Selbstfindung in unzeitgemäßen Bildwelten: Neo Rauch
Unter den Vorzeichen des deutsch-deutschen Bilderstreites hätte in den ersten Nachwendejahren wohl niemand die Vorhersage gewagt, dass ein in Leipzig noch zu DDR-Zeiten ausgebildeter Maler zu den international bekanntesten und gefragtesten Künstlern avancieren könnte. Neo Rauch, der von 1981 bis 1986 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig studierte und anschließend bis 1990 Meisterschüler von Arno Rink war, hat diesen beispiellosen Siegeszug durchlaufen. Ihm gelang dies erstaunlicherweise mit der Wiederbelebung einer figurativen Malerei, die "so vieles außer Kraft setzt, was die Tradition der Moderne verordnet hat".
Sein Ausstellungskonzept vollzieht eine Werksondierung, die bei den ersten von Neo Rauch als "gültig" bezeichneten Bildern der Jahre 1992/93 einsetzt, um dann innerhalb des weiteren Entwicklungsverlaufs bis 2010 mehrere Umbrüche herauszufiltern. Mit Blick auf Struktur, Kolorit, Bildinventar und Figurenkonstellationen durchwandern die Katalogkommentare von Werner Spies und seinen Mitautoren die Atmosphäre der Bilder, diagnostizieren ihre Wurzeln in der realistischen Leipziger Bildsprache und folgen der collagehaften Kombinatorik, in der sich die Resonanzen des Künstlers auf die im Unterbewusstsein sedimentierten Traditionen ebenso wie die jeweiligen individuellen Zeiterfahrungen verschlüsseln.
Mit Burdas Neuerwerbungen "Flut I" und "Flut II", beide 1992/93 entstanden, bietet die Baden-Badener Ausstellung Einsicht in die Übergangsphase, in der sich Neo Rauch von der an Bernhard Heisig orientierten, spätinformellen Malweise seiner Studienjahre löste. Amöbenhaft schälen sich aus dunklen Farbschlieren figurative Schemen heraus, die sich zu Realitätspartikeln verdichten und eine eigene imaginative Bildrealität inszenieren. Eduard Beaucamp rekapituliert in seinem Kalalogessay diese frühe Selbstfindungsperiode, in der sich Neo Rauch sowohl von seinen Leipziger Lehrern wie auch von der Versuchung emanzipiert, sich westlichen Vorbildern anzuverwandeln. In einem 1995 mit Roswitha Siewert geführten Interview, aus dem auch Beaucamp zitiert, hat der Künstler die Intention seiner malerischen Metamorphose folgendermaßen erläutert: "ich bin offenbar ein Erzähler, ich benötige Gegenständliches, um der Poesie meiner Träume näher zu kommen. (...) Ich kann jetzt endlich mit diesen Dingen buchstabieren. (...) Ich versuche, Regie zu führen. Ich versuche, die Dinge im Zaum zu halten und die Aspekte des Unterbewußten bewußt zu inszenieren. (...) Das ist das Schöne am Prinzip Malerei, daß sich die Verwerfungen im Seelischen, die unterseeischen Strömungen sehr direkt manifestieren, ob ich es will oder nicht."
Mit der Rundform des Tondo, die Neo Rauch den 1993 entstandenen Bildern "Lot", "Saum" und "Plazenta" gibt, wird eine imaginäre Bildsinngebung eingekreist, während die eingeschriebenen Worte das prozessuale Suchen in Tiefenschichten pointieren, ohne dass sich dabei eine eindeutige Bilderzählung konkretisiert. Gesichtslose Figuren agieren schemenhaft in einem konstruierten Raum, der den Betrachter in die Gefilde des Unwirklichen, Surrealen hineinzieht. Angesichts solcher Motivsyntax, in der sich die Flucht aus der Realität spiegelt, findet der Surrealismus-Kenner Werner Spies Parallelen zu dem Collageroman von Max Ernst "La Femme 100 têtes", in dem Materialien aus disparaten Quellen mit Hilfe einer "labyrinthischen Logik" ein unverwechselbares Gesamtbild zustande bringen. Seine Details liefern ein absurdes Sinngefüge und entziehen sich der Interpretation. Stattdessen entsteht ein desaströses Klima, in dem sich die sozialen Verunsicherungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg allegorisieren. Wie in dem Collageroman von Max Ernst fällt auch in den Bildern von Neo Rauch auf, dass die inhaltlichen Spannungen keineswegs von stilistischen Brüchen begleitet werden. Mit gemalten Collagen wie "Ebenen" (1995) zieht Rauch den Betrachter seinerseits in eine paradoxe Welt. Deren Fragmente sind um die Mitte der 1990er-Jahre der postkommunistischen Leipziger Umbruchlandschaft entnommen und mit Architekturrelikten aus den 1930er-Jahren verschweißt. Solche Zeitbrücken werden sich nach 2000 verstärken und sich zunehmend so camouflieren, dass es keine Schnittstellen mehr gibt. Sie entstehen aus der "alogischen Kombinatorik", die den Bildkörper aus bühnenhaft gestaffelten Ebenen konstruiert und auf ihnen wie in einem Baukastensystem abgetakelte Werkhallen, Baracken und Silos, brachliegende Baustellen oder halbfertige Gebäudeskelette ansiedelt.
Durs Grünbein entwirft ein poetisch-beklemmendes Wortszenarium für den "Zonenrandbruch", den Neo Rauch bruchstückhaft in seinen Gemälden registriert und aus dem sich Alpträume verselbständigen: "Baracken trotzen dem Wind vor plakatfarbenen Himmeln, / Im Hintergrund Abraumhalden, manchmal ein Bergmassiv, / Vorn ist die Erde aufgerissen, zeigt ihre bitteren Innereien. (...) Jemand war dort zwischen den Jahreszeiten. Er sah sie, / Die schlimmen Hütten, abrissreif, die Geheimanlagen, / Von denen jeder gewusst hat, kenntlich am Trafohaus, / (...) Und was für Räume das waren! Gespensterzimmer, / Mit zerbrochenen Fensterscheiben, die Vorhänge morsch, / An den Wänden hingen Plakate mit abstrakter Malerei, / (...) Einer steht da, der Bildermacher, / Einer, der aus dem Alltag ausschert, sich zurückzieht / Und nurmehr dem Traum vertraut."
Wie diese Schwingungen der nationalsozialistischen und der DDR-Vergangenheit in Rauchs Bildräumen nachbeben, so verklammern die poetischen Montagen auch Versatzstücke aus der Kunstgeschichte und den Bildwelten des Comics mit aus dem Unbewussten aufsteigenden Traummotiven, in die sich die Agonie der verdämmernden DDR-Spätzeit eingenistet hat.
Immer wieder webt Rauch konstruktivistische Emblematik und Anklänge an den historischen Surrealismus in seine Bildgeschichten hinein und lässt sie assoziativ, nicht erzählend ihre Aura entfalten. Als Faszinosum konnte sich der Surrealismus schon in die Fantasie des Heranwachsenden "hineinschmeicheln", wie Rauch selbst berichtet.
Mit den Bilderserien der "MOSAIK"-Comics hat sich schon früh eine weitere, der Fantasie entsprungene Lebenswelt in das Gedächtnis des Malers einlagern können. Neo Rauch selbst spricht dem Einfluss von Comics und insbesondere der Lektüre der "MOSAIK"-Heftreihe von Hannes Hegen eine nachhaltige Rolle als Inspirationsquelle für das Kolorit und das bauliche Inventar seiner Bilder zu. So lassen sich konstruktionstechnische Kompartimente und ineinander geschachtelte Perspektivsichten ebenso wie das Bild-im-Bild-Prinzip auf Rauchs Vorliebe für die Comics zurückführen. Die Comic-Sprechblase mutiert bei ihm zu einer blasenartigen Binnenform im Bildkörper, mit der fremdartige Parallelwelten in das szenische Ambiente implantiert werden. Das Gemälde wird zur Bühne, auf der Neo Rauch seine Konstruktionsteile – die realen und die erträumten – wie Kulissen arrangiert. Doch nicht nur im strukturellen Bildaufbau, auch im motivischen Entwurf von fantastischen Parallelwelten besitzen die in der DDR zum Mythos avancierten Protagonisten der "MOSAIK"-Bildergeschichten, die in außerirdische Gefilde vorstoßenden Digedags, ihren Nachhall in Neo Rauchs Malerei.
Erfunden wurden die inzwischen legendär gewordenen liebenswerten Kobolde in den 1950er-Jahren von dem Pressezeichner Johannes Hegenbarth, der seine Comic-Serien unter dem Pseudonym Hannes Hegen seit Dezember 1955 als kreativer Privatunternehmer veröffentlichte und sich auch gegen politischen Argwohn zu behaupten wusste: "Die Karriere der Digedags beginnt in der Südsee, ehe sie das alte Rom – noch drei Jahre vor Asterix – entdecken. Von dort begeben sie sich nach einer spektakulären Entführung auf eine Reise in den Weltraum, wo sie auf dem NEOS-Planeten landen."
In den hellen Räumen des Museums Frieder Burda haben die meist großformatigen Gemälde von Neo Rauch ideale Wirkungsmöglichkeiten gefunden. So nimmt der Ausstellungsbesucher nicht nur den magischen Sog der Exponate wahr, er registriert auch die Umbrüche, die der Werkprozess nach 2000 durchschreitet. Dieser Wandel konkretisiert sich nicht nur in der Monumentalisierung der Bilder zum Panoramaformat sowie in der Verdunklung und Durchmischung der zuvor eher transparent eingesetzten Primärfarben, er äußert sich vor allem auch in einer Harmonisierung der Malfläche. Die zuvor sichtbaren Trennflächen zwischen den Bildkompartimenten verschwinden zunehmend, wodurch sich die Suggestionskraft der Bildatmosphäre steigert. Die Einbettung in historische Räume wird höchst komplex und durchsetzt zunehmend Alltägliches und Traumhaftes mit Kunstzitaten. Erinnerungen aus Literatur, Kunstgeschichte, Comic, Film, Reklame liefern die Bausteine eines unverwechselbaren Kosmos, der sich im Unzeitgemäßen, ja Biedermeierlichen einnistet, aber Vertrautheit verweigert. Denn in die scheinbar bodenständige Idylle mit Landschaften aus dem Leipziger Umland hat sich die historische Ausbeutung als nicht mehr zu tilgende Beschädigung eingeschrieben, Kommunismus und Kapitalismus haben sich hier gleichermaßen in verfehlten Hoffnungen paralysiert.
Wie sich die surrealistische Kunst nach den Utopieverlusten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges aus der Zukunftseuphorie der frühen Moderne herauskatapultiert sah und in den Sedimenten des Unbewussten die metaphysischen Abgründe des Normalen aufspürte, so sind Neo Rauchs unzeitgemäße Bildwelten mit Barrieren durchsetzt, die mit ihrer paradoxen Grammatik ein gewöhnliches Nachdenken über den Bildsinn versperren. Fenster bieten keine Ausblicke, Kräne, Schlauch- und Kabelsysteme verweigern gewöhnliche Funktionen, Feuerwehrleute richten ihre Löschinstrumente in die falsche Richtung.
Liest man jedoch solche Bilder als hintergründige Einblicke in Rauchs Auseinandersetzung mit dem Handwerk des Malens, dann öffnen sich hinter den Paradoxien erstaunliche Metaebenen. Programmatische Sonden in diese allegorische Doppelbödigkeit legen ab 1997 Gemälde wie "Start", "Vorführer" und "Sucher", in denen Neo Rauch nicht nur die Problematik des Bildermachens verschlüsselt, sondern auch die Malprozesse als "unheimliche Begegnungen mit dem eigenen Selbst"
Auswahl und Hängung der Baden-Badener Exponate führen den Betrachter gezielt an jene Bilder heran, in denen Neo Rauch moderne und postmoderne Malattitüden zitiert und dabei nicht an Ironie und satirischer Banalisierung spart. Groteske Pop-Gebilde bevölkern ohne Kontext die Raumbühne, auf der vier Gestalten in versteinerter Pose eben das nicht tun, was der Bildtitel "Interview" (2006) als ihr Begehren suggeriert. In "Unter Feuer" (2010) versperren gestische Farbschlieren den Fensterausblick, während ein konstruktivistisches Robotergebilde tölpelhaft in den Raum stolpert, ohne dass die Figuren davon Notiz nehmen. Stattdessen schaut das biedermeierlich kostümierte Alter Ego des Malers gebannt auf sein Spiegelbild. In derart historisierenden Verkleidungen und Posen treffen wir immer wieder auf Selbstporträts von Neo Rauch, und in jedem Bild sind wir aufs Neue aufgefordert, sein Tun als Wanderer zwischen den Parallelwelten Realität und Traum während der Genese der Bilder zu hinterfragen.
Peter-Klaus Schuster exemplifiziert dies überzeugend an dem Gemälde "Ausschüttung" (2009), das inzwischen zur Sammlung des Hausherrn Frieder Burda gehört. Er entschlüsselt das Bildrätsel als Hommage an Philipp Otto Runges Gemälde von 1805 "Wir Drei", das als "Ikone der Künstlereinsamkeit wie des Freundschaftskultes in einer Zeit des radikalen Umbruchs" steht.
Ein anderes, bereits fünf Jahre früher entstandenes Schlüsselbild "Aufstand" rekapituliert die unterschiedlichen Exerzitien der Bildgenese, die Neo Rauch in seinem Werkprozess erprobt hat. Im rechten Bildteil reiht er sich in die Gruppe der Wilden ein, die mit heftigen Pinselhieben die Farben auf die Leinwand schleudern, in der Bildmitte harrt er schlafend der Imagination, die ihm der Traum bringt. Die Malerei, die aus solcher Quelle hervorgeht, setzt die Traditionen der Moderne außer Kraft.
Entdeckt!
Rebellische Künslerinnen in der DDR
Das von dem berühmten New Yorker Architekten Richard Meier im Stil des Bauhaus-Purismus errichtete Museum Frieder Burda trennt die fundamentale Distanz eines epochalen Paradigmenwechsels von dem 1907 in Mannheim erbauten Jugendstil-Museum, in dem sich bis heute – erweitert allerdings um einen tristen Anbau der 1980er-Jahre – die Städtische Kunsthalle befindet. In der besucherfreundlichen Zweckmäßigkeit des von natürlichem Licht erhellten Baden-Badener Stiftermuseums vermag sich der barock verkleidete Widerstand, mit dem sich die Gemälde Neo Rauchs der Moderne entgegenstellen, erstaunlich freizügig zu artikulieren. Dagegen erwartet in Mannheim den Besucher, der die diesjährige Sommerausstellung "Entdeckt! Rebellische Künstlerinnen in der DDR" besichtigen will, eine umgekehrte Situation. Da sich der Museumskomplex im unwirtlichen Zustand von Umbau, Teilabriss und geplantem Neubau befindet, sind lange Wege zurückzulegen, bis man in einem abgelegenen Gebäudetrakt zu den Exponaten der ostdeutschen Frauenkunst gelangt. Doch mit der Radikalität dieser Nonkonformistinnen aus der späten DDR-Zeit schließt das Haus wieder an seine besondere Tradition aus den 1920er-Jahren an, als Kunstkritik und Kunstgeschichte von hier aus wichtige Impulse bezogen haben. Deutschlandweit diskutiert, zeigte der damalige Direktor der Mannheimer Kunsthalle, Gustav Friedrich Hartlaub, 1925 die legendäre Ausstellung "Deutsche Malerei seit dem Expressionismus" und subsummierte die rebellischen Richtungen der figurativen Kunst nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrer scharfen Kritik an den sozialen Zuständen unter die Bezeichnung "Neue Sachlichkeit".
Avantgardistisch in ihrer Bildsprache und kritisch im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Situation sind auch die Künstlerinnen der Ausstellung "Entdeckt!". Trotz ihrer Nähe zu den internationalen Entwicklungen feministischer Kunst blieb ihr subversives Wirken wenig erforscht und in Westdeutschland vor der Mannheimer Ausstellung noch nie in einer Ausstellung zur Diskussion gestellt. Als die Arbeiten der elf Künstlerinnen in den 1980er-Jahren entstanden, blieben sie im Hintergrund oder wurden in der abgeschotteten DDR verschwiegen. Nach der "Wende" änderte sich wenig an dem Nischendasein dieser Frauenkunst. Denn auch die subkulturelle Szene in der DDR war – wie das offizielle Künstlermilieu – von patriarchalischen Strukturen geprägt, die sich unter den Bedingungen des freien Kunstmarkts weiterhin behaupteten. So wundert es nicht, dass sich die Auflehnung der Rebellinnen nicht nur gegen den langen Arm des realsozialistischen Staates richtete, der ihre Selbstentfaltung im Alltagsleben mit Restriktionen behinderte, ihre kritische Sicht auf die politisch-gesellschaftlichen Zustände attackierte auch die maskulinen Machtmuster, die das Kunstgeschehen – sowohl offiziell wie auch im Untergrund – regulierten. Umso radikaler durchbrachen sie das tradierte Rollenbild des Weiblichen und bedienten sich dabei viel intensiver als ihre männliche Konkurrenz avantgardistischer Methoden wie Film, Fotografie und Performance. Die Performancekünstlerin Else Gabriel sammelte als einziges weibliches Mitglied der Dresdner Künstlergruppe "Autoperforationsartisten" ausgiebige Erfahrungen mit den zwischen Ironie und Katharsis angesiedelten, affektiven Potenzialen, die man in eine theatralische Aufführung hineinlegen kann. In ihrer Performance "Alias oder Die Kunst der Fuge" (1989) tauchte sie ihr offenes Haar in einen Eimer, der mit einer Mischung aus Fruchtgummimasse und Rinderblut gefüllt war. Ihren Körper setzte sie so unmittelbar einer existenziellen Grenzerfahrung aus, indem sie eine Gratwanderung zwischen Lust und Ekel vollzog.
Am Beginn des Mannheimer Ausstellungsrundgangs steht mit dem Gemälde "Porträt nach Dienstschluss" von Horst Sakulowski aus der Mitte der 1970er-Jahre ein in seiner Machart traditionsverhaftetes Bild, das jedoch mit seinem Inhalt einen seinerzeit Aufsehen erregenden Umbruch vollzog. Von einem Mann gemalt, zeigt das Bild eine von Isolation und Erschöpfung gezeichnete Ärztin, in ihrer Körpersprache weit entfernt von den Vorbildfrauen des sozialistischen Realismus im Duktus verdienter Arbeiter- und Familienheldinnen. Doch von solchen Bildern, zu denen auch Wolfgang Mattheuers "Ausgezeichnete" gehörte, sollte der Weg noch weit sein bis zur Zurückeroberung des weiblichen Körpers aus den Fesseln von Hierarchien und Reglementierungen, die nonkonformistische Künstlerinnen vor dem Ende der DDR in experimentellen Ausdrucksformen und unverbrauchten Medien erproben.
Als wichtige Wegbereiter erscheinen dabei mythologische Frauengestalten, die ein sinnliches Profil emazipatorischen weiblichen Handelns entwerfen. Die Einbettung von Auflehnung und Scheitern in antike Symbolbildlichkeit ist im Umfeld der so genannten Problembilder eine in der DDR-Kunst der 1980er-Jahre allgemein verbreitete Praxis. Doch eine auf unangepasste weibliche Figuren fokussierte Antikenrezeption ist ausschließlich bei Künstlerinnen und Schriftstellerinnen zu finden.
Am Beginn der 1980er-Jahre treten bei Christine Schlegel, Karla Woisnitza und Angela Hampel Gestalten wie Kassandra, Medea und Penthesilea als Modelle kämpferischer Frauen auf, die an ihrem Willen zur Selbstbestimmung in einer von männlichen Machtspielen dominierten Gesellschaft und dann an ihrem Außenseitertum scheitern. So zeigt die Ausstellung einige Blätter aus der lithografischen Serie
"Kassadra/Penthesilea" (1984/85), in der Angela Hampel die Darstellung der antiken Frauen mit Punk-Attributen ausstattet. Punk war seinerzeit in der DDR subversiv und ebenso ausgegrenzt wie die unangepasste Sondierung weiblicher Identität. 1983 erschien Christa Wolfs Erzählung "Kassandra", begleitet von vier Frankfurter Vorlesungen, in denen sich die Schriftstellerin mit aktuellen feministischen Theorien und matriarchalen Gesellschaftsformen auseinandersetzte. Der literarische Text und die auf ihn bezogenen Reflexionen waren für Angela Hampel eine inspirierende "Initialzündung", denn mit Christa Wolfs "Kassandra" wurde das Thema der Ausgrenzung einer Frau aus der Antike in die aktuelle Selbsterfahrung unter den Repressionsbedingungen des DDR-Alltags übertragen. Sich selbst in der Kassandra-Erzählung wiederzufinden war eine Erfahrung, die Künstlerinnen wie Angela Hampel, Karla Woisnitza, Christine Schlegel und Gabriele Stötzer in Freundschaft mit der Autorin Christa Wolf, aber auch untereinander in Solidarität verband.
Während feministische Theorien und Diskurse für die meisten in der Ausstellung versammelten Künstlerinnen kaum eine Rolle spielten, da sie eher intuitiv den Ausbruch aus sie beherrschenden Unterdrückungsmechanismen suchten, verstand Gabriele Stötzer sich schon früh als dezidierte Feministin. Ihr kritisches Bewusstsein für Restriktionen innerhalb gesellschaftlicher und geschlechtlicher Konventionen hatte sich durch eigene Erfahrungen erheblich geschärft, als sie 1977 eine einjährige Haft als politische Gefangene im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck verbüßen musste. Die unter den inhaftierten Frauen erlebte "Tiefe, Leidenschaft und Unverwüstlichkeit"
Fotocollagen einer "Gesichtsmalaktion in Dresden" von Karla Woisnitza dokumentieren weibliche Kooperationsaktivitäten, die schon in den ausgehenden 1970er-Jahren stattfanden und in ritualhaften Maskenspielen normierte Rollenmodelle durchbrachen. Dass "Frauen zusammenarbeiten und sich gegenseitig anerkennen und akzeptieren können"
Erstaunlicherweise können die performativen Inszenierungen von Christine Schlegel und Cornelia Schleime den Ausstellungsbesucher trotz der technischen Mängel des damals in der DDR verfügbaren Filmmaterials noch immer mit ihrer kreativen Spontaneität und originellen Gebärdensprache in Bann ziehen.
Christine Schlegel, Still aus dem 8 mm-Film "Strukturen" (Tanzperformance mit Fine Kwiatkowski), 1989. (© Christine Schlegel, Foto: Angelika Richter)
Christine Schlegel, Still aus dem 8 mm-Film "Strukturen" (Tanzperformance mit Fine Kwiatkowski), 1989. (© Christine Schlegel, Foto: Angelika Richter)
Bemerkenswert ist die Symbiose von Tanztheater und Malprozessen in dem Film "Strukturen", den Christine Schlegel 1989 gemeinsam mit der in subkulturellen Kreisen bekannten Performancetänzerin Fine Kwiatkowski realisiert hat. Marionettenhafte Bewegungen, die der nackte Körper der Tänzerin mit androgyner Anmutung vollzieht, werden von abstrakten Farbflüssen und strukturierten Farbprojektionen überlagert. Es entsteht ein splittriges Bildgeschehen, in dem sich die Geschlechtlichkeit des tanzenden Körpers ebenso auflöst wie sich der Raum, in dem die Performerin agiert, verfremdet. Im Fragmenthaften des Films scheint der Zersetzungsprozess auf, den die späte DDR durchschreitet, das androgyne Körperbild der Tänzerin wird zur Schutzhülle, hinter der sich eine ausgebeutete Weiblichkeit versteckt.
Im Unterschied zu der Arbeit von Christine Schlegel sind Cornelia Schleimes Filme ebenso wie ihre malerischen Kompositionen stets biografisch konnotiert. Wenn sie sich auf einer übermalten Fotografie (1982) mit bandagiertem Kopf inszeniert oder in dem Super-8-Film "Unter weißen Tüchern" von 1983 bis zur völligen Bewegungsunfähigkeit verschnürt, so scheint hinter der stummen Selbstaussage auch die beklemmende Endzeitstimmung im latenten Agonieprozess des Staates DDR auf. Ihre seit 1981 durch Malverbot behinderte künstlerische Existenz durchleuchtet sie in piktogrammhaften Bildern, auf denen sich weibliche Gestalten in Kokons einspinnen oder in ein schemenhaftes Nirgendwo zurückziehen. Und doch verbirgt sich hinter der Starre der sinnliche Zauber einer intimen Erotik.
In der Fotografie formieren Künstlerinnen wie Tina Bara und Gundula Schulze Eldowy ein dezidiertes Gegenbild zu einer auf den weiblichen Körperreiz fokussierten Aktfotografie von Männern. So wird für Tina Bara ihr abgelichteter Körper frei von tabuisierender Scham zum Austragungsort von Konflikten, Sehnsüchten, Verletzungen, die sich in fragmentierten Teilansichten emotional verdichten. Wie Tina Bara hat auch Gundula Schulze Eldowy in der Aktfotografie einen eigenen gestalterischen Freiraum für den Ausdruck von Empathie gefunden. Die Ausstellung zeigt einige Fotografien aus der
Gundula Schulze Eldowy, Tamerlan, Berlin 1985 (aus der Serie "Tamerlan", 1979–1987). Silbergelatineabzug. (© Kunsthalle Mannheim, Foto: Cem Yücetas)
Gundula Schulze Eldowy, Tamerlan, Berlin 1985 (aus der Serie "Tamerlan", 1979–1987). Silbergelatineabzug. (© Kunsthalle Mannheim, Foto: Cem Yücetas)
Langzeitserie "Tamerlan", in der die Künstlerin den von Armut und schwerer Krankheit überschatteten Überlebenskampf der Ost-Berliner Rentnerin Elsbeth Kördel mit dem Spitznamen Tamerlan über Jahre hinweg begleitet hat. Es war eine Zufallsbekanntschaft, die die beiden Frauen zusammenführte und aus der so viel Vertrauen erwuchs, dass sich Tamerlan auch noch nach einer zweifachen Beinamputation nackt porträtieren ließ. Für Gundula Schulze Eldowy können Fotografien ein Eigenleben entwickeln, indem sie sich im Vorgang des Betrachtens psychologisch aufladen. So ist das Aktporträt der von Alter und körperlichem Verfall gezeichneten Frau mehr als nur ein Dokument ihrer tristen Existenz, in seiner berührenden Aura bewahrt die Fotografie die beeindruckende Würde, mit der diese Frau ihr mühseliges Leben durchschritt. Zugleich liefert die "Tamerlan"-Serie eine beispielhafte Milieustudie von weiblicher Altersarmut an den Randlagen der sozialistischen Gesellschaft, die das optimistische Menschenbild der DDR-Propaganda geflissentlich auszublenden pflegte.
Weibliche Subversion in der nonkonformistischen Kunst der bis zuletzt abgeschotteten DDR war ein Sonderweg, wenn man sie zu feministischer Kunst aus dem Westen in Beziehung setzt. Susanne Altmann untersucht im Einführungsessay der Katalogbroschüre kenntnisreich Nähen und Divergenzen und kristallisiert die Eigenheiten und thematischen Schwerpunkte der ostdeutschen Frauenkunst heraus. Dabei kann die Ausstellungskuratorin die umfangreichen Recherchen auswerten, die sie bereits 2009 für die Dresdner Ausstellung "OHNE UNS" geleistet hat. Ihr dort gezeigter thematischer Ausstellungsexkurs "Hab ich Euch nicht blendend amüsiert?" beleuchtete die feministischen Tendenzen innerhalb der Dresdner Gegenkultur vor und nach 1989 mit einer Künstlerinnen-Auswahl, die derjenigen in der Kunsthalle Mannheim weitgehend entspricht.
Eine künftige Ausstellung könnte der Frage nachgehen, wie sich die Künstlerinnen, die in der DDR gelebt und gearbeitet haben, in den mittlerweile mehr als 20 Jahren seit der "Wende" entwickelt und so in dem anders gearteten Kunstbetrieb im Westen behauptet haben. Dann würde deutlich, dass vor allem Cornelia Schleime und Gundula Schulze Eldowy ihren gegen den Widerstand einer kunstfeindlichen Kulturpolitik erzeugten kreativen Energien in neuen Ausdrucksformen und Themen eindrucksvoll Gestalt gegeben haben. Dass manche andere Künstlerin ungerechterweise aus dem Blickfeld der gesamdeutschen Kunstöffentlichkeit geraten ist, macht die Mannheimer Ausstellung bewusst.