Das Jahr 2015 ist in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung Deutschlands als Jahr der "Flüchtlingskrise" eingegangen. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik war die Zahl der neu einreisenden Asylsuchenden höher. Die Reaktionen in der Bevölkerung schwankten zwischen euphorischer Aufnahmebereitschaft und gewaltsamer Abwehr der Schutzsuchenden, zwischen Willkommenskultur und Rufen nach Abschottung, zwischen Weltoffenheit und Nationalismus. Einerseits zeigte sich ein beispielloses Interner Link: zivilgesellschaftliches Engagement für Geflüchtete, das die Unterbringung und Versorgung der Schutzsuchenden oft erst ermöglichte, da die staatlichen Strukturen angesichts der schieren Zahl der Asylsuchenden zwischenzeitlich vollkommen überfordert schienen. Andererseits nahm die Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte deutlich zu. Aufzeichnungen zufolge wurde im Schnitt jeden dritten Tag ein Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft verübt.
Vor diesem Hintergrund erleben Fragen zur gesellschaftlichen Integration einen Bedeutungszuwachs: Wie können und wie wollen wir in Zukunft in diesem Land zusammenleben? Darauf müssen Politik und Zivilgesellschaft Antworten finden. Das zeigt auch eine repräsentative Umfrage in der wahlberechtigten Bevölkerung von Januar 2017: Demnach halten die Befragten das Thema Zuwanderung und Integration für das wichtigste Thema, um das sich die Bundesregierung 2017 kümmern sollte, gefolgt vom Thema Innere Sicherheit.
Der Fokus der Debatte hat sich verschoben: 2015 wurde über Fragen der Bewältigung der "Flüchtlingskrise" und eine mögliche "Belastungsgrenze" diskutiert. 2016 rückte vor dem Hintergrund einer stark rückläufigen Zahl neu einreisender Asylsuchender die Integration der langfristig in Deutschland verbleibenden Menschen in den Vordergrund. Parallel dazu erhielten Sicherheitsfragen mehr Aufmerksamkeit.
Wenn Fluchtzuwanderung als Sicherheitsrisiko wahrgenommen wird, dann ergibt sich daraus die logische Konsequenz, Abschottungsmaßnahmen auszubauen. In der EU setzt sich Deutschland dafür ein, EU-Anrainerstaaten wieder stärker in das europäische Grenzregime einzubeziehen. Das System der "Vorfeldsicherung" würde so wieder etabliert, das im Zuge des "Arabischen Frühlings" und der damit verbundenen Destabilisierung diverser Staaten in der Nachbarschaft der EU zusammengebrochen war. So gibt es neben dem Interner Link: Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei auch Bestrebungen, stärker Interner Link: mit Libyen zu kooperieren, dem wohl wichtigsten Transitland für Flüchtlinge und Migranten aus Afrika, die über das Mittelmeer in die EU gelangen wollen. Auch mit anderen afrikanischen Staaten wurden Abkommen getroffen. Sie verpflichten sich im Rahmen dieser sogenannten "Migrationspartnerschaften" dazu, die irreguläre Migration in Richtung Europa einzudämmen und abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen. Im Gegenzug stockt die EU ihre Entwicklungshilfe in diesen Ländern auf, um Fluchtursachen zu bekämpfen. Menschen sollen davon abgehalten werden, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Europa selbst schottet viele seiner Grenzen durch Zäune gegen Zuwanderer ab. Die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist zu einer Agentur für die Grenz- und Küstenwache ausgebaut und mit deutlich mehr Befugnissen ausgestattet worden. So soll sie die EU-Mitgliedstaaten beispielsweise auch bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber in ihre Herkunftsländer unterstützen. Die Maßnahmen zeigen Wirkung: Die Zahl neu in der EU und damit auch in Deutschland ankommender Geflüchteter ist seit 2015 deutlich zurückgegangen. In den ersten sieben Monaten des Jahres 2017 kamen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) rund Externer Link: 117.000 (Flucht-)Migranten über das Mittelmeer nach Europa. Im gleichen Zeitraum wurden in Deutschland rund Externer Link: 106.604 Asylsuchende registriert.
Die rückläufigen Asylsuchendenzahlen werden von der Politik als Erfolg deklariert, von Menschenrechtsorganisationen werden die Entwicklungen allerdings mit Sorge betrachtet. Sie weisen daraufhin, dass die Abschottungsmaßnahmen dazu führen, dass zahlreiche Schutzsuchende erst gar nicht mehr die Möglichkeit erhalten, Asyl zu beantragen, ein Recht, dass ihnen gemäß UN-Menschenrechtskonvention zusteht.
Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft
Das aktuell debattenbestimmende Thema Asyl und der Ruf nach einer Begrenzung der Fluchtzuwanderung verstellt den Blick darauf, dass Deutschland angesichts seiner demografischen Entwicklung auch in Zukunft auf Zuwanderung aus dem Ausland angewiesen sein wird. Bereits seit den 1970er Jahren liegt die Zahl der Sterbefälle in Deutschland höher als die Geburtenzahl. Ohne Zuwanderung aus dem Ausland würde die Bevölkerung schrumpfen. Die hohe Zuwanderung in den vergangenen Jahren hat zwar zu einem Wachstum der Bevölkerung beigetragen. Das Statistische Bundesamt geht aber dennoch davon aus, dass es sich dabei nur um einen Externer Link: vorübergehenden Trend handelt. Zudem kann eine hohe Zuwanderung überwiegend junger Menschen aus dem Ausland die Interner Link: Alterung der Bevölkerung Deutschlands zwar verlangsamen, aufhalten kann sie sie jedoch nicht. Immer mehr ältere Menschen werden immer weniger jüngeren Menschen gegenüberstehen. Dadurch wird es zukünftig auch einen Mangel an Arbeitskräften geben. In einigen Branchen und Regionen Deutschlands klagen heute schon viele Unternehmen über Probleme, geeignetes Personal zu finden. Fachkräfteengpässe gibt es vor allem in den Ingenieursberufen, im medizinischen und Pflegebereich. Die schrittweise Öffnung Deutschlands für (qualifizierte) Arbeitsmigration
Um demografischem Wandel und Fachkräfteengpässen entgegenzuwirken, reicht eine hohe Zuwanderung allein nicht aus; die Zuwanderer müssen sich auch für einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland entscheiden. Um diese Entscheidung positiv zu beeinflussen, wird seit einigen Jahren von Vertretern aus Politik und Wirtschaft über die Etablierung einer "Willkommens- und Anerkennungskultur" Interner Link: diskutiert. Dadurch soll Deutschland für potenzielle (qualifizierte) Zuwanderer attraktiver und für langfristig hier lebende Migranten und ihre Nachkommen zu einem echten "Zuhause" werden. Bezog sich der Begriff zunächst vor allem auf den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland, so wurde er ab 2015 zunehmend mit der Flüchtlingsfrage verknüpft. Die Bilder von Deutschen, die Geflüchtete an Bahnhöfen willkommen hießen mit Applaus und Plakaten, auf denen der Slogan "Refugees welcome" zu lesen war, gingen um die Welt. Die anfängliche Willkommenseuphorie im "langen Sommer der Migration"
Die zukünftige Bewertung von Zuwanderung wird auch davon abhängen, wie gut es gelingt, die zugewanderten Interner Link: Geflüchteten in die Gesellschaft zu integrieren. Dass dies nicht von heute auf morgen gelingt und es stattdessen eher einen langen Atem braucht, zeigt ein Externer Link: Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung am Beispiel der Arbeitsmarktintegration. Demnach zeigen Erfahrungen mit Fluchtzuwanderung in der Vergangenheit, dass fünf Jahre nach dem Zuzug nach Deutschland 50 Prozent der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter einer Beschäftigung nachgingen. Nach 15 Jahren belief sich die Beschäftigungsquote auf 70 Prozent und entsprach damit derjenigen anderer Einwanderergruppen.
Dabei hängen Integrationsverläufe nicht nur von den Integrationsbemühungen der Zugewanderten ab, sondern auch von den Teilhabechancen, die ihnen die aufnehmende Gesellschaft bietet. Was für eine Gesellschaft wollen wir, was für ein (Einwanderungs-)Land soll Deutschland sein? Auch das wird zukünftig weiter ausgehandelt werden. Das Ergebnis der Externer Link: Bundestagswahl 2017 wird andeuten, in welche Richtung es (Externer Link: migrationspolitisch) geht.
Fazit
Tendenzen der Öffnung und der Schließung zugleich beherrschen die deutsche Migrationspolitik sowie die medialen und öffentlichen Debatten. Weder auf bundesdeutscher noch auf europäischer Ebene lässt sich der Wille ausmachen, ein migrationspolitisches Gesamtkonzept zu entwickeln, das mittel- und langfristige Ziele für die verschiedensten Formen von Migration (EU-Freizügigkeit, Anwerbung von Hochqualifizierten und Arbeitskräften in Mangelbereichen, Bildungs- und Ausbildungsmigration, Umgang mit temporärer Zuwanderung, Asyl) formuliert und Instrumente entwickelt, die eine ganzheitliche Migrationspolitik ermöglichen. Erst wenn ein solches Gesamtkonzept vorläge, ließe sich deutlich machen, aus welchem Antrieb mit welcher Perspektive Migrationspolitik in Deutschland und Europa betrieben wird.
Dieser Text ist Teil des Interner Link: Migrationsprofils Deutschland.