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Als die Willkür unerträglich wurde | bpb.de

Als die Willkür unerträglich wurde

Yasemin Ergin

/ 4 Minuten zu lesen

Mit seiner Selbstverbrennung gab der junge Obsthändler Mohamed Bouazizi den Anstoß für den Arabischen Frühling. Seine Verzweiflungstat machte ihn zur Symbolfigur der Proteste.

Tunesische Protestierende demonstrieren mit einem Märtyrerplakat. (© picture-alliance/AP)

Eigentlich ähnelte sein Leben dem Leben Hunderttausender anderer junger Tunesier: kein Geld, kein vernünftiger Job, keine Perspektive, unterdrückt von einem autoritären Regime, gegängelt und gedemütigt von korrupten Beamten, frustriert von einer Gesellschaft, die jungen Menschen kaum Chancen bot. Sein Tod aber machte ihn einzigartig und veränderte die gesamte arabische Welt: Mohamed Bouazizi, ein 26-jähriger Obstverkäufer aus Tunesien, von dem seine Angehörigen sagen, er sei völlig unpolitisch gewesen, wurde zum Auslöser und Symbol einer Revolution.

Der junge Tunesier lebte mit seiner Familie in Sidi Bouzid, einer trostlosen Kleinstadt im Zentrum des Landes. Freunde und Angehörige beschreiben ihn als einen intelligenten und aufgeweckten jungen Mann, der nichts weiter wollte, als "ein anständiges Leben" zu führen, und Tag für Tag gegen die Armut ankämpfte. Da der Vater früh gestorben war, musste Mohamed seine Mutter und fünf Geschwister versorgen. An ein Studium oder gar Heirat war unter diesen Umständen nicht zu denken. Stattdessen zog der junge Mann mit der alten Obstkarre seines Vaters durch die Straßen seiner Stadt und verkaufte Früchte. Umgerechnet drei bis fünf Euro verdiente er so pro Tag.

Die von den Behörden vorgeschriebene Lizenz für Obstverkäufer aber konnte Mohamed sich nicht leisten, er arbeitete schwarz. Wenn ihn Polizisten bei der Arbeit erwischten, beschimpften sie ihn, beschlagnahmten sein Obst oder gleich seinen kostbarsten Besitz, die elektronische Waage. Gegen die Schikanen der Beamten konnten sich einfache Leute wie Mohamed im korrupten Polizeistaat Tunesien kaum wehren. Das Fass zum Überlaufen aber brachte am 17. Dezember 2010 die Polizistin Feyda Hamdi. Sie wollte ihm verbieten, sein Obst zu verkaufen, nahm ihm seine Früchte weg, es kam zum Streit. Sie soll ihn öffentlich geohrfeigt haben. Zutiefst gedemütigt versuchte Mohamed es mit Beschwerden im Rathaus und bei der Regionalverwaltung, doch diese führten zu nichts. Irgendwann entschloss er sich, auf extreme Art ein Zeichen zu setzen: Mitten auf der Straße übergoss Mohamed sich mit Benzin und zündete sich an.

"Seine Tat war der Funke, der den Flächenbrand entzündet und letztlich die ganze arabische Welt verändert hat", sagte der libysche Schriftsteller Ibrahim al-Koni ein paar Wochen später. Treffender kann man es kaum ausdrücken: Sofort nach dem Bekanntwerden seiner Verzweiflungstat gab es erste Proteste in Bouazizis Heimatstadt. Videoaufnahmen des jungen Mannes, der nach seinen schweren Verbrennungen einen langsamen Tod starb, erschütterten das ganze Land und verbreiten sich in Windeseile über das Internet. Auch das Fernsehen, allen voran der Sender Al Jazeera, erkannte die Wucht der Geschichte und sendete sie in Dauerschleife. Schon bald sprach die ganze arabische Welt über den tunesischen Märtyrer. Tausende junge Menschen gingen in seinem Namen in Tunesien auf die Straße, protestierten gegen das Regime des Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali, gegen Arbeitslosigkeit, Polizeiwillkür und Korruption. Mohamed Bouazizi selbst bekam von den Folgen seiner Tat nichts mehr mit. Er lag im Koma und starb am 4. Januar an seinen Verletzungen. Kurz vorher war Präsident Ben Ali noch auf der Intensivstation vorbeigekommen, hatte der Familie sein Bedauern ausgesprochen, Versprechungen und Geldgeschenke gemacht. Doch da war es längst zu spät, der Aufstand war nicht mehr aufzuhalten. Am 14. Januar 2011 flohen der Präsident und seine mindestens ebenso verhasste Frau Leïla Trabelsi ins Ausland.

Reporter aus aller Welt belagerten das Haus von Mohamed Bouazizis Familie in Sidi Bouzid und versuchten, die Ereignisse zu rekonstruieren und alles über den jungen Mann zu erfahren, dessen Tod eine Legende entstehen ließ, die nicht immer ganz mit den Tatsachen übereinstimmte. Vieles, was über ihn bekannt geworden war, erwies sich bei genauerer Nachforschung als falsch. Als arbeitsloser Akademiker war er bezeichnet worden, dabei hatte er nie eine Universität besucht. Und die Polizistin, die ihn mit ihrer Ohrfeige gedemütigt haben soll, bestritt die Tat später vehement.

Jede Revolution, so scheint es, braucht ihre Symbolfigur. Die auf der Straße erschossene und vor laufender Handykamera verblutende Iranerin Neda wurde zur Ikone der Proteste gegen das iranische Regime im Jahr 2009. Der von ägyptischen Polizisten in Alexandria totgeprügelte Blogger Khaled Said wurde durch die Facebook-Seite in seinem Andenken weltweit bekannt und avancierte – mehrere Monate nach seinem Tod – zur Symbolfigur der Proteste in Ägypten.

Im Falle Bouazizis kommt hinzu, dass er nicht zufällig zum Märtyrer – freilich nicht im religiösen Sinne – wurde, sondern selbst handelte. Dass er die Folgen seiner Tat nicht geahnt haben kann und dass seine Selbstverbrennung möglicherweise eher eine Kurzschlussreaktion war als eine geplante Heldentat – wer fragt heute noch danach? Während der nur wenige Wochen dauernden Revolution in Tunesien sollen etwa 340 Menschen ihr Leben verloren haben. Kein anderer von ihnen erlangte außerhalb Tunesiens so große Bekanntheit wie Mohamed Bouazizi.

Dieser Artikel ist erschienen in: Gerlach, Daniel et al.: Atlas des Arabischen Frühlings. Eine Weltregion im Umbruch, Zeitbild, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, S. 153.

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