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Bald 70 Jahre sind seit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht vergangen. Es ist für alle Zeiten unbegreiflich, was Deutsche anderen Deutschen und ihren europäischen Nachbarn im Zweiten Weltkrieg angetan haben. Die Brutalität und Menschenverachtung, mit der zuvor ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen wie Kranke, Sinti und Roma und vor allem Juden millionenfach verfolgt und ermordet wurden, mit der Kriegsgefangene misshandelt wurden und Zwangsarbeiter unter unvorstellbar elenden Bedingungen das Überleben des NS-Staates sichern sollten, erregt in der Rückschau Entsetzen.
Das Kriegsende hinterließ Überlebende, die traumatische Erfahrungen gemacht hatten – aber auch ein Volk von Besiegten, das in seiner Mehrzahl behauptete, nichts von den Verbrechen der Nationalsozialisten gewusst und sich erst recht nicht an diesen beteiligt zu haben.
Vor allem die Opfer, aber auch die Täter mussten fortan mit ihren Erinnerungen leben und – zumeist allein – verarbeiten, was sie erlebt, erlitten und getan hatten. Der Neubeginn nach 1945, der Wiederaufbau aus Trümmern, nahm alle verfügbaren Energien in Anspruch. Die Stimmen der überlebenden Opfer blieben meist ungehört, und die Täter suchten ihre Schuld zu verdrängen. Häufig prägten bedrückende personelle Kontinuitäten die Führungseliten der Nachkriegszeit.
Eine positive Konsequenz, die aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen wurde, ist die europäische Einigung. Unter dem Dach der EU sind die Staaten Europas inzwischen eng zusammengerückt, demokratisch und rechtsstaatlich verfasst sowie wirtschaftlich eng verflochten. Im Zeichen gewachsener Mobilität und geförderter Begegnungen wie Schüleraustausch und Städtepartnerschaften ist es für die Bürgerinnen und Bürger der Staatengemeinschaft längst selbstverständlich geworden, sich in den Nachbarländern ungehindert zu bewegen und dort willkommene Gäste zu sein.
Doch kommt es, wie in Zeiten der Finanz- und Schuldenkrise, innerhalb der Eurostaaten zu Irritationen und wirtschaftlichen Asymmetrien, werden auch alte Stereotypen reaktiviert. Deutschland gilt dann in Teilen der öffentlichen Meinung mitunter wieder als Aggressor, der nun auf wirtschaftlichem Wege erreichen wolle, was ihm einst militärisch verwehrt blieb. Angesichts solcher Verwerfungen tun sich die Deutschen wiederum schwer mit einer aktiven und selbstbewussten Rolle in Europa, selbst wenn manche Partnerländer immer häufiger "mehr Führung“ von Berlin erwarten.
Innergesellschaftlich ist die Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie weiterhin gefordert. Seit dem Herbst 2011 haben wir schreckliche Gewissheit: Rechtsextremistische Terrorgruppen sind in Deutschland aktiv. Sie pflegen das entsprechende Gedankengut und schrecken vor Gewalttaten, vor hinterhältigen Morden nicht zurück.
Dabei ist es schon traurige Gewohnheit, dass Synagogen in Deutschland nach wie vor bewacht werden, um sie gegen antisemitische Übergriffe zu schützen. Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Glaubensgemeinschaft erhalten immer wieder Schmäh- und Drohbriefe. Und die Neigung, Minderwertigkeitsgefühle durch Aggression gegen vermeintlich Schwächere zu kompensieren und sich auf Kosten anderer überlegen zu fühlen, bleibt ein innergesellschaftliches Problem. Der zivilgesellschaftliche Firnis kann sich als schockierend dünn erweisen.
Vor diesem Hintergrund erscheint das Heft "Nationalsozialismus: Krieg und Holocaust“. Wie seine Vorgängerausgabe "Nationalsozialismus: Aufstieg und Herrschaft“ greift es den neuesten Forschungsstand auf, geht der Frage nach dem Wie und Warum nach und skizziert in anschaulicher Weise Grenzerfahrungen, die die Beteiligten, Opfer wie Täter, machen mussten.
In Zitaten und Augenzeugenberichten von Opfern und Tätern, in Berichten von Überlebenden, in politischer Propaganda und in Frontbriefen einfacher Soldaten werden unterschiedlichste Stimmen laut. Amtliche Dokumente und Vertragstexte hüllen den Schrecken in nüchterne Sprache, und Fotoaufnahmen ziehen den Betrachter in das Geschehen. Letzteren gilt, wie bereits im Vorgängerheft, unser besonderes Augenmerk. Oft aus der Täterperspektive oder aus propagandistischen Erwägungen heraus entstanden, belegen sie anschaulich die Verstrickung ins Unrecht und ein mangelndes Unrechtsbewusstsein.
Die Darstellung konzentriert sich auf den Rasse- und Weltanschauungskrieg, den die Deutschen in Europa führten. Dabei wird deutlich, wie sich aus ideologischer Indoktrinierung und der Bereitschaft zur Umsetzung der mörderischen Ziele, aus den Vorgaben der NS-Führung und den persönlichen Motiven und Entscheidungen der Ausführenden vor Ort das Geschehen zusehends radikalisierte und wie die Verstrickung in eine Gewaltspirale funktionierte. Die Frage nach individueller Verantwortung, nach dem eigenen Gewissen, bleibt unverändert aktuell.
Christine Hesse
Editorial
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Bald 70 Jahre sind seit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht vergangen. Es ist für alle Zeiten unbegreiflich, was Deutsche anderen Deutschen und ihren europäischen Nachbarn im Zweiten Weltkrieg angetan haben. Die Brutalität und Menschenverachtung, mit der zuvor ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen wie Kranke, Sinti und Roma und vor allem Juden millionenfach verfolgt und ermordet wurden, mit der Kriegsgefangene misshandelt wurden und Zwangsarbeiter unter unvorstellbar elenden Bedingungen das Überleben des NS-Staates sichern sollten, erregt in der Rückschau Entsetzen.