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Entwicklung der Weltbevölkerung | Bevölkerungsentwicklung | bpb.de

Inhalt Editorial Entwicklung der Weltbevölkerung Ergebnisse international vergleichender Forschung Zur aktuellen Lage der Weltbevölkerung Geschichte der Bevölkerungswissenschaft Soziale Auswirkungen der demografischen Entwicklung Internationale Bevölkerungspolitik Chancen und Perspektiven Glossar: Demografische Begriffe Literaturhinweise und Internetadressen Autor, Impressum und Anforderungen

Entwicklung der Weltbevölkerung

Herwig Birg

/ 14 Minuten zu lesen

Nach Jahrhunderten des gemächlichen Anstiegs beschleunigte sich im 20. Jahrhundert das Wachstum der Weltbevölkerung. Doch spätestens seit 1965-1970 ist eine Trendwende erkennbar, deren Vorreiter die Industriestaaten sind. Der Umgang mit dem Einfluss dieser Entwicklung auf die Funktionsfähigkeit des sozialen Sicherungssystems gehört zu den Herausforderungen der Gegenwart.

Hunderte von Autos stehen im Stau. (© AP)

Einleitung

Bevölkerung ist mehr als eine bloße Ansammlung von Menschen. Sie definiert sich durch die den Individuen gemeinsamen Merkmale, zum Beispiel Wohnsitz und Arbeitsstätte, und darüber hinaus durch die sozialen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen zwischen den Menschen.

Die Bevölkerung jedes Landes, jeder Region und jeder Gemeinde ist ständigen Veränderungen unterworfen. Dies geschieht durch Geburten und Sterbefälle sowie durch Zu- und Abwanderungen gegenüber anderen Gebieten des gleichen Landes (Binnenwanderungen) bzw. gegenüber dem Ausland (Außenwanderungen). Von diesen vier Ursachen der Veränderung ist die erste – die Geburtenzahl – die weitaus wichtigste, denn von ihr hängen die Übrigen drei auf eine elementare Weise ab: Jede Geburt führt irgendwann zu einem Sterbefall und in der Regel zu mehreren Wohnortwechseln im Lebenslauf, die in der Bevölkerungsstatistik als Zu- und Abwanderungen in Erscheinung treten. Die Summe aller vier Komponenten für ein bestimmtes Jahr oder für jeden anderen Zeitraum ist entweder positiv (im Fall des Bevölkerungswachstums), negativ (Bevölkerungsschrumpfung) oder Null (Stagnation der Bevölkerung).

Die Veränderungen der Bevölkerungs- bzw. Geburtenbilanz sind dabei nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern – mittelbar – auch für das Individuum von Bedeutung. Denn individuelle Entscheidungen, wie zum Beispiel die für oder gegen Kinder, verändern nicht nur die Gesellschaft als Ganzes, sondern wirken auf den Einzelnen zurück. So kann es sein, dass bei gesamtgesellschaftlich anhaltend niedrigem Geburtenniveau eine schrumpfende Zahl der in die Renten- oder Krankenversicherung einzahlenden Erwerbstätigen einer gleichzeitig absolut wachsenden Anzahl von zu versorgenden älteren Menschen gegenübersteht und infolge- dessen Renten gekürzt oder Beiträge zur Krankenversicherung erhöht werden müssen.

Die gesellschaftlichen Auswirkungen der demographischen Entwicklung können dazu führen, dass die aus Sicht des Einzelnen optimalen individuellen Entscheidungen in ihrer Summe einen demographischen und ökonomischen Zustand der Gesellschaft bewirken, durch den sich das Lebensniveau für den Einzelnen verringert, obwohl bzw. gerade weil die Individuen jeweils für sich optimale Entscheidungen getroffen haben.

In der deutschen Öffentlichkeit werden diese Zusammenhänge aus eigener Betroffenheit kontinuierlich diskutiert. Sie sind nicht eigentlich neu, sondern haben historische Vorläufer. Die Zahlen über die Bevölkerungsentwicklung der Welt in den vergangenen Jahrhunderten stützen sich auf jahrzehntelange internationale Forschungsarbeiten auf der Grundlage vielfältiger historischer und literarischer Quellen. Regelmäßige Volkszählungen als Basis demographischer Informationen gibt es – abgesehen von Vorläufern zum Beispiel im Römischen Reich – für wenige europäische Länder erst seit dem 18. Jahrhundert.

Die meisten Entwicklungsländer verfügen auch heute noch nicht über zuverlässige Bevölkerungsdaten. Beispielsweise werden die jährlichen Geburten und Sterbefälle zwischen den im Abstand von etwa zehn Jahren durchgeführten Volkszählungen in vielen Ländern immer noch nicht vollständig registriert, und das gleiche gilt für die Zu- und Abwanderungen über die Staatsgrenzen sowie für die Wanderungsbewegungen innerhalb der Länder.

Deutschland hat seit mehr als 20 Jahren keine genauen Informationen mehr über die Zahl und die Zusammensetzung seiner Bevölkerung. Die letzte Volkszählung fand in der früheren Bundesrepublik 1987 und in der früheren DDR 1981 statt. Im Jahr 2011 (Stichtag 9. Mai 2011) wird der Mikrozensus, eine Volkszählung neuer Art, durchgeführt, bei der statt wie bisher alle Einwohner nur noch zehn Prozent der Haushalte in einer Stichprobe befragt werden. Ergänzt werden diese Zahlen durch Informationen aus verschiedenen Registern. Im Herbst 2012 liegen voraussichtlich erste Ergebnisse für die Einwohnerzahl vor, im Frühjahr 2013 Ergebnisse für Haushalte.

In den Jahren zwischen den Volkszählungen wird die Bevölkerungszahl mittels der Geburten und Sterbefälle und der Zu- und Abwanderungen errechnet, indem man die Geburten und die Zuwanderungen jedes Jahr addiert und die Sterbefälle und die Abwanderungen subtrahiert (Bevölkerungsfortschreibung). Die Zahl der Geburten und Sterbefälle weist praktisch keine Fehler auf, anders als die Zahl der Zu- und Abwanderungen gegenüber dem Ausland, die die gleiche Größenordnung haben wie die Geburten und Sterbefälle. Da die ins Ausland wegziehenden Menschen sich nicht alle bei den Einwohnermeldeämtern abmelden und die illegal Zuwandernden sich nicht anmelden, wirken sich auf die Bevölkerungszahlen der amtlichen Statistik zwei Fehler mit umgekehrten Vorzeichen aus, deren genaues Ausmaß naturgemäß unbekannt ist. Die Schätzungen über die Zahl der in Deutschland lebenden, nicht registrierten Einwohnerinnen und Einwohner schwanken zwischen 500 000 und über einer Million. Es wird vermutet, dass in der Bundesrepublik auf Grund der seit 1987 lückenhaft registrierten Abwanderungen etwa 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner weniger leben als in der amtlichen Bevölkerungsstatistik angegeben werden.

QuellentextZensus – Wie Staaten ihre Völker zählen

Das "größte Projekt seit Entstehung der Menschheit" nannte der indische Innenminister die im April [2010] angelaufene Volkszählung aller Einwohner. 2,5 Millionen Mitarbeiter sind seitdem dabei, jeden der über 1,1 Milliarden Inder statistisch zu erfassen. Wer älter als 15 Jahre ist, muss einen Fingerabdruck abgeben und sich fotografieren lassen. Die Zählung wird vermutlich noch bis zum nächsten Frühling [2011] dauern.
Nur zehn Tage brauchte man in China. Dort begann am 1. November [2010]eine landesweite Erhebung, zu der 6,5 Millionen Volkszähler ausschwärmten. Da von den geschätzten 1,3 Milliarden Chinesen bis zu 200 Millionen Wanderarbeiter sein sollen, die zuweilen illegal leben, standen die Zähler immer wieder vor einem Problem: In vielen Wohnungen gab es unbefriedigende Auskünfte und augenscheinlich mehr Bewohner als Zimmer. Daher wichen die Volkszähler auf Indizien aus – und zählten die vorhandenen Zahnbürsten.
In den USA, einem Land ohne Einwohnermeldeämter, ist die Volkszählung von zentraler Bedeutung. Der amerikanische United States Census fand im vergangenen Frühling [2010] bereits zum 23. Mal statt (seit 1790 alle zehn Jahre). Die dabei erhobenen Daten dienen dem Zuschnitt von Wahlkreisen und der Berechnung öffentlicher Zahlungen: Gemeinden erhalten umso mehr Geld, je mehr Einwohner bei ihnen gezählt werden – ein wichtiger Grund für das gute Image der Zählung. Kritisiert wurden allerdings dieses Jahr die hohen Kosten des Census.
Im Nachbarland Kanada hat die Regierung im Juni [2010] die ausführliche Pflichtbefragung eines Fünftels der Bevölkerung ersetzt ("Geldverschwendung"). Diese 20 Prozent hatten bisher einen längeren Fragebogen erhalten als ihre Mitbürger. Künftig soll die Teilnahme an diesem long form questionnaire freiwillig sein – aber dennoch 30 Prozent der Bevölkerung erreichen. Kritiker befürchten daher unter dem Strich höhere Kosten: Sie weisen darauf hin, dass die Bürger unter dem Dauerbeschuss von Telefonumfragen und als solche getarnter Werbung des Antwortens müde werden.
Gute Erfahrungen hat man in der Schweiz gesammelt, wo die amtlichen Statistiker auch das Gebäudekataster erstellen. Dieser praktische Nutzen erhöht die Akzeptanz – vermischt aber Verwaltung und Statistik miteinander. Die Europäische Union fordert von ihren Mitgliedstaaten im Zehnjahrestakt ein fixes Set von Bevölkerungsdaten, gibt jedoch keine bestimmte Methodik vor: Sowohl Stichtage als auch Erhebungsart werden national festgelegt.
In Großbritannien wird gerade diskutiert, ob der Zensus 2011 der letzte auf Basis von Fragebögen sein soll. Ihn könnte eine reine Analyse amtlicher Register ersetzen. In den 90er Jahren waren schon die Niederlande, Dänemark und Schweden zu einer solchen Katasterauswertung übergegangen. Allerdings trägt in Skandinavien auch jeder Bürger eine eindeutige Identifikationsnummer, unter der er von seiner Geburt bis zum Tod in amtlichen Datenbanken eindeutig und einheitlich verzeichnet ist – was zu aussagekräftigen Daten für die Statistiker führt.
Rigoros geht man in der Türkei vor: Am Stichtag der Volkszählung herrscht Ausgangssperre, um den Interviewern die Arbeit zu erleichtern.

STX, "So zählen die anderen", in: Die Zeit Nr. 46 vom 11. November 2010

Jahrhunderte des Wachstums

Trotz der unvollständigen historischen Quellen und der fehlerbehafteten Bevölkerungsstatistiken hat die internationale Forschung durch zahlreiche, intensive Untersuchungen Schätzungen über die historische Entwicklung der Weltbevölkerung erarbeitet, die als fachlich gut gesichert gelten. Nach diesen Ergebnissen ist die Weltbevölkerungszahl in den ersten 18 Jahrhunderten extrem langsam gestiegen: von rund 200 bis 400 Millionen Menschen im Jahr Null auf eine Milliarde im Zweijahreszeitraum 1804/05. Danach beschleunigte sich das Wachstum stark: Für die zweite Milliarde 1926/7 genügten etwa 123 Jahre, für die dritte im Jahr 1959 wurden rund 33 und für die vierte, fünfte und sechste in den Jahren 1974, 1987 und 1998 nur noch 15, 13 bzw. zwölf Jahre benötigt. Seitdem vergrößern sich die Abstände, die siebte Milliarde wurde im Oktober 2011 erreicht. Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung – der jährliche prozentuale Zuwachs – hat im Zeitraum 1965 bis 1970 mit zwei Prozent ein Maximum erreicht und nimmt seitdem stetig ab, 2010 betrug sie noch 1,1 Prozent und hat nach wie vor eine fallende Tendenz.

Als im 18. Jahrhundert in Europa die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bevölkerungsfragen begann, entwickelte sich unter den Gelehrten ein Streit um die These, dass die Weltbevölkerungszahl im Altertum möglicherweise größer gewesen sei als in der Neuzeit. Diese aus heutiger Sicht merkwürdige Ansicht ist darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerungszahl in vielen Ländern Europas durch lang andauernde Kriege, in Deutschland vor allem durch den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis 1648, sowie durch die hohe Sterblichkeit infolge von Epidemien wie den Pocken und der Pest vielerorts auf weniger als die Hälfte gesunken war. Das wichtigste Bevölkerungsproblem bestand aus damaliger Sicht nicht in der "Übervölkerung", sondern in einem Mangel an Menschen, und die Bevölkerung eines Landes im Sinne des wieder Volkreich-machens – der Ursprung des Begriffs "Be-völkerung" – rückte zu einem der wichtigsten Staatsziele auf.

Das Weltbevölkerungswachstum im Zeitraum 1750-2010.

War die Bevölkerungszahl eines Staates hoch, galt dies als ein untrügliches Zeichen für dessen Wohlstand. Eine große Einwohnerzahl war gleichbedeutend mit wirtschaftlicher Kraft und hohen Staatseinnahmen. Sie galt als Beweis, dass das Land gut regiert wurde, fruchtbar war und viele Menschen "tragen" konnte. Aus dieser Zeit stammt der Begriff der "Tragfähigkeit der Erde". Damals verstanden als reine landwirtschaftliche Ernährungskapazität, umfasst der Terminus heute auch die ökologischen Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung. Die Frage nach der landwirtschaftlichen Tragfähigkeit der Erde wurde bereits zur Mitte des 18. Jahrhunderts gestellt und mit umfangreichen Berechnungen beantwortet: Die "Tragfähigkeit der Erde" beträgt 14 Milliarden Menschen – ein Ergebnis, das Berechnungen aus unserer Zeit nahekommt. Es stammt aus dem von Johann Peter Süßmilch 1741 in Berlin veröffentlichten klassischen Werk der Bevölkerungswissenschaft "Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts ...". Als das Buch erschien, lebten auf der Erde weniger als eine Milliarde Menschen.

Die in der Zeit des Merkantilismus im 18. Jahrhundert eingesetzten Maßnahmen der Bevölkerungspolitik – vor allem die Förderung der Geburten, die Einführung eines Medizinalsystems zur Senkung der Sterblichkeit sowie die Unterstützung der Einwanderung bei gleichzeitigem Verbot der Auswanderung – zeigten in ihrer Summe Wirkung: Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Bevölkerung Europas stieg vom Zeitraum 1750-1800 bis zum Zeitraum 1850-1900 kontinuierlich von 0,44 auf 0,79 Prozent. Die Wachstumsrate der Weltbevölkerung erhöhte sich im gleichen Zeitraum ebenfalls, jedoch wesentlich schwächer, von 0,43 auf 0,54 Prozent.

QuellentextWachsende Lebenserwartung

[...] Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein galt, was der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem Buch "Leviathan" über das menschliche Leben geschrieben hatte: Es sei einsam, armselig, gemein, viehisch und kurz. Das Erwachsenenalter erreichte im 18. Jahrhundert nur etwa jeder zweite, und von den jungen Erwachsenen starb wiederum jeder zweite vor dem Erreichen des sechzigsten Geburtstages. [...]
Bis 1880 war die Lebenserwartung niedrig. In Mitteleuropa lag sie zur Zeit der Reichsgründung (1871) im statistischen Durchschnitt bei 37 Lebensjahren. [...] Je höher aber die Sterblichkeit, desto geringer die mittlere Lebenserwartung. In Europa erhöhte sich die Lebenserwartung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst nur wenig, weil die Sterblichkeit in den Städten größer war als auf dem Lande und dies zugleich das Zeitalter einer raschen Verstädterung und Industrialisierung war. In Deutschland ging sie zeitweise sogar etwas zurück, weil die städtische Bevölkerung so rasch wuchs und immer wieder Epidemien das Land überzogen.
In den großen Städten lebte man dicht zusammengepfercht beieinander, die Luft war von den Abgasen aus Industriebetrieben hochgradig verschmutzt, das Trinkwasser in den öffentlichen Brunnen mit Schadstoffen verunreinigt. Die Städte waren "ungesund", ihre Bewohner wurden nicht alt. [...]
Noch im 19. Jahrhundert war die Säuglingssterblichkeit sehr hoch. In den Städten lag der Anteil von Säuglingen und Kleinkindern (bis fünf Jahre) unter den Verstorbenen mitunter bei 50 Prozent. [...]
In Deutschland war die Säuglingssterblichkeit höher als in anderen europäischen Staaten, und sie war in Süddeutschland höher als im Norden. [...] Die meisten Säuglinge starben an Darminfektionen, weil sie nicht gestillt wurden. Statt der Muttermilch erhielten sie mit verseuchtem Wasser verdünnte Kuhmilch. [...]
Zwischen der Reichsgründung und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges sank die rohe Sterblichkeitsziffer (crude death rate) vor allem in den Großstädten. Eine bessere Hygiene hat am meisten dazu beigetragen. An erster Stelle sind die kommunale Versorgung mit sauberem Trinkwasser und die Beseitigung der Auswurfstoffe durch die Kanalisation zu nennen. Diese Installationen waren die größten öffentlichen Gesundheitsprojekte, die je verwirklicht wurden. Sie hoben die Lebenserwartung spürbar an.
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begannen in den Industrieländern die Realeinkommen – und der Lebensstandard – zu steigen. Das hieß: weniger Arbeitsstunden pro Jahr, also mehr freie Zeit zur Erholung, bessere Ernährung, mehr und hygienisch einwandfreie Milch, geräumigere Wohnungen. [...] Die mittlere Lebenserwartung stieg; im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts lag sie für Männer bei 44,8 und für Frauen bei 48,3 Jahren.
In der Vergangenheit waren die Todesursachen einförmiger als heute. In Deutschland starben noch am Ende des 19. Jahrhunderts Jahr für Jahr mehr als 100 000 Menschen an Tuberkulose. [...] Bis 1939 hatten die Tuberkulose, die Bronchitis und andere Erkrankungen der Atmungsorgane bei Kindern ihre tödliche Kraft verloren. Das ist vor allem dem medizinischen Fortschritt zu verdanken.
[...] Die [...] von belebten Erregern verursachten Krankheiten rissen im 18. und noch im 19. Jahrhundert in der Regel weit mehr als ein Drittel der Erwachsenen ins Grab. Zählt man die vielen Kleinkinder hinzu, die an Infektionen im Magen-Darm-Trakt starben, also gleichfalls an den Auswirkungen von Mikroorganismen, so wird wohl in den meisten Jahren sogar mehr als die Hälfte aller Todesfälle Krankheitskeimen zuzuschreiben sein. [...]
Dank der erfolgreichen Bekämpfung der Infektionskrankheiten und einer Reihe sozialhygienischer Maßnahmen stieg die Lebenserwartung in den Industrieländern zwar an, aber am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren die Menschen noch immer relativ jung, wenn sie ins Grab sanken. Das Alter von achtzig Jahren erreichten nur wenige. Im Jahr 1913 waren gerade einmal 14,2 Prozent der auf den Nürnberger Friedhöfen bestatteten Perso-nen siebzig Jahre oder älter (1867 waren es nicht einmal zehn Prozent). Heute macht diese Personengruppe in Nürnberg mehr als siebzig Prozent aus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfuhr der Anstieg der Lebenserwartung noch einmal einen gewaltigen Schub – und trieb damit die Alterung der Gesellschaft voran. 1936 lebten im Deutschen Reich vier Hundertjährige, inzwischen sind es an die 15 000. [...]

Der Verfasser ist Historiker und lebt als freier Autor in Rohrdorf bei Rosenheim.

Manfred Vasold, "Die Revolution der Lebenserwartung", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2010

Trendwende im 20. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert setzte sich der Anstieg der Wachstumsrate der Weltbevölkerung fort, während sich das Wachstum in Europa im gleichen Zeitraum abschwächte und im Falle Deutschlands – ohne Berücksichtigung von Einwanderungen – seit 1972 in die Schrumpfung überging (in der früheren DDR seit 1969).

Deutschland war Ende der 1970er Jahre das Land mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt. Die übrigen europäischen Staaten sind ihm später auf dem Weg zu niedrigen Geburtenraten mit einem Abstand von zwei bis drei Jahrzehnten gefolgt. Inzwischen verzeichnen die Länder im Süden und im Osten Europas, aber auch außereuropäische Staaten wie Japan und Hongkong ähnlich niedrige oder noch niedrigere Geburtenraten wie die in Deutschland lebende Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit, deren durchschnittliche Geburtenrate rund 1,2 Kinder pro Frau beträgt. Bei den Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit ist die Geburtenrate inzwischen auf 1,6 Kinder je Frau gesunken. Die höhere Geburtenrate der zugewanderten Bevölkerung in Deutschland beruht darauf, dass die Mehrheit der Migranten aus Herkunftsländern stammt, in denen die Geburtenraten zwar ständig abnehmen, aber immer noch wesentlich höher sind als in den Industrieländern. Im Zeitraum 2005-2010 betrug beispielsweise die Geburtenzahl pro Frau in der Türkei 2,1 und im Durchschnitt aller Entwicklungsländer 2,7, in den am wenigsten entwickelten Ländern 4,4.

QuellentextVerschiedene Arten von Bevölkerungsvorausberechnungen

Jede wissenschaftliche Bevölkerungsvorausberechnung beruht auf drei Gruppen von Bedingungen oder Voraussetzungen: auf Annahmen über die künftige Entwicklung der Fertilität (Geburtenrate), der Mortalität (Sterberate) und der Migration (Wanderungsrate). Das Kernstück jeder Vorausberechnung besteht in der Erarbeitung dieser Annahmen, was intensive Analysen über die Entwicklung in der Vergangenheit erfordert. Die Qualität einer Bevölkerungsvorausberechnung, gemessen an ihrer Treffsicherheit, ist stets identisch mit der Qualität bzw. dem Realitätsgehalt der ihr zugrunde liegenden Annahmen. Stimmen die Annahmen über die Geburten- und Sterberate und über die Wanderungsrate in der Zukunft mit der Realität genau oder näherungsweise überein, dann trifft auch die Bevölkerungsvorausberechnung genau oder näherungsweise zu.
Der Begriff "Bevölkerungsvorausberechnung" dient als Oberbegriff für verschiedene Unterbegriffe wie "Bevölkerungsprognose", "Bevölkerungsprojektion", "Bevölkerungsmodellrechnung" und "Bevölkerungs-Simulationsrechnung". Bei einer Bevölkerungsprognose werden die Annahmen mit dem Ziel getroffen, dass die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens möglichst hoch und der Prognosefehler (Differenz zwischen Prognoseergebnis und tatsächlicher Entwicklung) möglichst gering ist. Demgegenüber besteht das Ziel einer Bevölkerungsprojektion in der Berechnung eines Prognoseintervalls, bestehend aus einer oberen, mittleren und unteren Variante. Zu diesem Typus zählen zum Beispiel die Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes.
Einen besonderen Unterfall des Typs der Bevölkerungsprojektion bilden die Population Prospects der Population Division der UN. Die Annahmen der UN sind oft bewusst optimistischer gesetzt als es der bisherigen Entwicklung entspricht. Beispielsweise nehmen die Annahmen über einen besonders raschen Rückgang der Geburtenrate in den Entwicklungsländern den Erfolg einer wirksamen Bevölkerungspolitik in der Zukunft vorweg, obwohl deren ausreichende Finanzierung nicht sicher ist. Um den Zielcharakter dieser Vorausberechnungen hervorzuheben, wird dieser Typ von Projektionsrechnungen im Deutschen auch mit dem Begriff "Zielprojektion" bezeichnet.
Modellrechnungen dienen nur dem Ziel, die aus unterschiedlichen Annahmen folgenden demografischen Zustände in der Zukunft zu ermitteln, ohne eine maximale Prognosegenauigkeit anzustreben. Dafür wird meist eine große Vielzahl von Varianten berechnet. Bei besonders zahlreichen Varianten werden Ober- und Untergrenzen für die Geburten-, Sterbe- und Wanderungsrate durch die Forschung festgelegt, während der Zahlenwert selbst durch den Computer nach dem Verfahren der Zufallsstichprobe aus dem vor- gegebenen Intervall "gezogen" wird wie ein Los aus der Urne. Das entsprechende Verfahren, die so genannte Monte-Carlo-Simulation, soll nicht eine einzelne, möglichst zutreffende Vorausberechnung liefern, sondern eine möglichst große Vielzahl, aus denen sich eine Häufigkeits- bzw. Wahrscheinlichkeitsverteilung über das Ergebnis bilden lässt ("stochastische Bevölkerungsvorausberechnung"). Der Mittelwert der Häufigkeitsverteilung lässt sich dann als das Ergebnis mit der höchsten Wahrscheinlichkeit interpretieren.

Vorausberechnungsvarianten

Nach Jahrhunderten des Bevölkerungswachstums zeichnet sich heute auf Grund des weltweiten, seit Jahrzehnten beobachteten Rückgangs der Geburtenraten ein Ende des Weltbevölkerungswachstums ab. Die Geburtenrate ist im Durchschnitt der Weltbevölkerung vom Zeitraum 1950-1955 bis zum Zeitraum 2005-2010 von fünf Kindern je Frau auf 2,5 Kinder je Frau zurückgegangen. Nach den Untersuchungen der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen könnte sie bis 2015-2020 auf zwei Kinder je Frau fallen (Annahme der "unteren" Vorausberechnungsvariante der UN von 2010). Nach der "mittleren" Variante wird eine Geburtenzahl von rund zwei Kindern pro Frau erst nach der Jahrhundertmitte erreicht, wobei sich der Abnahmetrend der Geburtenrate abschwächt, sodass im Jahr 2050 im Durchschnitt der Weltbevölkerung nach der mittleren Variante 2,15 Geburten pro Frau entfallen.

Selbst wenn sich die untere Annahme eines besonders raschen Rückgangs der Geburtenrate als zutreffend erweist, wächst die absolute Zahl der Weltbevölkerung trotzdem bis 2045 weiter, bei einem langsameren Rückgang der Geburtenrate entsprechend der mittleren Variante setzt sich das Wachstum sogar bis zum Ende des 21. Jahrhunderts fort. Dieses Phänomen des absoluten Zuwachses der Bevölkerung trotz abnehmender Geburtenrate wird mit den Begriffen "langer Bremsweg", "Schwung" und "Eigendynamik des Bevölkerungswachstums" bezeichnet.

Der Grund für die Dynamik und gleichzeitige Trägheit des Bevölkerungswachstums liegt darin, dass die absolute Zahl der Geburten, die das Produkt aus der Geburtenzahl pro Frau und der Zahl der Frauen im sogenannten gebärfähigen Alter von 15 bis 45 ist, nur sehr langsam zurückgeht. Denn die Zahl der Frauen, die nach 2000 in die Altersgruppe des gebärfähigen Alters nachgerückt sind bzw. nachrücken, erhöht sich infolge der in der Vergangenheit stark angestiegenen Geburtenzahlen bzw. Jahrgangsstärken bis 2080 noch beträchtlich, und zwar um mehrere Hundert Millionen. Die abnehmende Geburtenzahl pro Frau wird durch die steigende Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter (15-45/50) überkompensiert, so dass die absolute jährliche Geburtenzahl über der Zahl der Sterbefälle liegt und das Bevölkerungswachstum sich noch jahrzehntelang, wenn auch abgeschwächt, fortsetzt.

Diese Zukunftsprognosen haben nichts mit Wahrsagerei zu tun, vielmehr handelt es sich um mathematisch überprüfbare Aussagen in der Form von "Wenn-Dann-Sätzen". Sollten die den Berechnungen zugrunde liegenden "Wenn-Annahmen" über die Geburtenrate und die Sterblichkeit genau oder näherungsweise stimmen, dann treffen auch die aus ihnen abgeleiteten Vorausberechnungen genau beziehungsweise näherungsweise ein.

Berücksichtigt man, dass sich nicht jedes geborene Mädchen fortpflanzen kann, weil es zum Beispiel vor dem Beginn des gebärfähigen Alters stirbt, müssen im Durchschnitt der Weltbevölkerung 2,13 Lebendgeborene pro Frau entfallen, damit die Bevölkerungszahl konstant bleibt (Bestandserhaltungsniveau der Geburtenrate). Ergänzend zu den dargestellten Berechnungen der UN führte der Verfasser Vorausberechnungen unter der alternativen Annahme durch, dass die Geburtenrate der Weltbevölkerung schnell oder weniger schnell fällt, so dass das Bestandserhaltungsniveau der Geburtenrate im Durchschnitt der Weltbevölkerung alternativ bis zum Zeitpunkt 2010, 2020, (...), 2080 erreicht und danach leicht unterschritten wird. Für jede dieser acht Annahmen liegt der Gipfel der Weltbevölkerungszahl in einem bestimmten Kalenderjahr, danach tritt eine neue Phase der Weltbevölkerungsschrumpfung ein.

Die verschiedenen Varianten der Weltbevölkerungsentwicklung bis zum Jahr 2010.

Wenn das Bestandserhaltungsniveau der Geburtenrate beispielsweise ab dem Jahr 2040 unterschritten wird, wächst die Weltbevölkerung auf ein Maximum von 9,5 Milliarden im Jahr 2070, danach beginnt der Prozess der Weltbevölkerungsschrumpfung. Erreicht die Geburtenrate das Bestandserhaltungsniveau erst 2080, dann steigt die Weltbevölkerungszahl bis 2110 auf ein Maximum von 11,6 Milliarden, um danach zurückzugehen.

Von den acht Berechnungsvarianten sei noch der rein theoretische Fall einer extrem schnellen Abnahme auf das Bestandserhaltungsniveau bis zum Jahr 2010 betrachtet. In diesem Fall erreicht die Weltbevölkerung im Jahr 2048 ein Maximum von rund acht Milliarden, danach nimmt sie ab. Natürlich hängen diese Berechnungsergebnisse auch von Annahmen über die künftige Entwicklung der Lebenserwartung bzw. der Sterblichkeit ab. Unterschiedliche Annahmen zur Lebenserwartung haben jedoch eine wesentlich geringere Auswirkung auf das Ergebnis als die Annahmen zur Geburtenrate (Herwig Birg, World Population Projections, Frankfurt a. M./New York 1995, S. 109).

Abnehmende Wachstumsraten der Weltbevölkerung bedeuten nicht, dass auch der absolute Bevölkerungszuwachs in gleichem Maße geringer wird. Auf Grund der dargestellten Eigendynamik des Weltbevölkerungswachstums bleibt der jährliche absolute Zuwachs noch einige Jahrzehnte auf einem relativ hohen Niveau von 70 bis 80 Millionen annähernd konstant, obwohl die Wachstumsraten und die Geburtenraten ständig abnehmen.

Der Zeitpunkt des Übergangs in die Bevölkerungsschrumpfung ist bei den einzelnen Ländern unterschiedlich, die Schrumpfung beginnt um so später, je höher das Ausgangsniveau der Geburtenrate eines Landes war. Für die Industrieländer (Europa, Nordamerika, Japan, Australien und Neuseeland) wird die Geburtenzahl pro Frau von der Bevölkerungsabteilung der UN im Zeitraum 2005-2010 auf 1,66 geschätzt, hier beginnt die Bevölkerungsschrumpfung (im Falle hoher Einwanderungen) um das Jahr 2050. Für die Gruppe der wenig entwickelten Länder (Afrika, Asien ohne Japan, Lateinamerika, Karibik, Melanesien, Mikronesien und Polynesien) beträgt die Geburtenrate 2,67 Kinder pro Frau, in diesen Ländern setzt die Schrumpfung erst gegen Ende des 21. Jahrhunderts ein. Einige der am wenigsten entwickelten Länder mit einer Kinderzahl von 4,41 pro Frau könnten noch im 22. Jahrhundert Bevölkerungszuwächse verzeichnen.

Einflüsse auf die Wohlstandsverteilung

Als Hauptkennzeichen des demografischen und des sozioökonomischen Entwicklungsprozesses während der letzten 200 Jahre haben sich folgende Ergebnisse herauskristallisiert:

Im Zeitraum von 1750 bis 1850, in dem die heutigen Industrieländer selbst noch wenig entwickelt waren, übertraf ihr Bevölkerungswachstum die Wachstumsrate Afrikas und die anderer Staaten, die heute zu den Entwicklungsländern zählen, um das zehn- bis 20-fache.

Die steigende Bevölkerungszahl bewirkte in diesen Ländern eine zunehmende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, was die Wachstumsrate der volkswirtschaftlichen Produktion, die Einkommen und die Kaufkraft erhöhte. Gleichzeitig stieg durch verbesserte landwirtschaftliche Produktionsmethoden die Ernährungssicherung. Hinzu kamen Fortschritte in der medizinischen Versorgung und der Hygiene, wodurch sich die Sterblichkeit verringerte bzw. die Lebenserwartung stieg.

Nach Erreichen eines hohen Entwicklungsniveaus in Deutschland, insbesondere nach Einführung der kollektiven Alters-, Unfall- und Krankenversicherung durch die Bismarckschen Sozialreformen ab den 1880er Jahren, ging die Bedeutung eigener Kinder als Grundlage einer familienbasierten sozialen Absicherung und Versorgung im Alter und im Fall von Krankheit und Invalidität allmählich zurück. Die Funktionsweise des kollektiven sozialen Sicherungssystems als Ganzes hing aber auch weiterhin davon ab, dass das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den zu versorgenden Kindern und älteren Menschen einerseits und denen in der mittleren Altersgruppe, die diese Versorgungsleistung erwirtschaften müssen, andererseits nicht übermäßig anstieg.

QuellentextAnfänge der staatlichen Sozialversicherung

[...] Jahrhundertelang war eine staatlich organisierte Versicherung gegen die sozialen Risiken durch Krankheit, unfall- oder altersbedingte Erwerbsunfähigkeit weder denkbar noch dringend notwendig. In der vorindustriellen Zeit hielten die Bande der Großfamilie – kein Grund zu Sozialromantik freilich, es gab Armut, Not und Elend. Jedoch: Die Sippe hielt und half.
In den aufkommenden Handwerksberufen waren es die Zünfte und Gilden, die sich um ihre Mitglieder kümmerten. Wo nach und nach Städte entstanden, erfüllten die Kirchen ihren diakonischen Auftrag und halfen Kranken und Verarmten.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich die Situation rasch. Die Aufhebung der Leibeigenschaft trieb Scharen von freien, aber armen Bauern in die aufblühenden Städte. Maschinen ermöglichten die Fabrikationswirtschaft: Die industrielle Revolution war ausgebrochen, die sozialen Bande hielten nicht stand. Armut wurde zum Massenphänomen. Und somit zum Politikum.
[...] Die Eliten hatten ein Problem: Das Gespenst des Kommunismus ging um in Europa. Auch in Deutschland waren Hunderttausende arm. Wer krank wurde oder infolge eines Betriebsunfalls seine Erwerbsfähigkeit einbüßte, verlor die ungeschützte Stellung und konnte Frau und Kinder nicht mehr ernähren. Eine gefährliche Situation: Hätte sich die Auffassung des Kommunistischen Manifests durchgesetzt, die Proletarier hätten nichts zu verlieren außer ihren Ketten, wäre die Revolution greifbar nahe gewesen.
Sie zu verhindern, verteilte der Reichskanzler Otto von Bismarck Zuckerbrot und schwang die Peitsche: Die Sozialistengesetze von 1878 brachten Versammlungs-, Organisations- und Publikationsverbote für Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Mit den Sozialreformen aber kam ein Mindestmaß sozialer Sicherheit: "Eine Aufgabe staatserhaltender Politik", wie es in der Gesetzesbegründung hieß.
Zuerst brachte Bismarck die Krankenversicherung auf den Weg, 1883. Für die mit höchstens sechs Prozent des Arbeitslohns historisch niedrigen Beiträge gab es ärztliche Behandlung, Arzneimittel und mindestens die Hälfte des Einkommens als Krankengeld.
Ein Jahr später folgte die Unfallversicherung. [...] Der Arbeiter erhielt verschuldensunabhängig Ersatz, wenn ein Betriebsunfall seine Erwerbsfähigkeit beeinträchtigte. Starb er, bekamen die Hinterbliebenen eine Rente. Gezahlt haben die Berufsgenossenschaften, die die Kosten auf die Unternehmer umlegten. Ein Geniestreich: Die Arbeitgeber bekamen einen Anreiz, Betriebsunfälle zu verhüten, die Arbeiter mussten keine aufwendigen Ersatzprozesse führen. Das Prinzip gilt noch heute.
Erst 1889 entstand mit der Invaliditäts- und Alterssicherung die Vorgängerin der heutigen Rentenversicherung. Sie leistete Rente, wenn der Arbeiter wegen Invalidität weniger als ein Sechstel seines früheren Verdienstes erzielte oder mindestens 70 Jahre alt war. Aber wer als Arbeiter alt wurde, war meistens Invalide, und die Lebenserwartung lag bei 40 Jahren. [...] Außerdem gab es zunächst grundsätzlich keine Leistungen für die Hinterbliebenen. Dafür war der Beitragssatz zu gering: 1,7 Prozent des Verdienstes zahlten, je zur Hälfte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Versicherung enthielt sowohl kapitalgedeckte Elemente, bei denen die Versicherungsleistungen angespart und später ausgeschüttet werden, als auch Umlageaspekte, bei denen die jeweils aktuellen Beitragszahler für die Leistungsempfänger aufkommen.
1911 führte die Reichsversicherungsordnung (RVO) die drei Versicherungszweige zusammen. Sie galt in wesentlichen Teilen noch bis in die neunziger Jahre.

Sebastian Lovens, "Der lange und meist erfolgreiche Weg von Fürs Bismarck zu Walter Riester", in: Das Parlament Nr. 8 vom 22.2.2002

Hochentwickelte Länder im "Verteilungsstress"

Dieses Gleichgewicht von Beitragszahlern und Begünstigten existiert in Deutschland und in anderen hochentwickelten Ländern nicht mehr. Das soziale Sicherungssystem (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) verliert durch die wachsende Zahl (nicht nur den wachsenden Prozentanteil) der zu versorgenden älteren Menschen in der Altersgruppe der über 60-Jährigen und durch die gleichzeitig schrumpfende Zahl der 20- bis 60-Jährigen zunehmend seine Funktionsfähigkeit. Dabei fällt die Entlastung durch die abnehmende Zahl der Kinder und Jugendlichen weitaus weniger ins Gewicht als die Belastung durch die zunehmende Zahl der Älteren. Das wichtigste Bevölkerungsproblem ist also nicht in erster Linie die ohne Einwanderungen schrumpfende absolute Bevölkerungszahl, sondern der demografisch bedingte gesellschaftliche Verteilungs- bzw. Umverteilungsstress zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, vor allem zwischen den jungen und alten Generationen.

Gleichzeitig werden durch die Abnahme der Erwerbspersonenzahl in der mittleren Altersgruppe von 20 bis 60 das Wachstum des Volkseinkommens und mit ihm das Wachstum der Steuereinnahmen verringert. Gerade in dieser Situation wären jedoch stark wachsende Staatseinkünfte nötig, um den Rückgang der Beitragszahlungen in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung durch staatliche Zuschüsse so weit wie möglich auszugleichen. Da sich das Wirtschaftswachstum und mit ihm das Wachstum der Steuereinnahmen durch die demografische Entwicklung abschwächen, entsteht das Dilemma, dass die demografische Entwicklung gleichzeitig die angestrebte Aufstockung der zu geringen Einnahmen des sozialen Sicherungssystems aus Steuermitteln verhindert.

Eine der schwerwiegendsten Auswirkungen dieser Entwicklung ist die Verschärfung der sozialen Gegensätze, denn die Schließung der entstehenden Versorgungslücken durch private Zusatzversicherungen als Ergänzung zur kollektiven Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung ist den Menschen um so weniger möglich bzw. verlangt ihnen um so größere Opfer und einen um so stärkeren Konsumverzicht ab, je geringer ihr Einkommen ist.

Das eigentliche Bevölkerungsproblem entwickelter Länder wie Deutschland ist ein gesellschaftliches und soziales Problem, das in erster Linie auf der Verschiebung der Altersstruktur durch die Gleichzeitigkeit von Bevölkerungswachstum bei den über 60-Jährigen und der Bevölkerungsschrumpfung bei den 20- bis 60-Jährigen und bei den unter 20-Jährigen beruht. Es ist erst in zweiter Linie ein Problem des quantitativen Bevölkerungsrückgangs, zumal das Geburtendefizit in den vergangenen Jahrzehnten noch durch Einwanderungen mehr als ausgeglichen wurde. So nahm die Bevölkerungszahl zum Beispiel 2002 nicht ab, sondern wanderungsbedingt sogar noch um ein Promille zu, obwohl schon seit 1972 in Deutschland jedes Jahr mehr Menschen sterben als geboren werden.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der sozioökonomische Entwicklungsprozess der Industrieländer vorübergehend durch die niedrige Wachstumsrate der Bevölkerung begünstigt, weil ein besonders hoher Anteil des Sozialprodukts für wachstums- und produktivitätssteigernde Investitionen statt für Konsumzwecke verwendet wurde. Die Investition in Produktionsanlagen und Maschinen begünstigt das Wachstum des Sozialprodukts und des Pro-Kopf-Einkommens, indem sie die Produktion pro Kopf (Produktivität) steigert. Diese Entwicklungsphase könnte rückblickend in spiegelbildlicher Analogie zum "Zirkel der Armut" in den heutigen Entwicklungsländern als "Zirkel des Reichtums" bezeichnet werden. Dieser Zirkel in den Industrieländern hat sich inzwischen erschöpft, er ist zum großen Teil aus demografischen Gründen an sein Ende gelangt, nachdem er von der Bevölkerungsentwicklung vorübergehend begünstigt wurde.

Entwicklungsländer im "Armutszirkel"

Länder mit einer hohen Geburtenrate und einer stark wachsenden Bevölkerung befinden sich in einem "Zirkel der Armut", weil durch die hohe und stark wachsende Bevölkerungszahl ein zu großer Anteil des Volkseinkommens zur Versorgung der am Existenzminimum lebenden Menschen verwendet werden muss. So steht nur ein geringer Anteil für Investitionen in das produktivitäts- und einkommenssteigernde volkswirtschaftliche Produktionskapital – in Maschinen und in die Infrastruktur – zur Verfügung. Es gibt relativ wenige hochentwickelte Indus-trieländer wie Deutschland, aber noch geringer ist die Zahl der Schwellenländer, denen es gelungen ist, den Zirkel der Armut zu durchbrechen und den Anschluss an die Industrieländer zu gewinnen. Zu diesen "Aufsteigern" gehören beispielsweise Taiwan, Südkorea, Singapur,Brasilien und China. Mexiko, Ägypten, Thailand, Indien, Südafrika und Indonesien befinden sich im Übergang. Vielen Entwicklungsländern bietet sich durch den Rückgang der Geburtenraten vorübergehend ein sogenannter demografischer Bonus: Die Zahl der Erwerbspersonen in der mittleren Altersgruppe nimmt im Verhältnis zur Zahl der nachwachsenden Kinder und Jugendlichen zu, so dass sich die Versorgungslasten für die Kinder und Jugendlichen verringern.

Dieses "demografische Fenster" wird sich jedoch wieder schließen, wenn die mittlere Altersgruppe das Ruhestandsalter erreicht und die Versorgungslast für die Älteren von einer geringeren Zahl von Menschen im mittleren Alter getragen werden muss.

Prof. Dr. rer. pol. habil. Herwig Birg war von 1981 bis 2004 Leiter des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) der Universität Bielefeld. Seine Hauptforschungsgebiete sind Bevölkerungstheorie, Fertilitätstheorie, Migrationstheorie, Mortalitätsanalyse und Lebenserwartung, Bevölkerungsprognose- und Simulationsmodelle sowie Bevölkerungsprojektionen. Kontakt: »herwig.birg@uni-bielefeld.de« Homepage:»www.herwig-birg.de«