat historischer Analogiebildung ins Spiel gebracht worden ist. Das heißt indes nicht, dass man aus der Geschichte nichts lernen kann; man sollte sich nur vor unmittelbaren Gleichsetzungen hüten und beim Zerfall von Friedensordnungen fragen, aus welchen Gründen die betreffende Ordnung keinen Bestand hatte.

Europäische Nachkriegsordnung I

Es ist sinnvoll, zwei Etappen der europäischen Nachkriegsordnung voneinander zu unterscheiden: die, deren Beginn auf die Jahre 1948/49 zu datieren ist, auf den definitiven Zerfall der Anti-Hitler-Koalition und den Beginn des Kalten Krieges, und die 1988/89 mit dem Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas endete (Nachkriegsordnung I); sowie jene, die 1989/91 mit dem Zerfall des Warschauer Paktes und dem Untergang der Sowjetunion begann und als deren Ende der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 anzusehen ist (Nachkriegsordnung II). Die beiden Etappen der europäischen Nachkriegsordnung unterscheiden sich nicht nur durch den Grad der Militarisierung Europas, sondern auch durch ihre Verankerung in einer globalen Ordnung. In der Nachkriegsordnung I etwa verlief die Grenze zwischen "Westen" und "Osten" mitten durch Europa, und die Garantie einer friedlichen Koexistenz beider Blöcke bestand in deren militärischer Fähigkeit zu gegenseitiger Abschreckung, die dafür sorgte, dass es in den Grenzräumen zu keiner gewaltsamen Konfrontation kam.

Das unterschied Europa von Ostasien, wo es in Korea und Vietnam zu zwei Kriegen mit unterschiedlichem Ausgang kam, die Zeit des Kalten Krieges also eine mit Phasen des heißen Krieges durchsetzte Epoche war. Dabei wurden auch die Grenzziehungen zwischen beiden Blöcken verschoben, ohne dass es zu einem neuen Weltkrieg kam, wie es in Europa wahrscheinlich gewesen wäre. Freilich war die Blockbildung in Ostasien auch uneindeutiger als in Europa.

Man kann also zusätzlich zur Differenzierung von zwei Nachkriegsordnungen in Europa in globaler Perspektive drei Räume des Kalten Krieges voneinander unterscheiden: Europa, wo regionale Grenzverschiebungen mit großer Wahrscheinlichkeit zum globalen Krieg geführt hätten und Bündniswechsel einzelner Staaten ausgeschlossen waren; Ostasien, wo Grenzverschiebungen und Bündniswechsel stattfanden, ohne dass dies zu einem globalen Krieg geführt hat; und schließlich die sogenannte Dritte Welt, wo Seitenwechsel häufig waren und auch zahllose Kriege ausgetragen wurden, in die der Osten wie der Westen verwickelt waren, ohne dass dies mit dem Risiko eines globalen Krieges verbunden war. Die europäische Nachkriegsordnung I war also fest integriert in eine durch Bipolarität gekennzeichnete Globalordnung, in der Washington und Moskau über mehr oder weniger stark ausgeprägte Einflusszonen verfügten, die sie dort, wo sie stark ausgeprägt waren, wechselseitig respektierten. Das war die Rahmenvoraussetzung der europäischen Friedensordnung I.

Der Preis des europäischen Friedens war, dass Europa politisch keine größere Rolle spielte: erstens, weil es in Ost und West geteilt war und die jeweiligen Grundentscheidungen in Moskau oder Washington fielen; zweitens, weil Großbritannien und Frankreich zunächst mit dem Rückzug aus ihren Kolonien, also dem Umbau einer imperialen in eine nationalstaatliche Ordnung beschäftigt waren; drittens, weil Deutschland, der potenziell stärkste Akteur West- und Mitteleuropas, geteilt und infolge des Zweiten Weltkrieges politisch wie moralisch desavouiert war. Zugespitzt formuliert kann man sagen, dass über Krieg und Frieden allein in Moskau und Washington entschieden wurde. Dabei durften die Westeuropäer, zumal die Westdeutschen, deren Territorium der Austragungsort eines Krieges geworden wäre, sich demonstrativ gegen diese Entscheidungsstruktur sträuben – so lange dies politisch folgenlos blieb. Bei der Frage der Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren und des Nato-Nachrüstungsbeschlusses im Verlauf der 1980er Jahre war das bekanntlich der Fall.

Europäische Nachkriegsordnung II

Die politische Neuordnung Europas nach 1989/91 entwickelte sich ebenso inkrementell wie die vorangegangene Nachkriegsordnung des Kalten Krieges. Inkrementell heißt in diesem Fall, dass es niemanden gab, der einen großen Plan entworfen hätte, an dem sich etwa die Nato-Osterweiterung orientiert hätte. Es handelte sich vielmehr um eine auf Zuruf vorangeschrittene Entwicklung, bei der es Bedenken, Zögerlichkeiten und Missverständnisse gab und vor allem die Tatsache eine Rolle spielte, dass man die Rückkehr zu Konstellationen vermeiden wollte, aus denen man sich gerade befreit hatte. Es wurde also weniger nach vorn geschaut, weil man in geopolitischer Hinsicht gewusst hätte, wohin man wollte, sondern der Blick richtete sich vor allem zurück, um die politischen Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen der Zwischenkriegsordnung von 1919 bis 1939 nicht zu wiederholen. Dazu gehörte freilich auch, dass Russland bei dieser "Entwicklung auf Zuruf" zunächst keine besonders laute Stimme hatte, weil es vorwiegend mit sich selbst beschäftigt war.

So entstand in Teilen der postsowjetischen russischen Elite die Vorstellung, man sei bei der Entstehung der neuen Ordnung in Europa übergangen und benachteiligt worden, und je mehr sich diese Vorstellung ausbreitete, desto fester verband sie sich mit der Idee, man solle bei entsprechender Gelegenheit eine Revision dieser Ordnung vornehmen. Jedenfalls war Russland erkennbar nicht an der Aufrechterhaltung und weiteren Ausgestaltung der Nachkriegsordnung II interessiert. Putins Äußerung zum Zerfall der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" zeigt das nur zu deutlich.

In West- und Mitteleuropa war man entgegengesetzter Auffassung: Hier hatte man nach 1945 dem Projekt der Imperienbildung allgemein abgeschworen, sei es, weil das Vorhaben einer mit militärischer Gewalt betriebenen Großreichsbildung gerade katastrophal gescheitert war, wie im Fall Italiens und insbesondere Deutschlands, oder weil das überseeische Kolonialreich sich in Auflösung befand und es auch mit militärischer Gewalt nicht aufrechtzuerhalten war, wie es bei Frankreich, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden und Belgien der Fall war. In Westeuropa hatte man seit den 1950er Jahren auf das wirtschaftliche Zusammenwachsen der zuvor um die Vorherrschaft konkurrierenden Staaten gesetzt und dabei die Erfahrung wachsenden Wohlstands in gesellschaftlicher Breite gemacht, in dessen Folge sich dann ökonomische Prosperität mit politischer Stabilität verband. Diese politische Stabilität war eine des liberal-demokratischen Rechtsstaats, der dieses Mal nicht, wie in der Zwischenkriegszeit, durch soziale und politische Spaltungen geschwächt und durch den Aufstieg antidemokratischer Kräfte bedroht wurde.

Dieses in die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft der Nato eingebettete EWG-Europa entfaltete mit der Zeit eine so große Attraktivität, dass ihm weitere europäische Staaten beitreten wollten: So wurde das "Europa der Sechs" durch die Süd- und Norderweiterung immer größer, was nicht nur auf einen gemeinsamen Markt hinauslief, sondern auch, im Fall von Portugal, Spanien und Griechenland, einer Versicherung gegen den Rückfall in die Militärdiktatur oder ähnliche Formen autoritärer Herrschaft gleichkam. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks waren die mittel- und südosteuropäischen Länder bestrebt, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu werden, um an deren wirtschaftlichem Wohlstand und ihrer demokratischen Stabilität zu partizipieren. Dabei hat sich sicherlich nicht alles so entwickelt, wie man sich das anfänglich vorgestellt hatte, aber trotz der zentrifugalen Kräfte, die nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2010 sowie dem Streit um die Aufnahme von Geflüchteten ab 2015/16 in der Europäischen Union einsetzten, wurde das Projekt einer Wirtschaftsverflechtung und politischen Integration Europas doch als vorbildhaft für die Entwicklung einer Weltordnung angesehen, in der es keine Kriege mehr geben würde und die Politik sich jenseits nationaler Egoismen gemeinsam den großen Herausforderungen der Menschheit würde widmen können.

Die europäische Nachkriegsordnung II unterschied sich von der ihr vorangegangenen darin, dass sie das für den Fortbestand des Systems erforderliche Vertrauen nicht mehr – jedenfalls nicht mehr wesentlich – auf militärische Rüstung und wechselseitige Abschreckung bis hin zur gegenseitigen Geiselnahme der Zivilbevölkerung für Nuklearschläge gründete, sondern dies weitgehend durch wirtschaftliche Verflechtung ersetzte. Man machte sich ökonomisch voneinander abhängig, und diese wechselseitige Abhängigkeit sollte sicherstellen, dass die in die Ordnung eingebundenen Mächte mehr an der Aufrechterhaltung des Status quo als an dessen Veränderung interessiert waren. Der durch die neue Ordnung ermöglichte Genuss der "Friedensdividende", wie man die eingesparten Rüstungsausgaben bezeichnete, kam noch hinzu.

Zwar hatte man auch in den beiden letzten Dekaden der Nachkriegsordnung I in Gestalt von Rüstungsbegrenzungsabkommen versucht, die sich immer weiter drehende Rüstungsspirale anzuhalten, aber das hatte, wie der Nato-Nachrüstungsbeschluss 1979 in Reaktion auf die Aufstellung russischer Mittelstreckenraketen zeigt, nur begrenzte Wirkung gehabt. Jetzt dagegen, wo man "von Freunden umzingelt" war, wie eine beliebte Formel lautete, konnte man das Niveau der Rüstungsausgaben in ganz anderem Ausmaß reduzieren. Davon profitierten auch Russland sowie die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, deren Zusammenbruch in den vorherrschenden Erklärungen nicht zuletzt auf die volkswirtschaftlich zu hohen Rüstungsausgaben zurückgeführt wurde. Kurzum: Im Westen ging man davon aus, dass die wirtschaftliche Entlastung Russlands infolge abgesenkter Militärausgaben dessen politische Eliten hinreichend an der neuen Ordnung interessieren und Revisionsvorstellungen in den Hintergrund treten lassen würde. Als zusätzliche "vertrauensbildende Maßnahme" lässt sich der erhöhte Umfang der russischen Energielieferungen nach Westeuropa und der im Gegenzug erfolgte Export begehrter westlicher Konsumgüter sowie anspruchsvoller westlicher Technologie nach Russland verstehen. Die Ostsee-Pipelines "Nord Stream" 1 und 2 wurden zum Symbol dieser Art ökonomischer Verflechtung im Sinne einer politisch vertrauensbildenden und vertrauenssichernden Maßnahme. Sie waren gleichsam materialisiertes Vertrauen.

Diese den europäischen Frieden sichernde Ordnung wurde rasch zur Blaupause für eine globale Ordnung, durch die Frieden zum vorherrschenden Aggregatszustand der Politik und die Führung von Kriegen immer mehr zur Ausnahme werden sollte. Der Begriff "Nachkriegsordnung" bekam dadurch eine doppelte Bedeutung: Einerseits bezeichnete er deskriptiv die internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, aber zugleich stand er präskriptiv für eine Ordnung, in der Krieg als Modus der Willensdurchsetzung der Vergangenheit angehören sollte. Das war zwar noch nicht der Fall, aber mit der fortschreitenden Ausdehnung der europäischen Ordnung, so die Vorstellung, sollte das weltweit so werden. Perspektivisch wäre es dann vielleicht auch möglich, die Atomwaffen besitzenden Mächte zum Verzicht auf diese Waffen zu bringen.

Diese globale Ordnungsidee, die wesentlich auf den in Europa gemachten Erfahrungen seit 1989 beruhte, fußte auf einer Reihe von Prinzipien, die sich folgendermaßen formulieren lassen: Leitidee dieser Ordnung war die Verwandlung von Konflikt in Kooperation beziehungsweise, spieltheoretisch formuliert, die Ersetzung von Nullsummenspielen durch Win-win-Konstellationen. Während in Nullsummenspielen der Gewinn des Siegers den Verlusten des Verlierers entspricht, es im Spielverlauf also nur darum geht, eine gleichbleibende Summe unter zwei oder mehreren am Spiel Beteiligten aufzuteilen, sind Win-win-Konstellationen dadurch definiert, dass jeder gewinnt, wobei der Zugewinn des Einen relativ klein sein kann, während der eines Anderen sehr viel höher ist. Man kann somit bei einem Nullsummenspiel einen sehr viel höheren Gewinn einstreichen als in einer Win-win-Konstellation, kann ebenso aber auch einen dramatischen Verlust erleiden. Die Gegenüberstellung verdeutlicht: Vorsichtige Spielbeteiligte werden sich prinzipiell für Win-win-Konstellationen entscheiden, und nur Hochrisiko-Politiker werden sich auf Nullsummenspiele einlassen. Das Problem der europäischen Nachkriegsordnung bestand also darin, dass Hochrisiko-Politiker, sobald sie auftauchten, aus dem Spiel genommen werden mussten. Die Frage war, ob dazu die ökonomische Verflechtung ausreichen würde oder ob es dafür eines "Hüters" bedurfte, und, wenn ja, wer das sein sollte. Das war von Anfang an die Achillesferse der europäischen Nachkriegsordnung II.

So blieb es allenthalben bei einem relativen Bedeutungsverlust militärischer Macht und einem erheblichen Bedeutungsgewinn wirtschaftlicher Macht als Ressourcen beim Geltendmachen eines politischen Willens. Von dieser Veränderung des spezifischen Gewichts der Machtsorten hat vor allem Deutschland profitiert, weswegen sich hier auch die entschiedensten und energischsten Anhänger dieses Typs von Ordnung fanden – und finden. In der Regel argumentierten sie jedoch nicht mit Blick auf die besonderen Vorteile Deutschlands, dessen politisches Gewicht in Europa wesentlich auf seiner wirtschaftlichen Macht beruhte, während die militärische Macht eine stark untergeordnete Rolle spielte, sondern verwiesen zumeist darauf, dass nur in einer solchen Ordnung das rhetorische "Wir" der Menschheit zu einem handlungsfähigen Subjekt werden könne, das die zunehmend bedrängenden Menschheitsaufgaben zu bearbeiten in der Lage sei: die effektive Bekämpfung von Hunger und Elend in der südlichen Hemisphäre sowie des Klimawandels und Artensterbens auf der gesamten Welt.

Das war – und ist – grundsätzlich richtig, wurde aber schon vor der Zerstörung der europäischen Nachkriegsordnung II zunehmend dadurch konterkariert, dass die großen Akteure der Weltordnung ihre Beteiligung an der Bearbeitung der Menschheitsaufgaben von politischen Zugeständnissen der anderen großen Akteure abhängig machten. Die Begrenzung des Klimawandels ist zum politischen Erpressungsinstrument geworden. Und auch innerhalb der EU, dem Kernelement der europäischen Nachkriegsordnung, sind die Spannungen zuletzt gewachsen: Zur fiskalischen Sollbruchstelle gegenüber den südlichen Mitgliedstaaten kam die Frage der liberal-demokratischen Ordnung etwa in Polen und Ungarn sowie das Problem notorischer Korruption in Südosteuropa.

Verwundbarkeit normativ aufgeladener Ordnungen

Die europäische Nachkriegsordnung II war nicht der erste Versuch zur Etablierung einer Friedensordnung in Europa, die nicht wesentlich auf einem quasi-physikalischen Gleichgewicht der Kräfte, sondern auf einer normativ vorgegebenen Idee, nämlich der des Friedens, begründet war. Es handelt sich dabei um die aus den Verträgen von Versailles, Saint-Germain, Trianon, Neuilly und Sèvres bestehende Pariser Friedensordnung von 1919/20, in der die politische Landschaft Europas nach dem Ersten Weltkrieg neu geordnet wurde – realpolitisch durch die Verschiebung von Grenzen und die Neuschaffung beziehungsweise Wiederherstellung von Nationalstaaten, idealpolitisch durch die Vorstellung, die Zäsur des Großen Krieges und der Untergang des alten Europas lasse sich dazu nutzen, eine Welt des Friedens und der Demokratie zu schaffen ("a war to end all wars", wie US-Präsident Woodrow Wilson den Kriegseintritt der USA legitimiert und als Ziel "to make the world safe for democracy" vorgegeben hatte).

In der deutschen Diskussion hat man sich vor allem mit dem Vertrag von Versailles beschäftigt, der mit Blick auf die Nichtbeteiligung einer deutschen Delegation an den Verhandlungen als "Diktatfrieden" bezeichnet wurde, was dann zur Rechtfertigung der von Hitler betriebenen Revisionspolitik wurde. Generell bestand das Problem freilich darin, dass nicht nur Deutschland, sondern auch das bolschewistische Russland an den Verhandlungen nicht beteiligt worden und insofern am Erhalt dieser Friedensordnung nicht interessiert war. Beide nahmen ihr gegenüber eine prinzipiell revisionistische Grundhaltung ein, Deutschland aus nationalen, Russland – beziehungsweise seit 1922 die Sowjetunion – aus sozialrevolutionären Gründen. Das war die eine große Hypothek der Pariser Friedensordnung. Die andere resultierte aus dem Zerfall der drei großen multinationalen, multikulturellen und multireligiösen Imperien im Osten und Südosten Europas sowie im Vorderen Orient: des Habsburgerreichs, des Russischen Reichs und des Osmanischen Reichs. Dieser riesige Bereich musste neu geordnet werden, und als Prinzip stand dafür nur die Idee des Nationalstaats zur Verfügung, die aber aufgrund der Siedlungsstruktur in den betreffenden Räumen und der ethnischen Zusammensetzung der dortigen Bevölkerung kaum umsetzbar war. So kamen umgehend die Ideen eines "Großpolen", eines "Großrumänien" und eines "Großgriechenland" auf, die miteinander kollidierten und im Gegensatz standen zu den von Ungarn, Bulgarien und der Türkei verfolgten Revisionsvorstellungen.

Das Hauptproblem der Pariser Friedensordnung aber war, dass sie keinen "Hüter" hatte, der bereit und in der Lage gewesen wäre, deren Festlegungen und Regeln notfalls auch mit militärischer Macht durchzusetzen. Der Genfer Völkerbund war dazu nicht in der Lage, und Großbritannien und Frankreich, die europäischen Siegermächte des Krieges, deren politische Vorgaben wesentlich in die Friedensordnung Eingang gefunden hatten, waren nach den schweren Verlusten des Krieges dazu nicht bereit. In der Folge schufen politische Führer, die über hinreichend militärische Kräfte verfügten, Fakten, die dem Geist und den Bestimmungen der Friedensordnung widersprachen. Die Zwischenkriegsordnung in Europa war eine, bei der die Tür zum Krieg offengeblieben war.

Das hatten die westeuropäischen Politiker in Erinnerung, als sie nach dem Ende der sowjetischen Ordnung in Mittelost- und Südosteuropa, der Pax Sovietica, vor der Frage standen, ob es denn nun erneut zu militärischen Grenzverschiebungen oder von Paramilitärs ausgeübter Gewalt im Innern der aus sowjetischer Oberhoheit entlassenen Staaten kommen werde. Ihre Sorgen und Befürchtungen wurden durch die jugoslawischen Zerfallskriege verstärkt, in denen sich die Gewaltgeschichte der Zwischenkriegszeit zu wiederholen schien. Um das zu verhindern, stimmten sie, einige umgehend, andere erst nach einigem Zögern, dem Beitritt dieser Staaten zur Europäischen Union und zur Nato zu, um die politische Perspektive auf ein Leben in Sicherheit, Frieden und Wohlstand als attraktive Alternative zum Aufflammen gewaltsamer Auseinandersetzungen ins Spiel zu bringen. Bei allen Problemen, die mit den Ländern der Osterweiterungsrunde später aufgetaucht sind, kann man doch sagen, dass dieses Ziel erreicht wurde. Die Osterweiterung der Nato hatte also weniger mit Russland und dessen angeblicher Eindämmung als mit einer befürchteten Instabilität der Beitrittsländer zu tun – und vor allem mit der abschreckenden Erinnerung an die politischen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit und der positiven Wahrnehmung der europäischen Nachkriegsordnung I. So gesehen, ging es darum, militärische Gewalt aus dem Spiel zu nehmen und die ordnungskonstitutive Relevanz wirtschaftlicher Macht zu verstärken.

Putins Agieren an der Peripherie

Putin hat sich nicht erst mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine als Regelbrecher und Völkerrechtsverächter gezeigt. Tatsächlich führt vom zweiten Tschetschenienkrieg 1999 bis 2009 mit dem zerstörten Grosny als Symbol exzessiver Gewaltbereitschaft über den Georgienkrieg von 2008, die Annexion der Krim 2014 und die militärische Unterstützung der Separatisten in den Gebieten von Donezk und Luhansk, die militärische Intervention im syrischen Bürgerkrieg ab 2015 und den Einsatz der Söldnertruppe "Wagner" eine breite Spur bis zum Angriff auf die Ukraine. Da freilich auch die USA 2003 eine nicht von den Vereinten Nationen mandatierte Militärintervention im Irak durchgeführt hatten, und zuvor bereits die Intervention zur Beendigung des Kosovokrieges ohne UN-Mandat erfolgt war, hielt man sich im Westen mit einer scharfen Kritik an Putins Gebrauch militärischer Macht zurück und verhängte nach der Annexion der Krim und der Separatistenunterstützung im Donbas nur symbolische Sanktionen.

Die Besetzung der zu Georgien gehörenden Gebiete Abchasien und Südossetien sowie die der Ukraine zugehörenden Oblaste Donezk und Luhansk erklärte man sich damit, dass Putin in beiden Fällen "ungeklärte Grenzfragen" geschaffen habe, um den Nato-Beitritt beider Staaten zu verhindern. Vor allem aber wollte man im Westen das Projekt einer regelbasierten, auf Werte gestützten und von Normen getriebenen Weltordnung mit der europäischen Friedensordnung als Kernbestand und globalem Vorbild nicht aufgeben. Also thematisierte man Putins Kriege bis zum 24. Februar 2022 als Regelverstöße, aber nicht als fundamentale Brüche mit der europäischen Friedensordnung, gewissermaßen als Dellen und Beulen, die sich wieder ausbessern ließen, sodass die Ordnung als wiederhergestellt angesehen werden konnte. Das hat sich mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine geändert. Er ist im Westen durchweg als eine Zäsur begriffen worden, durch die ein Davor und Danach entstanden sind. Mit dem Angriffsbefehl auf die Ukraine hat Putin die europäische Nachkriegsordnung II zerstört, und es wird für lange Zeit unmöglich sein, sie wiederherzustellen.

Drei Gründe für die Irreparabilität dieser Friedensordnung sollen abschließend herausgestellt werden: Da ist – erstens – die bittere Beobachtung, dass ökonomische Macht in Form der Drohung mit Wirtschaftssanktionen nicht ausgereicht hat, um Putin vom Gebrauch militärischer Gewalt abzuhalten. Dadurch hat sich das System der wirtschaftlichen Verflechtung als einseitige Abhängigkeit des Westens von russischen Rohstofflieferungen erwiesen. Damit war einer der tragenden Pfeiler der europäischen Friedensordnung zerstört, und es war unvermeidlich, wieder stärker zu militärischer Macht als Abschreckungsmittel und Sicherheitsgarant zurückzukehren. Das kommt einem Paradigmenwechsel bei der Friedenssicherung gleich, einer Rückkehr nämlich zu den Prinzipien der europäischen Nachkriegsordnung I. Gleichzeitig haben die vom Westen gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen eine Entkopplung Russlands von den Wirtschafts- und Finanzkreisläufen der westlichen Welt zur Folge, womit die Annäherungsperspektive der Nachkriegsordnung I ("Wandel durch Handel") verschlossen ist. Die Distanz des Westens gegenüber Russland ist damit größer, als sie es vor 1989/91 zur Sowjetunion war. Aber die Sowjetunion hatte auch keinen Angriffskrieg gegen einen unabhängigen Staat geführt.

An die Stelle des institutionellen Vertrauens ist – zweitens – ein generalisiertes Misstrauen getreten, bei dem nicht erkennbar ist, auf welcher Ebene und mit welchen Mitteln es begrenzt werden kann, nachdem Putin nicht nur die fundamentalen Regeln des Völkerrechts gebrochen, sondern auch die bei ihm im Vorfeld des Angriffsbefehls vorsprechenden westlichen Politiker nach Strich und Faden belogen hat. Mit Putin und seinem Regime wird es keine vertrauensvolle Zusammenarbeit mehr geben, und dementsprechend schwer wird es sein, zu vertraglichen Vereinbarungen – welcher Art auch immer – zu gelangen. Es ist auch nicht erkennbar, worin nach der eingeleiteten Entkopplung der europäischen von der russischen Wirtschaft Vertrauensgarantien für vertragliche Regelungen bestehen könnten.

Das auf längere Sicht womöglich folgenreichste Problem ist freilich – drittens – das Erfordernis zur Entwicklung einer neuen Nuklearstrategie des Westens, die auf Russlands fortgesetzte atomare Eskalationsdrohung reagiert. Bislang hatte, vereinfacht gesagt, die nukleare Eskalationsdrohung dazu gedient, einen konventionellen Krieg zu verhindern. Im Krieg gegen die Ukraine hat Putin jedoch die nukleare Eskalationsdrohung benutzt, um einen konventionellen Krieg führen zu können und den Westen von der Unterstützung der Ukraine abzuhalten, also auch von der Verteidigung der Regeln des Völkerrechts sowie der europäischen Nachkriegsordnung II. Damit sind Angriffskriege im großen Stil für Nuklearmächte wieder führbar geworden. Es wird darum gehen, diese Option für den Einsatz militärischer Macht wieder zu schließen. Gelingt das nicht, stehen wir am Anfang einer Aufrüstungsspirale, deren Ende nicht absehbar ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Margaret MacMillan, Peacemakers. Six Months that Changed the World, London 2001; Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018; Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 1918.

  2. Dazu ausführlich John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, München 2007.

  3. Zur strukturellen Differenz zwischen Imperium und Nationalstaat vgl. Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 16ff.

  4. Zu den politischen Verwerfungen der Zwischenkriegszeit vgl. Boris Barth, Europa nach dem Großen Krieg. Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit 1918–1939, Frankfurt/M.–New York 2018.

  5. Zur Geschichte des europäischen Zusammenwachsens von der EWG bis zu EU vgl. Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018.

  6. Dazu Herfried Münkler, Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg 2015, S. 186ff.

  7. Vgl. MacMillan; Leonhard; Conze (alle Anm. 1).

  8. Dazu ausführlich Herfried Münkler, Das Scheitern der Pariser Friedensordnung. Ein Lehrstück zur Verrechtlichung der internationalen Politik, in: Claus Kreß (Hrsg.), Paris 1919–1920. Frieden durch Recht?, Baden-Baden 2020, S. 71–92.

  9. Die Intervention in Afghanistan, die womöglich als Einwand geltend gemacht werden könnte, erfolgte auf Bitten der damals in Kabul amtierenden Regierung.

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ist Professor für Politikwissenschaft und hatte bis 2018 den Lehrstuhl für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin inne.
E-Mail Link: herfried.muenkler@sowi.hu-berlin.de