Gedenken und Erinnern
In der alten Bundesrepublik war der 17. Juni bekanntlich seit 1954 als "Tag der deutschen Einheit" zum prekären Nationalfeiertag avanciert. Prekär, weil er dort gefeiert wurde, wo er nicht stattgefunden hatte, und die Bevölkerung im Laufe der Jahre zunehmend ins Grüne fuhr, statt den Reden zu lauschen, die im Bundestag und auf anderen Veranstaltungen in Städten und Gemeinden gehalten wurden. Und heute?
Der ehemalige Streikleiter der Zeiss-Werke in Jena stellte Mitte der 60er Jahre auf einer Pressekonferenz in Westberlin als Repräsentant der in der Bundesrepublik lebenden Teilnehmer des Aufstandes voller Bitterkeit fest: "Bei der ersten Jahresfeier saßen wir noch in der ersten Reihe, ein Jahr später in der zwölften, und dann wollte man nichts mehr von uns wissen." Das traf, wenn auch überspitzt, die Situation und spiegelt zugleich eine Entwicklung, deren Darstellung und Analyse das Thema dieses Beitrages sein soll. Es geht also nicht um das Ereignis selbst, sondern um seinen Stellenwert im Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein, die wichtige Elemente in der politischen Kultur eines Landes sind. Dabei beschränke ich mich bis 1989 im wesentlichen auf Westdeutschland, weil nur hier die ganze Palette der Erinnerungskultur fassbar ist, während dieses Ereignis, das zu den Schlüsseldaten der DDR-Geschichte gehört, von der SED bekanntlich tabuisiert bzw. in grotesk verzerrter Form als vom Westen gesteuerter faschistischer oder konterrevolutionärer Putschversuch stigmatisiert wurde. Dass der 17. Juni gleichwohl ein traumatisch besetztes Datum war und blieb, und zwar für die Machtelite ebenso wie unter anderem Vorzeichen für die Aufständischen und die betroffene Bevölkerung, steht auf einem anderen Blatt. Persönliche Erfahrungen wurden gewissermaßen eingekapselt, erst 1989 konnte darüber offen gesprochen werden. Interne Quellen wie die Berichte des Ostbüros der SPD und mit anderem Vorzeichen der Stasi zeigen jedoch sehr deutlich, wie nachhaltig die Aufstandserfahrung zumindest in den 50er Jahren nachwirkte. Hingegen lohnt es nicht, das offiziöse, auf die genannten Formeln reduzierte Geschichtsbild der Staatspartei zu untersuchen. Es blieb auf frappierende Weise über die Jahrzehnte hinweg konstant (mit kleinen Varianten) und konnte auch in der publizierten Belletristik kaum andere Nuancen entfalten. Versuche, die Schablone zu durchbrechen, wie Stefan Heyms "Fünf Tage im Juni", fielen dem Zensor zum Opfer und konnten nur im Westen erscheinen. Zunächst ein paar Vorüberlegungen zur Themenformulierung. Was Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein bedeuten und wie man sie methodisch erfassen kann, ist nicht nur eine akademische Frage. Mit dem Begriff der kollektiven Identität sieht es ähnlich aus. Er wird häufig verwandt, ist aber bei näherem Hinsehen so kompliziert, dass Lutz Niethammer am Ende einer umfangreichen Spurensuche dafür plädiert hat, auf diese blaue Blume zu verzichten und sich mit einer konkreten Verständigung über Zugehörigkeiten und Affinitäten zu begnügen.[1] Eine wichtige Feststellung lässt sich vorweg treffen: es gibt Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein in einer pluralistischen Gesellschaft nur im Plural, als verschiedene, mehr oder minder feste oder vage Geschichtsbilder und als unterschiedliche Formen von Geschichtsbewusstsein, die jeweils bei unterschiedlichen sozialen Gruppen, Generationen und Individuen zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufzusuchen sind. Vier Möglichkeiten liegen nahe, um zu präziseren Aussagen über Geschichtsbilder zum Thema zu kommen:
- Die Analyse von Schulbüchern. Hier handelt es sich um Texte, die viele Diskussions- und Kontrollstufen durchlaufen haben, die zwar der Fachwissenschaft meist erheblich hinterherhinken, aber nicht ohne Bezug zu ihr sind, und die über weit verbreitete Bilder, aber auch über politisch und gesellschaftlich gewünschte Urteile viel aussagen;
- die Untersuchung von Reden, Feiern und Veranstaltungen der politischen Klasse, die einige Aufschlüsse über die politische Kultur, über Geschichtspolitik und Erinnerungskultur eines Staates geben. Auch hier stößt man naturgemäß schnell an die Grenzen der Untersuchungsmöglichkeit, weil das Feld prinzipiell uferlos ist;
- die Analyse der in den Massenmedien (Tagespresse, Illustrierte, Rundfunk, Wochenschauen) veröffentlichten Meinung, die sich nicht unbedingt mit der öffentlichen Meinung, die von den Demoskopen aufgespürt wird, deckt. Beides zu betrachten, ist wichtig, aber u.U. extrem aufwendig und nur selten genauer quantifizierbar;
- die Befragung der Historiographie. Das ist die relativ einfachste und zumindest insofern ergiebigste Methode, als sie - ohne ihren tatsächlichen Einfluss überschätzen zu wollen - eine wesentliche Grundlage auch der drei anderen genannten Quellenarten bildet. Als These lässt sich aus meiner Sicht formulieren:
