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"Meine Eltern hatten noch ihr ganzes Leben vor sich" | bpb.de

"Meine Eltern hatten noch ihr ganzes Leben vor sich" Porträt: Behzad Binaie

Sonja Ernst

/ 5 Minuten zu lesen

Vor zehn Jahren flüchtete Behzad Binaie aus Iran nach Deutschland. Er wollte dem Regime und der eigenen Ohnmacht entkommen. Sein Vater war einer von hunderten von politischen Gefangenen, die 1988 hingerichtet wurden.

"Wenn ich mich jetzt daran erinnere, dann waren wir eine Bilderbuchfamilie. Mein Vater Offizier, meine Mutter Lehrerin. Wir gehörten zur oberen Mittelschicht." Voll Wehmut blickt Behzad Binaie zurück. Die Bilderbuchfamilie des 32-Jährigen existiert nicht mehr – schon lange nicht.

1988 wurde Behzads Vater in einem Teheraner Gefängnis hingerichtet. Khalil Binaie war einer von vielen hundert politischen Häftlingen, die zwischen Juli 1988 und Januar 1989 unter strikter Geheimhaltung exekutiert wurden. Amnesty International dokumentierte 2.000 Namen getöteter Häftlinge, die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte höher sein.

"Mein Vater kam aus einer Arbeiterfamilie. Er war der erste, der studierte", erzählt Behzad. Khalil Binaie besuchte eine Militäruniversität, die sein Studium finanzierte. Nach seinem Abschluss blieb er bei der Armee. In den Revolutionsjahren 1978 und 1979 – Behzad war gerade ein, zwei Jahre alt – unterstützte sein Vater wie Millionen andere Iraner auch die Absetzung des Schahs, der mit autokratischer Strenge das Land regiert hatte. Die Massenrevolution war erfolgreich: Im Januar 1979 floh Mohammed Reza Schah ins Exil.

Khalil Binaie schloss sich der kommunistischen Tudeh-Partei an. Die Moskau-treue Partei war bereits in den 1940er Jahren gegründet und später verboten worden. Während der iranischen Revolution kämpfte sie gemeinsam mit liberalen und konservativen, säkularen und religiösen Kräften für das Ende der Schah-Zeit. Die Tudeh-Partei hatte diesen Kampf für ihre Vision einer sozialistischen, egalitären Gesellschaft geführt. Eine Vision, die Khalil Binaie teilte. Doch die Islamische Republik Iran duldete keine konkurrierenden politischen Ideen. Revolutionsführer Ajatollah Chomeini war zur Integrationsfigur der Massen aufgestiegen. Er und seine Anhänger begannen sehr bald nach der Revolution, ihre alleinige Macht auszubauen und die Opposition auszuschalten.

"Als ich fünf oder sechs Jahre alt war", sagt Behzad, "kam mein Vater nach Hause und wir gingen gemeinsam auf das Flachdach unseres Hauses. Diese Flachdächer sind typisch für Iran. Mein Vater nahm einige Bücher mit und auf dem Dach angekommen, haben wir die Bücher verbrannt. Ich fand das damals toll", erinnert sich Behzad. Darunter waren Bücher von Marx und Engels. Erst später begriff Behzad, dass es die Lieblingsbücher seines Vaters waren – und dass ihr Besitz eine große Gefahr bedeutete.

Sechs Jahre Gefängnis

Nicht nur für Behzads Vater wurde die Revolution zur Enttäuschung. Die liberalen und säkularen Kräfte in Iran begegneten der fortschreitenden Islamisierung des Justiz- und Bildungswesen, der Wirtschaft und der Medien mit Misstrauen bis Ablehnung. Dann kam der Krieg hinzu: Im September 1980 griffen irakische Truppen das Nachbarland Iran an. Im Juni 1982 gelang es der iranischen Armee, die irakischen Streitkräfte zurückzudrängen – eine Chance auf Frieden schien greifbar. Doch sie wurde nicht genutzt. Stattdessen trugen iranische Truppen den Krieg in den Irak hinein. Diese Fortsetzung des Krieges wurde von Teilen der Armee kritisiert, auch von Khalil Binaie.

Im Sommer 1982 war Behzads Vater zu Hause, auf einen Kurzurlaub vom Krieg. "Es war ein sonniger Tag, die Familie saß zusammen", sagt Behzad. "Es klingelte. Ein Mann im Anzug und zwei Soldaten standen vor der Tür. Sie sagten, mein Vater werde in der Kaserne gebraucht, er solle mitkommen." Doch Khalil Binaie schöpfte Verdacht. Die Situation eskalierte, die beiden Soldaten prügelten auf Behzads Vater ein, zerrten ihn in ein Auto und rasten davon. Erst nach Wochen der Ungewissheit erhielt die Familie die Nachricht, dass Khalil Binaie in einem Teheraner Gefängnis einsitze - 200 Kilometer von seinem Heimatort entfernt. Kurze Zeit später wurde er zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Der Vorwurf lautete auf Verrat und Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei. Im darauf folgenden Jahr wurde die Tudeh-Partei verboten und die Parteistrukturen zerschlagen.

Einmal im Monat fuhren Behzad, seine Mutter und seine vier Jahre jüngere Schwester von ihrem Heimatort Someh Sarah im Norden Irans zum Gefängnis nach Teheran. Einmal im Monat durften sie am Ende einer langen, anstrengenden Busfahrt den Vater und Ehemann für zehn Minuten besuchen. "Meine Eltern waren damals noch junge Leute", sagt Behzad. "Mein Vater Anfang 30, meine Mutter Mitte 20. Sie hatten ihr ganzes Leben noch vor sich."

Doch damals bestimmten andere ihre Lebensplanung, und auch Behzad musste sich anpassen. In der Schule bekam er zu hören, dass sein Vater ein Gegner der Revolution sei, ein Verräter. Behzad war in einem politischen Haushalt groß geworden, doch nun hieß es, im Unterricht nicht aufzufallen und die Durchhalteparolen während des Krieges nicht zu hinterfragen. "Im Sommer 1988 sollte mein Vater endlich wieder nach Hause kommen", erinnert sich Behzad. "Doch der Sommer ging vorbei, ohne dass mein Vater zurückkehrte." Er wusste, dass etwas geschehen war. In diesem Sommer weinte seine Mutter mehr als sonst - doch er traute sich nicht zu fragen.

"Am Ende hatten wir nichts"

Im August 1988 trat ein Waffenstillstand zwischen Iran und Irak in Kraft. Revolutionsführer Ajatollah Chomeini hatte eingelenkt – widerwillig, doch es war aussichtslos den Krieg zu gewinnen. Iran und Irak hatten Hunderttausende Tote zu beklagen. In Iran herrschte eine schwere Wirtschaftskrise, die Infrastruktur war zerstört, die Menschen waren kriegsmüde. Chomeini und seine Anhänger fürchteten um ihre Macht. Ab Juli 1988 wurden Hunderte politische Gefangene in den Gefängnissen getötet - geheim und ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Zu ihnen gehörte Khalil Binaie.

"Sechs Jahre hatten wir gehofft und alles ertragen. Und am Ende hatten wir nichts", sagt Behzad. "Und nicht nur meine Familie war betroffen. Es gab damals so viele Familien." Wenn Behzad an diese Zeit zurückdenkt, dann versinken die Jahre in Dunkelheit. Zurück blieb das Gefühl von der Willkür des Regimes, der eigenen Machtlosigkeit und viel Wut, die sich nicht besänftigen ließ.

1998 entschied sich Behzad, damals 21, seine Heimat zu verlassen. Im darauf folgenden Jahr gelang ihm die Flucht nach Deutschland. Drei Wochen war er unterwegs. Per Flugzeug, zu Fuß und ausgestattet mit gefälschten Papieren. In Deutschland wurde sein Asylantrag angenommen; Behzad kam über Mainz und einen kleinen Ort im Sauerland nach Köln. Er machte eine Ausbildung zum Mechatroniker und studiert heute Maschinenbau in Köln.

Er telefoniert regelmäßig mit seiner Familie, vor allem mit seiner Mutter und seiner Schwester. Vor zwei Jahren besuchte ihn seine Mutter - es war das erste Wiedersehen nach acht Jahren. Behzad sagt, Iran habe sich verändert. Heute gebe es eine junge Generation, die anders sei und mehr Freiheiten einfordere. Doch seine Heimat ist jetzt Deutschland. Von hier aus musste er wieder von der Machtlosigkeit der Menschen in Iran erfahren, als er die Fotos von den Demonstrationen gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom Juni 2009 sah und die Fotos von den Prozessen gegen Oppositionelle. Diese Machtlosigkeit will Behzad nicht noch einmal erleben.

Fussnoten