Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Politische Bildung in der und für die Demokratie | Politische Bildung | bpb.de

Politische Bildung Editorial Konjunkturen und Zäsuren. 70 Jahre Bundeszentrale für politische Bildung Politische Bildung in der und für die Demokratie. Über das Verhältnis von staatlichem Regieren und politischem Bilden Vielfalt organisieren. Herausforderungen für die nonformale politische Bildung Viele Herausforderungen, desolate Lage. Politische Bildung an berufsbildenden Schulen Konzepte politischer Nachhaltigkeitsbildung Intersektionale politische Bildung. Zur Relevanz von "race", "class" und "gender" in Bildungsprozessen Stärker im Verbund. Zum Verhältnis von politischer und ökonomischer Bildung

Politische Bildung in der und für die Demokratie Über das Verhältnis von staatlichem Regieren und politischem Bilden

Marlon Barbehön Alexander Wohnig

/ 14 Minuten zu lesen

Politische Bildung ist immer zugleich auf die Bewahrung von Bestehendem und die Ermöglichung von Neuem gerichtet, immer zugleich Affirmation und Subversion. Sie wird damit zu einem zentralen Gegenstand, um den und mit dem unterschiedliche Kräfte ringen.

In Zeiten gesellschaftlicher Konflikte und Polarisierungen, die als Bedrohung für das demokratische Zusammenleben wahrgenommen werden, sind in der Öffentlichkeit regelmäßig Rufe nach einer Stärkung der politischen Bildung zu vernehmen. Politische Bildung soll hiernach dabei helfen, demokratische Werte zu festigen und der Entwicklung "extremistischer" Einstellungen vorzubeugen. Dazu werden, zumeist in Begleitung von politischen Kontroversen über die "richtige" Ausgestaltung, staatliche Aktionsprogramme, Förderlinien und Bildungspläne aufgelegt beziehungsweise angepasst, um die Bildungspraxis in und außerhalb von Schulen in die gewünschte Richtung zu lenken. Nicht selten evozieren diese Anstöße Widerspruch seitens der Akteur*innen der politischen Bildung, die die programmatische Ausrichtung der staatlichen Anrufungen hinterfragen und etwa deren (partei-)politische Färbung problematisieren. Staatliche Vorgaben und Leitplanken treffen auf ein heterogenes Feld, in dem spezifische, selbst wiederum umstrittene Vorstellungen von politischer Bildung kultiviert sind. Diesen verschiedenen Vorstellungen von politischer Bildung liegen unterschiedliche Akzentuierungen von "demokratischen" Werten zugrunde, die auf divergierende Demokratieverständnisse (und auch Bildungsverständnisse) verweisen und divergierende Entgegnungen auf staatliche Anrufungen zur Folge haben können. Im vorliegenden Beitrag wollen wir dieses Wechselverhältnis zwischen staatlichem Regieren und politischem Bilden in der und für die Demokratie auf seine Spannungen, Ambivalenzen und Widersprüche hin durchleuchten und am Beispiel der aktuellen Debatte um die Rolle von politischer Bildung innerhalb der staatlichen Anstrengungen zur "Demokratieförderung" illustrieren.

Demokratie(-begriff) und politische Bildung

So eingängig und selbstevident die Aufgabenstellung einer politischen Bildung in der und für die Demokratie erscheinen mag – die Bedeutung dieser Formel ist notorisch umkämpft, da sich sowohl "Demokratie" und "(politische) Bildung" als auch deren Verhältnis unterschiedlich bestimmen lassen. Innerhalb des Feldes der politischen Bildung wurden diese Auseinandersetzungen in unterschiedlichen soziohistorischen Konstellationen auf der Grundlage unterschiedlicher Demokratieverständnisse ausgetragen, woraus sich wiederum unterschiedliche Perspektiven auf die Aufgaben und Ziele der Profession ergeben.

So waren etwa die Debatten der 1970er Jahre beeinflusst von einem Konflikt innerhalb der Profession, der sich, schematisch zusammengefasst, entlang eines sozialen und eines liberalen Demokratieverständnisses aufspannen lässt: Während die eine Seite Demokratisierung als Ziel der politischen Bildung definierte, diese durch die Förderung gesellschaftspolitischen Handelns vorantreiben wollte und damit Demokratie als offenen Prozess begriff, argumentierte die andere Seite, dass dieses Selbstverständnis politischer Bildung die Mündigkeit der Lernenden untergrabe und sie überwältige. Wo auf der einen Seite mit dem Verweis auf ein Verständnis von sozialer Demokratie der Abbau von Ungleichheit als Aufgabe politischer Bildung erklärt wurde, galt dies auf der anderen Seite als ungerechtfertigter politischer Anspruch, der vom pädagogischen Denken und Handeln abgetrennt werden sollte.

Der Beutelsbacher Konsens, der 1976 aus dieser Kontroverse hervorging, lässt sich insofern nicht nur als ein Versuch der Fixierung eines professionsbezogenen Selbstverständnisses, sondern auch als temporäre Stillstellung eines Konfliktes um Demokratie lesen. So besehen ist es kein Zufall, dass er immer wieder debattiert wurde und wird. Aktuell lässt sich in diesem Zusammenhang beobachten, dass mit Verweis auf radikale Demokratietheorien die Parteinahme politischer Bildung für ausgeschlossene und marginalisierte Gesellschaftsgruppen betont und vor diesem Hintergrund der Beutelsbacher Konsens dafür kritisiert wird, politische Positionen durch Markierung als "Überwältigung" auszugrenzen. Was also unter der so eingängigen Formel "politische Bildung für die Demokratie" in Bezug auf die Ebene der Ziele und Aufgaben politischer Bildung verstanden wird, ist erstens abhängig von dem jeweiligen Demokratieverständnis und zweitens von dem Kräfteverhältnis zwischen staatlicher Inanspruchnahme und professioneller Entgegnung.

Hinzu kommt, dass sich innerhalb des Feldes der politischen Bildung bei allem Verbindenden auch unterschiedliche Verständnisse von politischer Bildung entwickelt haben, die nicht nur den divergierenden Bezügen zu Demokratietheorien und -verständnissen entspringen, sondern auch den unterschiedlichen Bezügen zu Gesellschafts- und Bildungstheorien. Unter Rekurs auf Gesellschaftstheorien in der Tradition der Kritischen Theorie und/oder materialistischer Theorien etwa wird die Überwindung aller (ungerechtfertigten) Herrschaftsverhältnisse als Ziel politischer Bildung definiert. Dies gilt auch für Bezüge zur Kritischen Bildungstheorie, für die Bildung nicht nur Ausdruck von, sondern auch Möglichkeit für die Überwindung von Herrschaftsverhältnissen ist. Für die zentrale normative Leitidee der Mündigkeit bedeutet dies, dass Bildung und Erkenntnis auf Veränderung zielen. Erkenntnis wird verstanden als "die Einsicht in die Gesellschaft (…), in das Wesentliche der Gesellschaft, Einsicht in das, was ist, aber in einem solchen Sinn, daß diese Einsicht kritisch ist, indem sie das, was gesellschaftlich 'der Fall ist', (…) an dem mißt, was es selbst zu sein beansprucht, um in diesem Widerspruch zugleich Potentiale, die Möglichkeiten einer Veränderung der gesellschaftlichen Gesamtverfassung aufzuspüren". Dem gegenüber steht eine Position, die die Annahme, politische Bildung ziele auf "gesellschaftsveränderndes Handeln im Sinne von Demokratisierung und Emanzipation", gerade mit dem Verweis auf den Begriff der Mündigkeit als illegitime politische Setzung durch Pädagog*innen ablehnt.

Derartige Aushandlungen des Verhältnisses von politischer Bildung und Demokratie sind dabei nicht autonome Angelegenheit der Profession. Sie finden statt in und werden beeinflusst von staatlichen Strukturen, die ihrerseits mit spezifischen Vorstellungen über "politische Bildung in der und für die Demokratie" aufwarten. Der demokratische Staat und politische Bildung sind wechselseitig aufeinander bezogen und voneinander abhängig, sodass die unterschiedlichen Orientierungen immer wieder aufeinanderprallen, sich zu manifesten Konflikten auswachsen und unvorhergesehene Dynamiken entfachen. Die Autonomie politischer Bildung als Profession konstituiert sich in eben diesem Verhältnis zu staatlichen Anrufungen, weshalb ihre Gestalt einem andauernden zeitlichen Wandel ausgesetzt ist.

Zwischen regieren und bilden

Für den Staat ist politische Bildung ein zentrales Instrument, mit dem er seine Bestandsvoraussetzungen zu sichern versucht: Er benötigt Bürger*innen, die sich der demokratischen Ordnung verpflichtet fühlen und die Gestaltung des Gemeinwesens als kollektive Aufgabe wahrnehmen. Die Reproduktion eines demokratischen Fundaments ist vor allem auch die Produktion einer spezifischen Form des Bürger*in-Seins. Politische Bildung dient so besehen der Absicherung des Kerns der bestehenden Ordnung (über den selbst wiederum politisch gestritten wird), weshalb der Staat versucht, politische Bildung in die Reproduktion von Machtstrukturen einzuflechten. Politischer Bildung kann in diesem Sinne eine affirmative, das heißt herrschaftsreproduzierende Funktion zugesprochen werden, die ihr notwendig inhärent ist.

Politische Bildung ist jedoch nicht bloß passives Objekt derartiger Inanspruchnahmen, sondern eine ausdifferenzierte Profession, die einen Anspruch auf Autonomie erhebt und eigene Sichtweisen dahingehend besitzt, was es heißt, politisch urteils- und handlungsfähig zu sein. Wie auch immer die Aufgaben und Ziele von politischer Bildung definiert werden mögen – politische Bildung verweist nie ausschließlich auf die Sicherung, sondern immer auch auf die Hinterfragung der bestehenden Ordnung. Akute Kontroversen darüber, wie politische Bildung innerhalb des demokratischen Staats auszusehen habe und verwirklicht werden könne, sind somit momenthafte Materialisierungen einer hintergründigen Widersprüchlichkeit, die der Bedeutung von politischer Bildung für die Demokratie strukturell eingeschrieben ist: Politische Bildung ist immer zugleich auf die Bewahrung von Bestehendem und die Ermöglichung von Neuem gerichtet, immer zugleich Schließung gegenüber Bedrohungen und Öffnung gegenüber Potenzialität, immer zugleich Affirmation und Subversion – und damit wird politische Bildung zu einem zentralen Gegenstand, um den und mit dem unterschiedliche Kräfte ringen.

Abstrakter formuliert, lässt sich diese inhärente Konflikthaftigkeit des Verhältnisses von demokratischem Staat und politischer Bildung auf spezifische Bereichslogiken zurückführen: die des Regierens und die des Bildens. Diesen Logiken sind wiederum Ambivalenzen und Paradoxien eingeschrieben – in der politischen Bildung die Dialektik von Herrschaft und Emanzipation, im staatlichen Regieren das Wechselspiel aus Freiheitsräumen und Kontrollmechanismen. Hinzu kommt, dass "Staat" und "politische Bildung" heterogene Ensembles sind, in denen unterschiedliche Kräfte wirken. Mit Blick auf Erstgenanntes ist hier zu denken an unterschiedliche parteipolitische Positionen oder, im Falle der Bundesrepublik, an spezifische Kompetenzen der Bundes- und Länderebene; mit Blick auf Zweitgenanntes an die Differenz zwischen schulischer und außerschulischer politischer Bildung oder unterschiedliche fachdidaktische Strömungen. Staatliche Vorgaben, die in Form von Aktionsprogrammen, Förderlinien oder Bildungsplänen auftreten, sind somit in aller Regel das Ergebnis von politischen Kompromissen und mithin nicht selten durch Mehrdeutigkeiten oder Widersprüche gekennzeichnet.

Die Adressierung politischer Bildung durch staatliches Regieren kann als Inanspruchnahme gedeutet werden und in drei idealtypischen Modi stattfinden:

  • Inanspruchnahme als Stabilitätsgarantin: Politischer Bildung werden vom Staat Aufgaben und Ziele zugewiesen, die dem Erhalt des Status quo dienen. Die dabei transportierten Wissensbestände repräsentieren das, was aus staatlicher Sicht als "Wahrheit" und "Wesenskern" der Demokratie erscheint.

  • Inanspruchnahme als Feuerlöscher: Politische Bildung wird vom Staat mit dem Ziel der Krisenlösung angesprochen. In der Bearbeitung von gesellschaftlichen Entwicklungen, die von staatlicher Seite als akute Gefahren wahrgenommen werden, wird Erhalt fokussiert, zugleich aber werden Perspektiven für Neues eröffnet.

  • Inanspruchnahme als Innovatorin: Politische Bildung wird vom Staat angesprochen, um Innovationen hervorzubringen, etwa in Form politischer Beteiligungsprozesse, die wiederum der Legitimation und damit Absicherung der demokratischen Ordnung dienen sollen.

In Reaktion auf solche Versuche der staatlichen Inanspruchnahme eröffnen sich aufseiten der politischen Bildung unterschiedliche Ausdeutungs- und Anschlussmöglichkeiten. Dabei lassen sich wiederum drei idealtypische Reaktionsweisen unterscheiden:

  • Entgegnung als Affirmation: Politische Bildung fügt sich der staatlichen Inanspruchnahme, zum Beispiel aufgrund einer weitgehenden Komplementarität der Wissensbestände.

  • Entgegnung als Umdeutung: In Programmen, Konzepten und Projekten der politischen Bildung werden die staatlichen Ansprachen subversiv umgedeutet, um eigene Wissensbestände zur Geltung zu bringen.

  • Entgegnung als Widerspruch: Politische Bildung tritt der staatlichen Ansprache offensiv entgegen, mit dem Resultat einer manifesten konflikthaften Auseinandersetzung.

Die Formen staatlicher Inanspruchnahme und professioneller Entgegnung verbinden sich in unterschiedlichen historischen Phasen auf je spezifische Art und Weise. Dabei kommt es immer wieder – aufgrund des inhärent widersprüchlichen Verhältnisses der Bereiche gleichsam notwendigerweise – zu manifesten Konflikten. Als jüngstes Beispiel hierfür kann das aktuell diskutierte "Demokratiefördergesetz" gelten.

Politische Bildung, Demokratieförderung und Prävention

Beim Gesetz über die Verstetigung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, kurz: Demokratiefördergesetz, handelt es sich um die jüngste Initiative der Bundesregierung, einen gesetzlichen Auftrag im Bereich der sogenannten Demokratieförderung zu etablieren und die finanzielle Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements gegen "Extremismus" zu verstetigen. Gegenwärtig (Anfang November 2022) liegt der Entwurf für ein Gesetz vor, das zu Beginn des Jahres 2023 in Kraft treten soll. Es geht zurück auf die letztlich am Widerstand der Unionsfraktion gescheiterten Pläne der letzten Großen Koalition (2017–2021), ein sogenanntes Wehrhafte-Demokratie-Gesetz zu verabschieden. Beide Gesetzesvorhaben sind unter anderem im Lichte der rechtsextrem und/oder rassistisch motivierten Anschläge auf den CDU-Politiker Walter Lübcke sowie in Halle an der Saale und in Hanau zu sehen. Vor diesem Hintergrund deutet sich bereits an, dass politische Bildung hier, in den obigen Kategorien gesprochen, in erster Linie als "Feuerlöscher" und "Stabilitätsgarantin" angesprochen wird.

Zwischen der ursprünglichen und der aktuellen Gesetzesinitiative hat sich die Tonlage verändert. In den ersten Zeilen der Eckpunkte für ein Wehrhafte-Demokratie-Gesetz vom Mai 2021 hieß es, die Bundesregierung wolle "Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz unserer Demokratie sowie zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts" ergreifen; Aufgabe sei es, eine "wehrhafte, selbstbewusste, aufrechte und widerstandsfähige Demokratie" zu fördern, was bedeute, dass "Staat und Bürgergesellschaft gemeinsam handeln". Im aktuellen Gesetzesvorhaben sind die Topoi der wehrhaften Demokratie und der Resilienz nicht mehr anzutreffen. Stattdessen heißt es im Diskussionspapier für ein Demokratiefördergesetz, das im Februar 2022 vom Familien- und vom Innenministerium veröffentlicht wurde, dass sich das Gesetz auf die "Gestaltung und Förderung der Demokratie" richte, was "nicht allein staatliche Aufgabe, sondern ein gemeinsames Anliegen des Staates und einer lebendigen, demokratischen Zivilgesellschaft" sei. Im Kampf gegen Extremismus bedürfe es, so die Präambel des Gesetzentwurfs vom September 2022, einer "Demokratieinfrastruktur, die es zu erhalten, zu schützen und zu stärken gilt". Die Idee der Förderung hat somit gegenüber der des Sich-zur-Wehr-Setzens – nicht zuletzt auch in den Namen der Gesetze – an (symbolischer) Bedeutung gewonnen, womit eine andere Handlungsorientierung impliziert ist: Geht es hier um die Errichtung von Abwehrmechanismen, die Bedrohungen in Schach halten sollen, geht es dort um die Stärkung von Strukturen, von denen man sich originäre Leistungen erhofft.

Das negativistische Moment der Verhinderung ist freilich auch im aktuellen Vorhaben nicht gänzlich verschwunden. Es lebt hier fort in der Figur der Prävention, die auch schon in der ersten Gesetzesinitiative anzutreffen war, etwa wenn die Absicht formuliert wird, "Projekte im Bereich der Demokratieförderung, Vielfaltgestaltung und Extremismusprävention" finanziell und verlässlich unterstützen zu wollen. Gegenüber den Figuren der Wehrhaftigkeit und der Resilienz ist Prävention dabei durch einen spezifischen Zukunftsbezug gekennzeichnet: Es geht nicht nur um die Abwehr akuter, sondern vor allem um die vorausgreifende Verhinderung potenzieller Bedrohungen, für die gegenwärtig nur Anzeichen vorliegen mögen. Demokratieförderung bedeutet der aktuellen Gesetzesinitiative nach auch: "Verhinderung und Vorbeugung der Entstehung jeglicher Form von Extremismus, Demokratiefeindlichkeit und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit". In diesen Dienst wird nun auch die politische Bildung gestellt. Laut Gesetzesvorhaben beabsichtigt der Bund, "eigene Maßnahmen durch[zu]führen" und die daraus entstehenden Informationsangebote und Bildungsformate an in "den Bereichen der Demokratieförderung, Extremismusprävention und politischen Bildung Tätige" weiterzugeben, "um diese mit Fachinformationen zu versorgen und zu qualifizieren".

Diese Ausrichtung ist Ausdruck eines grundlegenden Merkmals gegenwärtiger gesellschaftlicher Zeitlichkeit. In der "Risikogesellschaft" erscheint die Zukunft als Reservoir an möglichen Bedrohungen, auf die es sich gegenwärtig einzustellen gilt, oder besser noch: denen präventiv zu begegnen ist, damit sie gar nicht erst eintreten. Die Ungewissheit des Zukünftigen wird somit in Abhängigkeit von gegenwärtigen Entscheidungen betrachtet, woran sich der Bedarf an Maßnahmen der Vorbeugung anschließt. Innerhalb der Logik staatlichen Regierens gewinnen präventive Maßnahmen nicht zuletzt deshalb an Bedeutung, da sich in einer zukünftigen Gegenwart rückblickend fragen lässt, wie es sein konnte, dass die Anzeichen seinerzeit nicht erkannt wurden. Aus Sicht des Staates wird politische Bildung so zu einer "Stabilitätsgarantin", die Bedrohungslagen vorbeugend entgegenwirken soll: "Präventiv-pädagogische Angebote sind ein zentrales Element der Extremismusprävention", heißt es etwa in der Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung.

Es sind diese Formen der staatlichen Inanspruchnahme, denen sich die Profession und Praxis der politischen Bildung gegenwärtig gegenübersieht. In Reaktion auf die Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung und der Ausweitung des Förderprogramms "Demokratie leben!" des Bundesfamilienministeriums ist im Feld der politischen Bildung ein Verständigungsprozess darüber entbrannt, in welchem Verhältnis politische Bildung zu Prävention steht. Dieser Verständigungsprozess knüpft an Debatten in angrenzenden Professionen an, etwa in der Sozialen Arbeit, in der seit Langem über die Eignung des Präventionsparadigmas diskutiert wird und die Prävention als Aufgabenbeschreibung mehrheitlich ablehnt.

Im Selbstverständigungsprozess der politischen Bildung werden dabei nicht nur Fragen nach den Konsequenzen einer Verankerung des Präventionsparadigmas oder die Gefahr der "Versicherheitlichung" der politischen Bildung – als Teil eines sogenannten positiven Verfassungsschutzes und der sogenannten wehrhaften Demokratie – kritisch reflektiert. Vielmehr geht es auch um eine Auseinandersetzung mit dem Demokratieverständnis, das der Präventionsidee eingeschrieben ist. Der staatlichen Anrufung, als präventiver "Feuerlöscher" und als "Stabilitätsgarantin" zu fungieren, entgegnet die Profession der politischen Bildung nicht einheitlich, aber mehrheitlich in den Modi der "Umdeutung" und des "Widerspruchs": In Programmen, Konzepten und Projekten der politischen Bildung werden die staatlichen Ansprachen adaptiert, um eigene Wissensbestände zur Geltung zu bringen. Gleichzeitig treten viele Akteur*innen der politischen Bildung und auch angrenzender Handlungsfelder der staatlichen Ansprache offensiv entgegen und evozieren damit eine manifeste konflikthafte Auseinandersetzung.

Argumentiert wird insbesondere, Prävention entspräche nicht dem Bildungs- und Demokratieverständnis politischer Bildung, weshalb die Engführung von politischer Bildungsarbeit auf das Moment der Verhinderung abzulehnen sei. Auch hier zeigt sich der Dualismus von Affirmation und Widerspruch: Während – stark vereinfachend skizziert – die staatliche Anrufung auf einen Erhalt der gegenwärtigen Demokratie im Angesicht von (antizipierten) Bedrohungen zielt, pocht die Entgegnung politischer Bildung auf die Offenheit von Bildungsprozessen und damit auf die Offenheit von Demokratie. Die Aufgabenstellung "politische Bildung in der und für die Demokratie" wird also begleitet von einem Konflikt um die Demokratie selbst.

Fazit

So wichtig die Reflexion über Risiken und vorbeugende Maßnahmen ist: Politische Bildung geht darin nicht auf. Ein gehaltvoller Begriff von Bildung ist immer auch bezogen auf Mündigkeit, Selbstwirksamkeitserfahrungen und gesellschaftliche Veränderung, denen das Moment der Ungewissheit und Offenheit des Zukünftigen eingeschrieben ist. Gerade für ein kritisches Verständnis politischer Bildung ist dies ein zentraler Aspekt, lassen sich doch der Abbau von Herrschaftsverhältnissen, Demokratisierung sowie Emanzipation nicht im Modus der vorausgreifenden Verhinderung begründen. Vielmehr würde dadurch der affirmative, auf Anpassung und Erhalt fokussierte Blick auf politische Bildung verfestigt werden. Das Verhältnis von Demokratie und politischer Bildung wäre in der Lesart der Prävention daher ein konservatives: Politische Bildung soll Demokratie so, wie sie ist, festschreiben helfen. Dem zugrunde liegt sowohl ein verkürzter Begriff von Demokratie als auch ein abgeschnittener Begriff von Bildung, der lediglich die eine Seite, die der Anpassung, bedient und die der Bildung inhärenten Momente der Emanzipation, des Widerstands und der Autonomie ausklammert. In einer solchen Lesart politischer Bildung werden die Lernenden, die Subjekte des Bildungsprozesses, primär als Verdächtige angesprochen, die einer präventiven Behandlung bedürfen. Wenn Identitäts-Bildung aber ein offener, nicht festzuschreibender Prozess ist, erschöpft sich Bildung nicht in
Prävention.

An den gegenwärtigen Debatten um das Demokratiefördergesetz zeigt sich das spannungsreiche Wechselverhältnis von staatlicher Inanspruchnahme durch Anrufungen der politischen Bildung und professioneller Entgegnung, wobei unterschiedliche Verständnisse von Demokratie aufeinanderprallen. Diese Interaktion aus Inanspruchnahmen und Entgegnungen lässt sich als Konflikt um Demokratie in der Demokratie deuten. Die so einleuchtende Aufgabenstellung einer "politischen Bildung in der und für die Demokratie" muss, soll sie nicht als reine Pathosformel gelesen werden, innerhalb dieses Spannungsverhältnisses immer wieder neu ausgehandelt werden. Dabei zeigt sich auch: Politische Bildung ist, genau wie das Sprechen über sie, immer politisch und niemals neutral.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine Kritik des Extremismusmodells als Bezugsquelle für politische Bildung ist hier nicht der Raum. Eine Einordnung liefert Julika Bürgin, Extremismusprävention als polizeiliche Ordnung. Zur Politik der Demokratiebildung, Weinheim–Basel 2021.

  2. Vgl. Hans-Georg Wehling, Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Anmerkungen und Argumente, Stuttgart 1977, S. 173–184.

  3. Vgl. Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.), Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn 2016.

  4. Vgl. Andreas Eis, Polarisierung der Gesellschaft – Entpolitisierung schulischer Politischer Bildung?, in: Polis 3/2019, S. 7–10.

  5. Vgl. Carsten Bünger, Was heißt kritische politische Bildung heute? Zum Problem der Kritik, in: Benedikt Widmaier/Bernd Overwien (Hrsg.), Was heißt heute Kritische Politische Bildung?, Schwalbach/Ts. 2013, S. 51–59.

  6. Theodor W. Adorno, Einleitung in die Soziologie, Frankfurt/M. 20175 (1969), S. 31.

  7. Wolfgang Sander, Was macht gute Demokratiebildung in der Migrationsgesellschaft aus?, in: Dialog macht Schule (Hrsg.), Demokratiebildung und Migrationsgesellschaft, Berlin 2022, S. 29f.

  8. Vgl. Pierre Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992, Berlin 2017.

  9. Vgl. Rolf Schmiederer, Zur Kritik der Politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des Politischen Unterrichts, Frankfurt/M. 1971.

  10. Vgl. Klaus-Peter Hufer/Dagmar Richter (Hrsg.), Politische Bildung als Profession. Verständnisse und Forschungen, Bonn 2013.

  11. Vgl. Bettina Lösch, Wie politisch darf und sollte politische Bildung sein? Die aktuelle Debatte um "politische Neutralität" aus Sicht einer kritisch-emanzipatorischen politischen Bildung, in: Claudia Gärtner/Jan-Hendrik Herbst (Hrsg.), Kritisch-emanzipatorische Religionspädagogik. Diskurse zwischen Theologie, Pädagogik und Politischer Bildung, Wiesbaden 2020, S. 383–402.

  12. Vgl. Steffen Pelzel, Bildungstheorie als Schlüssel der Kritik. Mit Heydorn sozial-ökologische Anliegen durchsetzen?, in: Jannis Eicker et al. (Hrsg.), Bildung Macht Zukunft. Lernen für die sozial-ökologische Transformation, Frankfurt/M. 2020, S. 103–109.

  13. Vgl. Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt/M. 2006.

  14. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)/Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI), Eckpunkte für ein Gesetz zur Stärkung und Förderung der wehrhaften Demokratie, 12.5.2021, S. 1, Externer Link: http://www.bmfsfj.de/resource/blob/179334/97576dd4a085ab28e0cb564132e87e4c/20210512-eckpunkte-wehrhafte-demokratie-gesetz-data.pdf.

  15. BMFSFJ/BMI, Diskussionspapier von BMFSFJ und BMI für ein Demokratiefördergesetz, 25.2.2022, S. 1, Externer Link: http://www.bmfsfj.de/diskussionspapier-demokratief%C3%B6rdergesetz.

  16. Entwurf eines Gesetzes über die Verstetigung von Maßnahmen zur Demokratieförderung, S. 1, Externer Link: http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/09/dfoerdg_entwurf_bagd.pdf.

  17. BMFSFJ/BMI (Anm. 15), S. 2.

  18. Vgl. Matthias Leanza, Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie, Weilerswist 2017.

  19. BMFSFJ/BMI (Anm. 15), S. 4.

  20. Ebd.

  21. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

  22. Vgl. Ulrich Bröckling, Dispositive der Vorbeugung: Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution, in: Christopher Daase/Philipp Offermann/Valentin Rauer (Hrsg.), Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt/M. 2012, S. 93–108.

  23. BMFSFJ/BMI, Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung, 13.7.2016, S. 19, Externer Link: http://www.bmfsfj.de/resource/blob/109002/5278d578ff8c59a19d4bef9fe4c034d8/strategie-der-bundesregierung-zur-extremismuspraevention-und-demokratiefoerderung-data.pdf.

  24. Vgl. Helga Cremer-Schäfer, Über die Produktivität der "frühen Kritik" von Prävention als Denkweise und Politik, in: Widersprüche 1/2016, S. 11–23.

  25. Vgl. Deutsche Vereinigung für Politische Bildung e.V., Politische Bildung für die Demokratie!, 11.11.2020, Externer Link: https://dvpb.de/2020/11/11/politische-bildung-fuer-die-demokratie-2.

  26. Vgl. Marlon Barbehön/Alexander Wohnig, (Politische) Bildung als Verhinderung: Zu den Verkürzungen eines präventiven Zukunftsbezugs, in: Carsten Bünger et al. (Hrsg.), Jahrbuch für Pädagogik 2021, Weinheim–Basel 2022, S. 170–181.

  27. Vgl. Jürgen Straub, Identitäts-Bildung und die Offenheit der Person, in: HeiEducation Journal 3/2019, S. 37–62.

  28. Vgl. Markus Rieger-Ladich, Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädagogischen Semantik, Konstanz 2002.

  29. Vgl. Alexander Wohnig/Peter Zorn (Hrsg.), Neutralität ist keine Lösung! Politik, Bildung – politische Bildung, Bonn 2022.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autoren/-innen: Marlon Barbehön, Alexander Wohnig für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und der Autoren/-innen teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist habilitierter Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg.
E-Mail Link: marlon.barbehoen@ipw.uni-heidelberg.de

ist Juniorprofessor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Siegen und Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung e.V.
E-Mail Link: alexander.wohnig@uni-siegen.de