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Analyse: Die fragmentierte Gewerkschaftsbewegung in Polen - das schwierige Erbe von 1989 | bpb.de

Analyse: Die fragmentierte Gewerkschaftsbewegung in Polen - das schwierige Erbe von 1989

Bastian Sendhardt

/ 14 Minuten zu lesen

Die polnischen Gewerkschaften stehen vor großen Herausforderungen, die Gründe dafür sind vielfältig: der stetige Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades und die historisch bedingte Zersplitterung der Gewerkschaften schwächen ihre Schlagkraft.

Banner an einer Hauswand zur Erinnerung an die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc vor 40 Jahren (© picture-alliance, NurPhoto | Artur Widak)

Zusammenfassung

Die polnischen Gewerkschaften sehen sich zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Hierzu zählen die historisch bedingte Fragmentierung in mehrere konkurrierende Gewerkschaftsverbände, die Überalterung, der Mitgliederschwund und damit verbunden der geringe Organisationsgrad unter den Arbeitnehmern. Politisch markiert die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der aktuellen Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) einen Wendepunkt im Verhältnis der Gewerkschaften zur Regierung. Doch auch wenn Maßnahmen wie das neue Kindergeld "500 Plus", der frühere Renteneintritt und der erhöhte Mindestlohn auf große Zustimmung stoßen, bleiben zahlreiche Probleme bestehen. Hierzu zählen beispielsweise die notorisch niedrigen Gehälter gerade im öffentlichen Sektor, was sich etwa im Streik der Lehrer 2019 zeigte. Gleichzeitig gelang es der Regierung bislang stets, Arbeitskämpfe für sich zu entscheiden, indem Konflikte ausgesessen oder für die Regierung günstige Kompromisse geschlossen wurden. Anders als in Deutschland wird die Gewerkschaftslandschaft in Polen gleich von drei Gewerkschaftsverbänden dominiert, in denen insgesamt rund 1,7 Millionen Mitglieder organisiert sind. Dies sind die Unabhängige Selbstverwaltete Gewerkschaft " Solidarność " (Niezależny Samorządny Związek Zawodowy "Solidarność" – NSZZ Solidarność), der Gesamtpolnische Gewerkschaftsverband (Ogólnopolski Związek ZawodowyOPZZ) und das Gewerkschaftsforum (Forum Związków ZawodowychFZZ). Zum Verständnis dieses "kompetitiven Pluralismus" (Juliusz Gardawski) in der polnischen Gewerkschaftswelt ist es notwendig, einen Blick in die jüngere Vergangenheit zu werfen.

Die Wurzeln dieses Nebeneinanders mehrerer Gewerkschaftszentralen liegen im kommunistischen Polen vor 1989. Hier gründete sich 1980 die oppositionelle Gewerkschaft Solidarność , die bis heute als Ikone des Systemwandels in Polen und der gesamten Region Ostmitteleuropa im Jahr 1989 gilt. Freilich war die Solidarność um ihren Anführer Lech Wałęsa vor 1989 mehr als eine Gewerkschaft zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen. Sie war von Beginn an auch eine soziale Bewegung, die den kommunistischen Staat politisch herausforderte. Gleichzeitig steht die Solidarność sinnbildlich für den Bedeutungsverlust, den die polnischen Gewerkschaften seit der Transformationszeit bis heute erlitten haben. Dies macht ein Blick auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen deutlich: Hatte die Solidarność in ihrer Hochphase in den frühen 1980er Jahren fast zehn Millionen Mitglieder, so schrumpfte diese Zahl auf nur mehr eine Million zu Beginn der 1990er Jahre und hat heute mit etwa 600.000 bis 800.000 Mitgliedern einen vorläufigen Tiefstand erreicht.

Auch die Wurzeln der zweiten großen Gewerkschaftszentrale, des OPZZ , reichen in die Zeit der Volksrepublik zurück. Die 1984 gegründete Gewerkschaft war nach der Einführung des Kriegsrechts 1981 und dem endgültigen Verbot der Solidarność im Folgejahr die staatliche Antwort auf den offensichtlich gewordenen Bedarf nach gewerkschaftlicher Organisation. Der staatlich gelenkte OPZZ stand somit von Beginn an im Gegensatz zu der oppositionellen, von zivilgesellschaftlichem Engagement getragenen Solidarność . Diese Konfliktlinie zwischen regierungstreuer und oppositioneller Gewerkschaftsorganisation prägte auch die Transformationszeit der 1990er Jahre: Solidarność -Aktivisten, die zu Zeiten der Volksrepublik oftmals interniert wurden und sich vielfach staatlichen Repressionen ausgesetzt sahen, pflegten verständlicherweise eine große Distanz bzw. offene Abneigung zum, nun postkommunistisch gewendeten, OPZZ . Dabei ging es nicht nur um die Frage, wer bei der Auseinandersetzung zwischen kommunistischer Regierung und demokratischer Opposition in den 1980er Jahren auf welcher Seite gestanden hatte, sondern auch um materielle Fragen. Schließlich hatte der OPZZ nach dem Verbot der Solidarność deren Vermögen übernommen, was ihm 1989 eine institutionell und finanziell günstige Ausgangslage verschaffte. Auch aus diesem Grund war die Solidarność lange nicht bereit, ihren Alleinvertretungsanspruch für die polnischen Arbeitnehmer im internationalen Gewerkschaftskontext aufzugeben. Es dauerte letztlich bis zum Jahr 2006, als die Solidarność ihren Widerstand gegenüber einer Mitgliedschaft des OPZZ im Europäischen Gewerkschaftsbund schlussendlich aufgab.

Auch politisch wirkt die frühe Konfliktlinie bis heute nach. Während sich die Solidarność noch immer als "Erbin der oppositionellen Reformbewegung" (Vera Trappmann) sieht, steht der OPZZ in der Tradition der linken, ehemals kommunistischen Arbeiterbewegung. Die Solidarność besitzt auch nach 1989 enge Verbindungen zur katholischen Kirche und ist politisch rechtskonservativ. Sie hatte in den 1990er Jahren mit der Wahlaktion Solidarność (Akcja Wyborcza Solidarność – AWS) ihre politische Vertretung im Parlament und lässt sich heute weitgehend dem Lager der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i SprawiedliwośćPiS) zuordnen. Der OPZZ hingegen ist weltanschaulich offiziell liberal, was jedoch nicht immer die Ansichten der Mitglieder widerspiegeln muss. Politisch steht er der postkommunistischen Demokratischen Linksallianz (Sojusz Lewicy DemokratycznejSLD) nahe. Die dritte große Gewerkschaftszentrale, das Gewerkschaftsforum, wurde 2002 als Reaktion auf den Konflikt zwischen Solidarność und OPZZ als dezidiert politisch neutrale Alternative gegründet.

Rahmenbedingungen der Gewerkschaftsarbeit

Laut einer repräsentativen Umfrage des Zentrums zur Erforschung der Gesellschaftlichen Meinung (Centrum Badania Opinii Społecznej , CBOS) aus dem Jahr 2019 gehören knapp unter 1,7 Mio. der rund 13 Millionen Arbeitnehmer in Polen einer Gewerkschaft an, was einem Organisationsgrad von 12,9 Prozent entspricht. Demnach zählt die Solidarność rund 820.000 Mitglieder, der OPZZ 440.000, das FZZ noch 290.000, während die übrigen gut 130.000 Gewerkschafter anderweitig organisiert sind. Die Verteilung zwischen den drei Gewerkschaftszentralen unterscheidet sich erheblich von denjenigen aus dem Jahr 2017 und auch von den Schätzungen anderer Institutionen wie etwa der Friedrich-Ebert-Stiftung (siehe Tabelle 1 auf Seite 7). Die erheblichen Differenzen lassen sich durch Mitgliederwanderungen, Betriebsschließungen und Erfolge bei der Mitgliederwerbung kaum hinreichend erklären. Laut Experten wie Juliusz Gardawski könnten Stichprobenfehler ursächlich sein. Gleichzeitig sind genaue Mitgliederzahlen auch anderweitig kaum zu ermitteln. Oftmals verfügen die Gewerkschaftszentralen selbst nicht über präzise Informationen, etwa wenn die einzelnen Betriebsgewerkschaften keine exakten Zahlen übermitteln. Einzig die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder insgesamt scheint einigermaßen verlässlich.

Doch wie lässt sich dieser, gerade aus deutscher Sicht, niedrige Organisationsgrad erklären? Die prinzipielle Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist die Gründung einer Betriebsgewerkschaft. Hierfür sind mindestens zehn Beschäftigte als Gründungsmitglieder nötig. Waren lange Zeit nur abhängig Beschäftigte mit einem Arbeitsvertrag (umowa o pracę) zur Mitgliedschaft berechtigt, wurde das Gewerkschaftsgesetz 2018 auf der Basis eines Urteils des Verfassungstribunals (Trybunał Konstytucyjny) geändert. Seitdem haben alle Beschäftigten eines Unternehmens einschließlich Selbstständiger, Werkvertragsbeschäftigter und Praktikanten das Recht, Gewerkschaftsmitglieder zu werden. Dennoch liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei gerade einmal 12,9 Prozent, mit fallender Tendenz. Vor allem zwei Gründe scheinen hier ausschlaggebend zu sein. Zum einen ist die polnische Unternehmensstruktur von Klein- und Kleinstbetrieben geprägt. 96 Prozent aller Unternehmen haben weniger als zehn Beschäftigte und rund 40 Prozent aller Beschäftigten sind in solchen Klein- bzw. Kleinstunternehmen tätig. Für diese Arbeiternehmergruppe ist die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft praktisch nicht möglich. Zum anderen ist gerade für junge Berufseinsteiger oft nicht ersichtlich, welche Vorteile die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft für sie persönlich hat, gesetzt den Fall, dass sie überhaupt von der Existenz einer Gewerkschaft in ihrem Betrieb oder der Möglichkeit, eine Betriebsgewerkschaft zu gründen, wissen. Darüber hinaus kam es in vergangenen Jahren immer wieder zu Kündigungen von Personen, die eine Gewerkschaft gründen wollten, so etwa im Einzelhandel.

Demnach ist es wenig verwunderlich, dass fast drei Viertel aller Gewerkschaftsmitglieder in den mitarbeiterstarken staatlichen, kommunalen oder öffentlichen Einrichtungen und Unternehmen zu finden sind und nur weniger als jeder fünfte Gewerkschafter in einem privaten Unternehmen tätig ist. Als Faustregel gilt: je größer das Unternehmen, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft. Laut einer CBOS -Umfrage aus dem Jahr 2019 arbeiten 87 Prozent der befragten Gewerkschaftsmitglieder in einem Unternehmen mit mindestens 50 Mitarbeitern und 47 Prozent in einem Unternehmen mit mindestens 250 Beschäftigten.

Auch bei Tarifverhandlungen, dem Kerngeschäft gewerkschaftlicher Tätigkeit, bietet das polnische Gewerkschaftssystem etliche Herausforderungen. Derzeit ist schätzungsweise jedes vierte Arbeitsverhältnis in Polen über einen Tarifvertrag abgedeckt. Dabei existieren die meisten Tarifvereinbarungen auf Betriebsebene, regionale und Branchentarifverträge haben eine nur geringe und zudem abnehmende Bedeutung. Im Prinzip sind alle Betriebsgewerkschaften tariffähig, allerdings müssen sie vor den Verhandlungen mit der Arbeitgeberseite eine gemeinsame Position aller Betriebsgewerkschaften vorlegen, was angesichts des Gewerkschaftspluralismus bisweilen ein außerordentliches Hindernis sein kann. Zu den Extremfällen gehörte die Kompania Węglowa , einst Polens größter Kohlekonzern, bei dem sage und schreibe 177 Gewerkschaften aktiv waren. Gelangen die Gewerkschaften zu keiner Einigung, sind nur diejenigen Gewerkschaften zu Tarifverhandlungen berechtigt, die repräsentativ sind, also entweder einem überbetrieblichen Gewerkschaftsverband mit mindestens 300.000 Mitgliedern angehören und mindestens sieben Prozent der Belegschaft zu ihren Mitgliedern zählen bzw. kein Mitglied eines repräsentativen Verbandes sind und mindestens zehn Prozent der Belegschaft umfassen. Neben der geringen Organisationsstärke und der oftmals eingeschränkten Tariffähigkeit leiden die polnischen Gewerkschaften unter Nachwuchsmangel und damit verbunden unter Überalterung und Mitgliederschwund. Lag das Durchschnittsalter der Gewerkschaftsmitglieder 2009 noch bei 41 Jahren, so ist es bis 2019 auf bereits 47 Jahre gestiegen.

Ein zentrales Problem der polnischen Gewerkschaften liegt in ihrer mangelnden Sichtbarkeit nach außen. Laut einer CBOS -Umfrage von 2019 wissen 35 Prozent von der Existenz einer Gewerkschaft in ihrem Betrieb, 53 Prozent gaben an, in einem Betrieb ohne Gewerkschaft zu arbeiten und ganze zwölf Prozent wussten nicht, ob es in ihrem Betrieb eine Gewerkschaft gibt. Auch in der polnischen Öffentlichkeit scheint nur wenig über die Aktivitäten der Gewerkschaften bekannt zu sein. Während mehr Befragte die Arbeit der Gewerkschaften positiv (38 Prozent) als negativ (21 Prozent) einschätzen, haben ganze 41 Prozent zu der Frage überhaupt keine Meinung. Danach gefragt, wie effektiv die Gewerkschaften die Interessen von Arbeitnehmern in Polen schützen, gaben 40 Prozent "nicht effektiv" an, 27 Prozent "effektiv", während rund ein Drittel keine Meinung zu dem Thema hat.

Die Gewerkschaften unter der Regierungskoalition PO-PSL (2007–2015)

Die Zusammenarbeit zwischen der von Ministerpräsident Donald Tusk geführten Regierungskoalition – bestehend aus Bürgerplattform (Platforma ObywatelskaPO) und Polnischer Bauernpartei (Polskie Stronnictwo LudowePSL) – und den Gewerkschaften stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Die 2007 gewählte erste Regierung Tusk trat mit dem Vorhaben an, den bestehenden Reformstau in Polen (z. B. im Gesundheitswesen, Rentensystem und Bildungswesen) in Angriff nehmen zu wollen. Damit weckte die PO , die zu keiner der Gewerkschaften eine engere Beziehung unterhält, das Misstrauen der Gewerkschaften, die nicht zuletzt um alte Vorrechte und Privilegien fürchteten. Dennoch trat der Dissens zwischen Gewerkschaften und Regierung erst in der zweiten Amtszeit Tusks in Gänze zutage.

Der soziale Dialog zwischen den Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der Regierung war damals noch in der Trilateralen Kommission für sozio-ökonomische Angelegenheiten (Trójstronna Komisja do Spraw Społeczno-Gospo­darczych) organisiert. Nach der Bestätigung der Regierungskoalition in den Wahlen im Herbst 2011 benannte Ministerpräsident Tusk mehrere Monate lang keinen Vorsitzenden für die Trilaterale Kommission von Regierungsseite, was deren Arbeit faktisch unmöglich machte und den sozialen Dialog zum Stillstand brachte. Gleichzeitig brachte die Regierung in ihrer zweiten Amtszeit mehrere Gesetze auf den Weg, die Kernerrungenschaften der Gewerkschaften zu beschneiden drohten. Dies betraf einerseits die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 Jahren für Frauen und 65 Jahren für Männer auf nunmehr einheitlich 67 Jahre. Sie wurde Mitte 2012 verabschiedet und trat zum 1. Januar 2013 in Kraft. Weder die Regierung Tusk, die das Gesetz im Sejm verabschiedete, noch der damalige Präsident Bronisław Komorowski, der es unterzeichnete, hatten die Angelegenheit mit den Sozialpartnern konsultiert. Laut einer CBOS -Umfrage lehnte eine klare Mehrheit der Polen die Gesetzesänderung ab. Und so gelang es der Solidarność , zwei Millionen Unterschriften von Unterstützern zu sammeln, die in einem landesweiten Referendum über die Gesetzesänderung abstimmen wollten, was von der Regierung wiederum abgelehnt wurde. Die andere einschneidende Gesetzesänderung betraf weitgehende Änderungen im Arbeitsrecht bezüglich der Flexibilisierung der Arbeitszeit. Zwar stellte der Arbeitsminister die Regierungsvorschläge in der Trilateralen Kommission vor, er stellte sie allerdings nicht zur Debatte. In der Folge verließen die drei Gewerkschaftsverbände Solidarność , OPZZ und FZZ im Juni 2013 geschlossen die Kommission und brachten den sozialen Dialog in Polen damit zum Erliegen.

Es war vor allem die Gegnerschaft zur Regierung Tusk und ihrer die Gewerkschaften missachtenden Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die die drei Gewerkschaftsverbände zusammenschweißte. Fortan kam es zu gemeinsamen Protesten und Demonstrationen, und man sah die drei Vorsitzenden Piotr Duda (Solidarność) und die zwischenzeitlich verstorbenen Tadeusz Chwałka (FZZ) und Jan Guz (OPZZ) häufiger gemeinsam bei Veranstaltungen auftreten. Ihren Höhepunkt erreichte die Zusammenarbeit der konkurrierenden Gewerkschaftsverbände im September 2013, als knapp zwei Millionen Menschen in Warschau unter dem Motto "Schluss mit der Geringschätzung der Gesellschaft" gegen die Beschneidung der Arbeitnehmerrechte vonseiten der Regierung Tusk demonstrierten. Zu den zentralen Forderungen der Demonstrierenden zählten die Abschaffung der kürzlich eingeführten Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Einführung verbindlicher Volksentscheide bei Vorlage von mindestens 500.000 Unterschriften und die Erhöhung des staatlichen Mindestlohns. Die Ironie, dass es eine wirtschaftsliberal orientierte Regierung war, die die konkurrierenden polnischen Gewerkschaften zumindest zeitweilig einte, war auch den Beteiligten nicht entgangen. So bezeichnete es Solidarność -Chef Piotr Duda in einem Zeitungsinterview im Mai 2013 als "Verdienst des Ministerpräsidenten" Tusk, dass er die drei Gewerkschaftszentralen geeint habe.

Die Gewerkschaften unter der PiS-Regierung (seit 2015)

Das Jahr 2015, in dem die PiS erst die Präsidentschafts- und später die Parlamentswahlen für sich entscheiden konnte, war gleichbedeutend mit dem Ende der engen Zusammenarbeit zwischen den drei großen Gewerkschaftsverbänden. Bereits im Vorfeld der Wahlen für das höchste Staatsamt hatten sich die Solidarność und der Präsidentschaftskandidat der PiS , Andrzej Duda, auf einen Deal geeinigt und diese Vereinbarung auch öffentlichkeitswirksam unterzeichnet. Darin bekräftigte die Solidarność ihre Unterstützung für Duda, der sich im Gegenzug dazu verpflichtete, im Falle seines Wahlsiegs zentrale Gewerkschaftsforderungen umzusetzen. Hierzu zählte nicht zuletzt, dass die von der Vorgängerregierung eingeführte Erhöhung des Renteneintrittsalters rückgängig gemacht werden würde. Selbstverständlich war es keine Überraschung, dass die Solidarność Duda unterstützte. Schließlich gilt die christlich-konservativen Werten verpflichtete Gewerkschaft seit jeher als Befürworter der PiS . Bemerkenswert schien hingegen die klare Positionierung der Solidarność in politischer Hinsicht. Zwar befürworten auch die beiden anderen großen polnischen Gewerkschaftsverbände OPZZ und FZZ die arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Reformen der PiS (z. B. Einführung des Kindergeldes "500 Plus", Anhebung des Mindestlohns, Absenkung des Renteneintrittsalters), allerdings folgten sie der Solidarność nicht in ihrer politischen Unterstützung der Regierung etwa in Bezug auf die umstrittenen Justizreformen.

Aufgrund ihrer Sonderbeziehung zur PiS ist die Solidarność derzeit die einzige Gewerkschaft, die bisweilen Gehör bei der Regierung findet, sich ihr gegenüber meist loyal verhält und dabei auch Konflikte und Zerwürfnisse mit anderen Gewerkschaften in Kauf nimmt, vor allem wenn sie ohne Absprache mit den anderen Gewerkschaften Sondervereinbarungen mit der Regierung trifft – so geschehen während des landesweiten Lehrerstreiks 2019. Die im OPZZ organisierte Gewerkschaft der Polnischen Lehrerschaft (Związek Nauczycielstwa PolskiegoZNP) hatte im April 2019 zur Arbeitsniederlegung aufgerufen. Grund waren einerseits die notorisch niedrigen Gehälter der Lehrkräfte sowie die 2017 von der PiS beschlossene Schulreform, mit deren Folgen die Lehrer bis heute zu kämpfen haben. Nachdem die Verhandlungen zwischen der ZNP und der Regierung gescheitert waren, beschloss die Gewerkschaft auf der Basis eines Mitgliederreferendums, ab dem 8. April in einen unbefristeten Streik zu treten, um den eigenen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Gefordert wurden eine Lohnerhöhung um mindestens 1.000 Zloty sowie die Absetzung der Bildungsministerin Anna Zalewska. Der ZNP zufolge beteiligten sich rund zwei Drittel der polnischen Lehrerschaft und ca. drei Viertel der 20.000 Bildungseinrichtungen im Land. Als Hauptdruckmittel sollten die Abschlussprüfungen für Schüler der Mittelstufe dienen, die im gleichen Zeitraum stattfanden. Letztlich gelang es der Regierung jedoch, die Prüfungen mithilfe von freiwilligem Aufsichtspersonal durchzuführen und somit verpuffte der Streik nahezu wirkungslos. Am 27. April wurde die Arbeitsniederlegung ausgesetzt, ohne dass die Regierung zu einem Entgegenkommen bewegt werden konnte. An dem Streik lassen sich auch alte Differenzen zwischen den Gewerkschaften ablesen. Während die im FZZ organisierten Lehrkräfte sich dem Streik der ZNP anschlossen, schloss die Bildungssektion der Solidarność am Vorabend des Streikbeginns eine separate Vereinbarung mit der Regierung (die für alle Lehrer galt). Diese beinhaltete eine Lohnerhöhung um 9,6 Prozent ab September 2019, schnellere Aufstiegsmöglichkeiten und damit einen schnelleren Zugang zu besserer Entlohnung und eine Einmalzahlung i. H. v. 1.000 Zloty für Berufsanfänger. Die Regierung saß den Streik aus und ging als klarer Sieger aus der Auseinandersetzung hervor, die ZNP wiederum zeigte, dass selbst eine mitgliederstarke Gewerkschaft gegenüber der Regierung nicht zur Durchsetzung der eigenen Interessen in der Lage ist. Als Sieger ging zudem die Solidarność hervor, deren Regierungsnähe und damit verbundene Durchsetzungsfähigkeit von Arbeitnehmerinteressen zum Alleinstellungsmerkmal in der polnischen Gewerkschaftslandschaft geworden ist.

Doch auch die Einflussmöglichkeiten der Solidarność sind begrenzt. Gerade in der ersten Legislaturperiode machte die PiS -geführte Regierung wegen ihres hohen Reformtempos Schlagzeilen, bei dem Gesetze häufig in Nacht- und Nebelaktionen durchs Parlament gepeitscht wurden. Dies bekam auch die Solidarność zu spüren. Nachdem der soziale Dialog in der Trilateralen Kommission unter der Vorgängerregierung der Bürgerplattform faktisch zum Erliegen gekommen war, setzten die Gewerkschaften große Hoffnungen in den neuen Rat für Sozialen Dialog (Rada Dialogu SpołecznegoRDS), der bereits im Juli 2015 und damit kurz vor dem Wahlsieg der PiS seine Arbeit aufnahm. Zwar markierte der RDS zweifelsohne einen Neustart in den Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Regierung, allerdings kritisierten selbst Vertreter der Solidarność , dass die Regierung den RDS zu gewerkschaftsrelevanten Gesetzesvorhaben oftmals nicht ausreichend konsultiere, sondern lediglich informiere. Stattdessen setzt die Regierung auf Maßnahmen, die die Arbeitnehmer direkt ansprechen, ohne den Umweg über den sozialen Dialog zu nehmen. Hierzu zählen sozialpolitische Meilensteine wie die Einführung des populären Kindergeldes "500 Plus", aber auch die Erhöhung des monatlichen Mindestlohns im Jahr 2017. Nachdem sich die Gewerkschaften wochenlang öffentlichkeitswirksam über die angemessene Höhe des Mindestlohns auseinandergesetzt hatten, erhöhte die PiS den gesetzlichen Mindestlohn kurzerhand auf 2.000 Zloty und übertraf damit sämtliche Forderungen seitens der Gewerkschaften. Folglich verwundert es auch nicht, dass sich vor allem die Mehrzahl der Gewerkschaftsmitglieder ausgesprochen zufrieden mit der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der PiS zeigt. Zudem versteht es die gegenwärtige polnische Regierung, Konflikte mit den Gewerkschaften entweder auszusitzen (siehe Lehrerstreik) oder zu pragmatischen Vereinbarungen zu gelangen, so zuletzt geschehen im Rahmen des Streiks in den oberschlesischen Zechen.

Ende September 2020 traten über einhundert Bergleute mehrerer Zechen in Oberschlesien in einen Streik, um die Regierung zur Unterstützung der kaum zukunftsfähigen Industrie zu bewegen. Die Regierung entsandte eine Delegation, Präsident Andrzej Duda sprach mit Solidarność -Chef Piotr Duda. Die zur staatlichen Polnischen Bergbaugruppe (Polska Grupa GórniczaPGG) gehörigen Gruben sind von der Regierung für eine Schließung vorgesehen. Die Proteste sind eine Reaktion auf die neue Energie-Strategie der Regierung, die den Kohleausstieg des Landes weitaus zügiger vorantreiben möchte, als dies bisher der Fall war. Derzeit werden 73 Prozent der in Polen erzeugten Energie aus Kohle gewonnen, ein EU-weiter Spitzenwert. Laut der neuen Strategie soll dieser Wert bis 2030 auf 56 Prozent, 2040 auf 28 Prozent sinken. Für die Gewerkschaften einschließlich der Solidarność ist dies eine besondere Herausforderung, schließlich stehen in der Bergbauindustrie, in der die Gewerkschaften nach wie vor auf einen hohen Organisationgrad blicken, zehntausende Arbeitsplätze auf dem Spiel und mittelbar auch eine große Zahl an Gewerkschaftsmitgliedern. Die polnische Bergbauindustrie ist nicht zuletzt durch die Corona-Krise stark gebeutelt worden. Aufgrund von Nachfrageeinbrüchen und Zechenschließungen sowie von Corona-Ausbrüchen hat die PGG im ersten Halbjahr 2020 bereits einen Verlust von 548 Mio. Zloty gemacht. Ein noch zu beschließender Restrukturierungsplan der Regierung sieht indes Unterstützungsleistungen für die PGG in Höhe von bis zu 1,7 Mrd. Zloty vor, die aus dem Polnischen Entwicklungsfonds kommen sollen. Letztendlich einigten sich die Regierung und die Bergbaugewerkschaften auf ein Ende der Kohleförderung im Jahr 2049. Bis dahin soll der polnische Bergbau von der Regierung subventioniert werden. Die Vereinbarung garantiert den Bergleuten eine Weiterbeschäftigung bis zur Rente bzw. Abfindungen bei vorzeitiger Entlassung.

Fazit

Insgesamt hat sich die Situation aus Sicht der Gewerkschaften mit dem Amtsantritt der PiS -geführten Regierung im Herbst 2015 verbessert. Die wirtschaftliche Entwicklung war bis zum Beginn der Corona-Pandemie äußerst positiv, zudem setzte die Regierung zahlreiche gewerkschaftsfreundliche arbeitsmarkt- und sozialpolitische Reformen ins Werk. Darüber hinaus verfügt mit der Solidarność zumindest einer der drei großen Gewerkschaftsverbände über einen direkten Zugang zur Regierung. Gleichzeitig scheinen gerade im öffentlichen Sektor, also im Gesundheits- und Schulwesen sowie in Justiz und Verwaltung, in näherer Zukunft Konflikte unvermeidlich. Die notorisch niedrigen Gehälter gepaart mit unzureichenden Arbeitsbedingungen haben hier zu großer Unzufriedenheit geführt. Dem hat die PiS bislang kaum etwas entgegenzusetzen vermocht. Doch gerade jetzt in der Corona-Krise ist die Regierung auf das Funktionieren und die Loyalität dieser "systemrelevanten" Berufsgruppen angewiesen. Jüngste Äußerungen aus der Regierung, die dem Gesundheitspersonal mangelnde Tatkraft bei der Bekämpfung der Pandemie vorwerfen, dürften jedenfalls kaum geeignet sein, das bestehende Konfliktpotenzial im öffentlichen Sektor zu entschärfen.

Fussnoten

Bastian Sendhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Berliner Büro des Deutschen Polen-Instituts, Darmstadt. Zuvor war er mehr als acht Jahre bei der Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Warschau für die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften verantwortlich.