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Krieg und Holocaust

Michael Wildt

/ 3 Minuten zu lesen

Zerstörter Straßenzug in Rotterdam 1940 (© bpk/Bayerische Staatsbibliothek/Archiv Heinrich Hoffmann)

Einleitung

Das NS-Regime brachte Tod und Verwüstung über Europa und andere Teile der Welt. Etwa 55 Millionen Menschen kostete der Zweite Weltkrieg das Leben, die meisten von ihnen waren Zivilisten. Annähernd sechs Millionen Juden wurden ermordet, ebenso Hunderttausende Roma und Sinti sowie behinderte, kranke Menschen, die als "lebensunwertes Leben“ der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus zum Opfer fielen.

Den Krieg hatte die nationalsozialistische Führung von Anfang an gewollt. Mit Gewalt sollten nicht nur die Gebiete zurückgewonnen werden, die durch den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg verloren gegangen waren. Mit dem Krieg sollte vor allem "Lebensraum“ im Osten erobert werden, denn aus nationalsozialistischer Sicht war das Deutsche Reich zu klein, um das deutsche Volk auf Dauer ernähren zu können. In einem künftigen "Großdeutschen Reich“, das Polen, das Baltikum sowie die Ukraine einschließen und bis weit nach Russland reichen sollte, würden deutsche Siedler als "Herrenrasse“ das Land beherrschen und die einheimische Bevölkerung entweder vernichten, vertreiben oder als Sklaven für sich arbeiten lassen.

Denn das war die zweite Leitlinie nationalsozialistischer Politik: die "rassische“ Neuordnung eines von Deutschland beherrschten Europas. Vor allem galt es, aus Deutschland wie aus allen erreichbaren Ländern die jüdische Minderheit zu vertreiben und mit zunehmender Radikalisierung der Gewalt zu vernichten. Der Krieg schuf den Rahmen für das Menschheitsverbrechen: die Ermordung der europäischen Juden.

Krieg, Antisemitismus und Rassismus bildeten von Beginn an Ziel und Leitprinzipien des NS-Regimes. Unmittelbar nach dem Machtantritt im Januar 1933 stellte die Hitler-Regierung bereits die wirtschaftlichen Weichen für eine massive Aufrüstung. Im April 1933 erließ sie die ersten antisemitischen Gesetze, mit denen Juden verboten wurde, im öffentlichen Dienst tätig zu sein. Im Juli 1933 folgte das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das die Zwangssterilisation von hunderttausenden Menschen erlaubte, die als "erbkrank“ oder behindert galten.

In den folgenden Jahren löste sich Deutschland mehr und mehr aus seinen internationalen Verpflichtungen, revidierte nach und nach alle Auflagen des Versailler Vertrages, rüstete auf, gewann Österreich und das Sudetenland hinzu und war damit doch noch immer nicht zufrieden, sondern handelte unerbittlich auf das eigentliche Ziel hin: die Eroberung von "Lebensraum“ im Osten.

Mit dem Überfall auf Polen im September 1939 begann nicht nur der Zweite Weltkrieg, sondern auch der Massenmord an den Juden. Dabei geschah der Holocaust nicht auf alleinige Entscheidung Hitlers. Vielmehr radikalisierte sich die Gewalt gegen die Juden in Europa vor allem im Zuge des Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion ab 1941 zunehmend und mündete schließlich in die systematische Deportation und Ermordung der europäischen Juden in den Vernichtungsstätten im Osten: Auschwitz, Treblinka, Sobibór, Bełz˙ec und andere.

Dann erreichte der Krieg seinen Ausgangsort, Deutschland selbst. Ab 1942 wurde es Ziel massiver alliierter Luftangriffe, die die Städte zerstörten, hunderttausende Menschen töteten und Millionen obdachlos machten – ebenso wie deutsche Luftangriffe zuvor Städte wie Guernica, Coventry, Warschau, Belgrad, Leningrad, Minsk und Rotterdam zerstört hatten. Das Ende des NS-Regimes 1945 erlebten daher Millionen Menschen in Europa als Befreiung, vor allem die Überlebenden der Vernichtungslager und der Todesmärsche, die KZ-Häftlinge, die Kriegsgefangenen und die Zwangsarbeiter. Für Millionen Deutsche, die aus den damaligen deutschen Ostprovinzen flüchten mussten oder vertrieben wurden, bedeutete das Ende des Krieges den Verlust ihrer Heimat und einen Neuanfang in unsicheren Zeiten. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft, tief verstrickt in die Verbrechen des Nationalsozialismus, konzentrierte sich in den beiden deutschen Staaten, die 1949 entstanden, auf den Wiederaufbau und verdrängte die NS-Vergangenheit. Sie sollte aus dem Bewusstsein rücken und holte doch die Deutschen immer wieder ein: juristisch durch die Bestrafung vieler Täter, wirtschaftlich durch die Entschädigungsleistungen an die Opfergruppen, politisch durch die Debatte um das künftige staatliche Selbstverständnis und kulturell durch die moralische Auseinandersetzung mit der eigenen schuldhaften Vergangenheit. Krieg und Holocaust sind Geschichte. Doch die Frage, wie solche Verbrechen geschehen konnten, steht weiter im Raum.

Michael Wildt ist gelernter Buchhändler und arbeitete von 1976 bis 1979 im Rowohlt-Verlag. Anschließend studierte er von 1979 bis 1985 Geschichte, Soziologie, Kulturwissenschaften und Theologie an der Universität Hamburg. 1991 schloss er seine Promotion zum Thema „Auf dem Weg in die ‚Konsumgesellschaft‘. Studien über Konsum und Essen in Westdeutschland 1949-1963“ ab und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg. Von 1997 bis 2009 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und habilitierte 2001 mit einer Studie über das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Seit 2009 ist er Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt in der Zeit des Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Nationalsozialismus, Holocaust, Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und soziale wie politische Ordnungsvorstellungen in der Moderne.

Kontakt: E-Mail Link: michael.wildt@geschichte.hu-berlin.de

Peter Krumeich, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Wildt, hat an der inhaltlichen Entwicklung des Heftes mitgewirkt und insbesondere in Abstimmung mit der Redaktion die Bildrecherche für dieses Heft übernommen.