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Japans zaghafte Öffnung für internationale Pflegekräfte | Japan | bpb.de

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Japans zaghafte Öffnung für internationale Pflegekräfte

Gabriele Vogt

/ 7 Minuten zu lesen

Japans Bevölkerung altert, der Bedarf an Pflegekräften steigt. Unter dem demografischen Druck öffnet sich das Land inzwischen für Zuwanderung aus dem Ausland.

Eine philippinische Pflegerin beim Training in einem Pflegeheim in Kesennuma, Japan. (© picture-alliance)

In der Altenpflege zeigt sich Japans Fachkräftemangel besonders deutlich. Eine steigende Nachfrage nach professionalisierter Pflege korreliert mit einer sinkenden Zahl an Berufseinsteiger:innen. Angesichts dessen öffnet sich Japan, welches unter den liberalen Demokratien zu den Ländern mit den restriktivsten Einwanderungsgesetzen zählt, seit Mitte der 2000er Jahre zaghaft für die Zuwanderung internationaler Pflegekräfte. Was sind die gesellschaftlichen und ökonomischen Hintergründe dieser politischen Reform und welche Bedeutung kommt den internationalen Pflegekräften heute in Japan zu?

Fortschreitender demografischer Wandel

Japan weist bei den drei wesentlichen demografischen Variablen Fertilität, Mortalität und Mobilität Extremwerte auf, die eine Dynamik von Alterung und Abnahme der Gesamtbevölkerung bedingen. Im Jahr 2040 wird bereits mehr als jede dritte im Land lebende Person (34,8 Prozent) im Seniorenalter sein. Diese numerische Entwicklung und eine seit der Einführung der Pflegeversicherung im Jahr 2000 steigende gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber außerfamiliär geleisteter Pflegearbeit erhöhen die Nachfrage nach professionellen Pflegekräften. Japan müsste jährlich 70.000 neue Pflegekräfte rekrutieren, um dem Bedarf adäquat zu begegnen.

Auf einen Blick: Demografische Merkmale Japans

Die Geburtenrate (Fertilität) in Japan liegt bei 1,30 Kindern pro Frau, die Lebenserwartung bei 86,3 Jahren für Frauen und 79,6 Jahren für Männer (geboren 2021).

Das Interner Link: Medianalter ist zwischen 2000 und 2023 von 40,7 auf 49,1 Jahre gestiegen. Die Zahl der pro Jahr registrierten Sterbefälle (Mortalität) ist höher als die Zahlen der Geburten im gleichen Zeitraum. Da dieses sogenannte Geburtendefizit nicht durch Zuwanderung ausgeglichen wird, schrumpft Japans Bevölkerung seit 2010. 2022 verringerte sie sich um 800.000 Menschen – obwohl die Zahl der im Land lebenden ausländischen Staatsangehörigen um 289.500 Personen stieg.

Im Jahr 2021 lebten in Japan 2,76 Millionen Menschen ohne japanischen Pass; dies entspricht lediglich 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung (über 125 Millionen) und ist für die demografische Entwicklung der Nation von geringer Bedeutung.

Zum Vergleich Deutschland:

In Deutschland belief sich die Geburtenrate 2022 auf 1,46 Kinder je Frau. Die Lebenserwartung der 2022 geborenen Frauen betrug 82,9 Jahre, die der Männer 78,2 Jahre. Auch in Deutschland altert die Bevölkerung. Das Medianalter stieg zwischen 2000 und 2023 von 39,0 auf 44,9 Jahre. Die Bevölkerung Deutschlands wäre ohne Zuwanderung seit den frühen 1970er Jahren geschrumpft; seitdem übersteigt die jährliche Zahl der Sterbefälle die der Geburten. Die Zuwanderung konnte das Geburtendefizit jedoch in den meisten Jahren mehr als ausgleichen und die Bevölkerung Deutschlands wuchs. Ende 2022 lebten 84,4 Millionen Menschen in Deutschland (2010: 81,8 Millionen). Davon waren 12,3 Millionen ausländische Staatsangehörige, was 14,6 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Zuwanderung hat also eine signifikante Bedeutung für die demografische Entwicklung Deutschlands.

Fußnoten

  1. NIPSSR, National Institute of Population and Social Security Research (2023): Jinkō tōkei shiryōshū (Materialien zur Bevölkerungsstatistik). Externer Link: https://www.ipss.go.jp/syoushika/tohkei/Popular/Popular2023RE.asp?chap=0 (Zugriff am 23.07.2023).

  2. Externer Link: https://database.earth/population/median-age/2023 (Zugriff: 24.08.2023).

  3. Jozuka, Emiko; Jessie Yeung und Junko Fukutome (2023): Japan’s population fell by 800,000 last year as demographic crisis accelerates. CNN, 27. Juli. Externer Link: https://edition.cnn.com/2023/07/27/asia/japan-population-drop-2022-intl-hnk/index.html (Zugriff: 24.08.2023).

  4. NIPSSR, National Institute of Population and Social Security Research (2023): Jinkō tōkei shiryōshū (Materialien zur Bevölkerungsstatistik). Externer Link: https://www.ipss.go.jp/syoushika/tohkei/Popular/Popular2023RE.asp?chap=0 (Zugriff am 23.07.2023).

  5. Statistisches Bundesamt (2023): Zusammengefasste Geburtenziffer nach Kalenderjahren. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Geburten/Tabellen/geburtenziffer.html (Zugriff: 24.08.2023).

  6. Statistisches Bundesamt (2023): Lebenserwartung während der Pandemie um 0,6 Jahre gesunken. Pressemitteilung Nr. 293 vom 25. Juli. Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/07/PD23_293_12621.html (Zugriff: 24.08.2023).

  7. Externer Link: https://database.earth/population/germany/median-age (Zugriff: 24.08.2023).

  8. Statistisches Bundesamt (2011): Statistisches Jahrbuch 2011. Externer Link: https://www.statistischebibliothek.de/mir/servlets/MCRFileNodeServlet/DEAusgabe_derivate_00000135/1010110117004.pdf (Zugriff: 24.08.2023).

  9. Statistisches Bundesamt (2023): Bevölkerung nach Nationalität und Geschlecht (Quartalszahlen). Externer Link: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/Tabellen/liste-zensus-geschlecht-staatsangehoerigkeit.html#616584 (Zugriff: 24.08.2023).

Fachkräftemangel in der Altenpflege und Gegenmaßnahmen aus der Politik

Schon heute geben 61,3 Prozent der Pflegekräfte in Japan an, mit ihrem Beruf unzufrieden zu sein. Die am häufigsten genannten Gründen dafür sind niedrige Löhne sowie die körperlichen und mentalen Herausforderungen des Berufs. Statt jedoch diese Themen zu adressieren, setzt Japan zum einen auf die Aktivierung der Alten – denn gesundes Altern bedeutet weniger Pflegebedarf – und zum anderen auf die Intensivierung der Forschung und Entwicklung in der Robotik; doch noch sind die Anschaffungskosten für die Geräte zu hoch und die Belegschaften haben zu viele Berührungsängste im Umgang mit den „robotischen Kolleg:innen“.

Bilaterale Abkommen als Startschuss für die Zuwanderung internationaler Pflegekräfte

Die bilateralen Abkommen, die sogenannten Economic Partnership Agreements (EPA), die Japan mit Indonesien (2008), den Philippinen (2009) sowie Vietnam (2014) vereinbarte, markieren eine neue Strategie im Umgang mit dem steigenden Pflegebedarf und zugleich einen migrationspolitischen Paradigmenwandel in Japan. Erstmals öffnete Japan seinen Arbeitsmarkt für ausländische Arbeitskräfte, die nicht im engen Sinne zum Segment der Hochqualifizierten zählen. Dieser Zuwanderungskanal, der in seiner Ausgestaltung dem deutschen Triple Win Program (TWP) ähnelt, konnte bis dato jedoch nur wenige Pflegekräfte ins Land locken. Im Januar 2023 arbeiteten 3.257 sogenannte EPA-Pflegekräfte in Japan.

Was ist das Programm Triple Win?

Das 2013 ins Leben gerufene Programm Triple Win dient der Gewinnung von ausländischen Pflegekräften für den deutschen Arbeitsmarkt. Es soll dazu beitragen, den in Deutschland bestehenden Mangel an Pflegekräften zu beheben. Träger des Programms sind die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit (BA). Die Pflegekräfte kommen im Rahmen von Vermittlungsabsprachen nach Deutschland, die die BA mit den Arbeitsvermittlungen der Herkunftsländer trifft. Bislang existieren solche Absprachen mit Bosnien- und Herzegowina, den Philippinen, Tunesien, Indonesien, dem indischen Bundesstaat Kerala und Jordanien sowie mit Vietnam, von wo aber ausschließlich Auszubildende in der Pflege rekrutiert werden (Stand: August 2023). Die über Triple Win angeworbenen Personen dürfen sich bis zu drei Jahre in Deutschland aufhalten und hier arbeiten. Gelingt es ihnen während dieser Zeit, ihre im Ausland erworbenen Berufsabschlüsse anerkennen zu lassen, können sie eine Aufenthaltserlaubnis für Fachkräfte mit Berufsausbildung erhalten und längerfristig in Deutschland bleiben. Bis Mai 2023 konnten über Triple Win nach Angaben der Bundesregierung 4.162 ausgebildete Pflegekräfte angeworben werden. Insgesamt arbeiteten in Deutschland Ende 2022 rund 1,8 Millionen Menschen in Pflegeberufen, darunter rund 266.000 ausländische Staatsangehörige (ca. 15 Prozent).

2020/21 fehlten in Deutschland laut einer Studie des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung (KOFA) mehr als 17.000 Fachkräfte in der Altenpflege und 14.000 Fachkräfte in der Gesundheits- und Krankenpflege. Weil die Zahl der Pflegebedürftigen aufgrund der demografischen Entwicklung in Deutschland steigt, wird der Bedarf an Pflegekräften in Zukunft wachsen. Bereits 2018 hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) errechnet, dass bis 2023 allein in der Altenpflege mindestens 135.000 Fachkräfte fehlen werden.

Fußnoten

  1. Bundesagentur für Arbeit, Programm Triple Win, Externer Link: https://www.arbeitsagentur.de/vor-ort/zav/projects-programs/health-and-care/triple-win (Zugriff: 24.08.2023).

  2. Deutscher Bundestag (2023): Drucksache 20/7861 vom 26.07.2023: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Stephan Brandner und der Fraktion der AfD – Drucksache 20/7453. Externer Link: https://dip.bundestag.de/drucksache/auf-die-kleine-anfrage-drucksache-20-7453-anwerbung-ausl%C3%A4ndischer-pflegekr%C3%A4fte/268960?term=Triple%20Win&f.wahlperiode=20&rows=25&pos=3 (Zugriff: 24.08.2023).

  3. Syda, Susanne; Robert Köppen und Helen Hickmann (2021): Pflegeberufe besonders vom Fachkräftemangel betroffen. KOFA Kompakt 10/2021, Externer Link: https://www.kofa.de/media/Publikationen/KOFA_Kompakt/Pflegeberufe_2021.pdf (Zugriff: 24.08.2023).

  4. Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft (iwd) (2018): Pfleger, bitte kommen! 10. Oktober, Externer Link: https://www.iwd.de/artikel/pfleger-bitte-kommen-402971/ (Zugriff: 24.08.2023).

Gründe für diese geringe Zahl finden sich in den zahlreichen Unsicherheiten, die der EPA-Zuwanderungskanal sowohl für die internationalen Pflegekräfte als auch für deren Arbeitgeber:innen in Japan mit sich bringt. Vor allem das nationale Examen, das die in ihren Heimatländern ausgebildeten Pflegekräfte nach maximal vier Arbeitsjahren in japanischer Sprache ablegen müssen, stellt eine Herausforderung dar. Erst wenn sie dieses bestanden haben, können die ausländischen Pflegekräfte von den Heimleitungen als zertifiziertes Personal mit längerfristiger Perspektive in der Personalplanung berücksichtigt werden. Diese systemische Hürde der Nicht-Anerkennung außerhalb Japans erworbener Qualifikationen ist auf Initiative des Arbeitsministeriums etabliert worden, das sich als Vertreter der Interessen einheimischer Pflegekräfte dafür stark machte. Damit war der EPA-Zuwanderungskanal von Beginn an so unattraktiv, dass die als Obergrenze vereinbarte Quote von 1.000 zuwandernden Pflegekräften pro Jahr und Partnerland noch nie erreicht werden konnte.

Neue Zuwanderungskanäle für internationale Pflegekräfte aus der Ära Abe

Jenseits des EPA-Kanals öffneten politische Reformen in der zweiten Amtszeit von Premierminister Shinzō Abe (2006-07, 2012-20) neue Zuwanderungsmöglichkeiten für internationale Pflegekräfte. Diese stehen im Kontext seiner als Programm zur wirtschaftlichen Revitalisierung („Abenomics“) ausgerufenen Arbeitsmarktreform, die u.a. dem Fachkräftemangel entgegenwirken sollte.

So wurde ab 2017 das Zuwanderungssystem für internationale Praktikant:innen neu aufgestellt und auf Pflegeberufe ausgeweitet. Wenngleich im Januar 2023 bereits 17.066 ausländische Praktikant:innen in der Pflege beschäftigt waren, scheuen doch auch zahlreiche Heimleitungen davor zurück, diesen Zuwanderungskanal zu nutzen. Zwar gilt dieses System unter dem Schlagwort des Wissenstransfers als Baustein der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. De facto aber schleust es einfache Arbeitskräfte auf temporärer Basis und teils unter Missachtung von Arbeits- und Menschenrechten in den japanischen Arbeitsmarkt ein.

Auch im sogenannten Specified Skilled Workers (SSW)-Programm von 2019 sind Pflegeberufe neben anderen vom Fachkräftemangel betroffenen Branchen als Zielgruppe definiert. Innerhalb der ersten fünf Laufjahre des Programms sollen bis zu 60.000 internationale Pflegekräfte die Möglichkeit erhalten, sich in Japan durch eine Ausbildung am Arbeitsplatz (On-the-job-training) weiter zu qualifizieren; perspektivisch sollen sie in den 2016 geschaffenen berufsbezogenen Aufenthaltstitel „Pflegekraft“ (kaigo) wechseln können. Dieser ermöglicht ihnen dann eine langfristige Arbeits- und Aufenthaltsperspektive in Japan. Bis Juni 2022 wurde der neue Aufenthaltstitel bereits an 5.339 Personen vergeben; darunter sind auch Wechsler:innen aus dem EPA-Zuwanderungskanal. Erstmals wird damit die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs in Japans Zuwanderungssystem verankert. Dies erhöht die Chancen, Fachkräfte, die sich über Jahre in den japanischen Arbeitsmarkt und in die lokale Gesellschaft integriert haben, langfristig im Land zu halten.

Noch einen Schritt früher setzen mittlerweile die überwiegend in privater Trägerschaft stehenden Pflegeschulen an. Sie werben neue Auszubildende aus den Nachbarländern an – auch, weil die inländische Nachfrage nach diesen Ausbildungsplätzen sinkt und damit der ökonomische Druck auf diese Schulen wächst. Kamen 2016 nur drei Prozent der neu eingeschriebenen Auszubildenden aus dem Ausland, so wuchs deren Anteil bis 2020 auf den bisherigen Höchststand von 34 Prozent bzw. 2.395 Personen. Im Jahr 2022 lag ihr Anteil bei 28 Prozent. Der Rückgang spiegelt die Auswirkungen der Grenzschließungen für Nicht-Japaner:innen wider, die über zweieinhalb Jahre Kernbestandteil der Bemühungen zur Eindämmung der Coronapandemie waren und das Land gegenüber internationaler Mobilität umfassend abschotteten.

Fazit

Ein Blick auf die Zuwanderung von Pflegekräften nach Japan offenbart eine große Kluft zwischen einerseits der demografisch-ökonomischen Notwendigkeit, den Pool der Pflegekräfte zu vergrößern und andererseits den zuwanderungspolitischen Initiativen, die nur mäßig effizient auf diesen Bedarf reagieren. Knapp zwei Jahrzehnte nach der Implementierung des EPA-Zuwanderungskanals steht dessen geringe Effizienz allen Beteiligten in Politik und Wirtschaft deutlich vor Augen. Neuere Initiativen konzentrieren sich auf die Anwerbung weniger qualifizierten Personals und von Pflegeschüler:innen. Diese Diversifizierung der Zuwanderungskanäle scheint geboten. Die internationale Zuwanderung von Pflegekräften in ihrer aktuellen Ausgestaltung reicht jedoch nicht aus und kann nicht die einzige Strategie bleiben, um dem Fachkräftemangel in der Pflege wirkungsvoll zu begegnen.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Gabriele Vogt ist Professorin für Japanologie und Direktorin des Departments für Asienstudien an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen demografischer Wandel, Arbeitsmarkt und Zuwanderung sowie Lokalpolitik und politische Partizipation in Japan. 2018 ist ihre Monografie „Population Aging and International Health-Caregiver Migration to Japan” (Springer) erschienen.