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Chancen und Perspektiven | Bevölkerungsentwicklung | bpb.de

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Chancen und Perspektiven

Herwig Birg

/ 3 Minuten zu lesen

Deutschland nimmt eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung hin zu einer schrumpfenden Bevölkerung ein. Seine Erfahrungen bei der notwendigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Anpassung, die auf verschiedenen Ebenen nicht nur Probleme darstellt, sondern auch Chancen bedeutet, können für andere Länder wegweisend sein.

Ein Spaziergänger ist am am Bodensee mit einer Gehhilfe unterwegs. (© AP)

Deutschland ist weltweit ein Vorreiter bei der Bevölkerungsschrumpfung und gehört mit Japan zu den Ländern mit der intensivsten demografischen Alterung. Trotz der teilweisen Kompensation des Geburtendefizits durch die Zuwanderung junger Menschen wirkt sich die demografische Alterung in Deutschland nachhaltiger und wesentlich früher aus als in allen vergleichbaren Nationen.

Diese demografischen Veränderungen sind seit langem absehbar, sie wurden von der Wissenschaft seit Jahrzehnten prognostiziert. Bei der öffentlichen Auseinandersetzung mit ihnen gab es drei Phasen: Von Mitte der 1970er Jahre bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden die demografischen Probleme meist ignoriert, bestritten und tabuisiert. Was sei schlimm daran, wenn Deutschland statt 80 Millionen nur beispielsweise 40 Millionen Einwohner hätte, daraus ergäben sich doch beispielsweise Chancen für die Umwelt? Bei dieser Frage wird übersehen, dass die Bevölkerungsschrumpfung ein Prozess ist, den man nicht an einer beliebigen Stelle anhalten kann, wenn er einmal in Gang gekommen ist. Vielmehr setzt sich die Schrumpfung so lange fort, wie ihre Ursachen weiterwirken, gegebenenfalls auch im nächsten Jahrhundert. In der zweiten Phase, die bis etwa 2005 andauerte, wurde die Existenz der demografischen Probleme zunehmend anerkannt und die Versäumnisse sowie die Verzögerungen wurden zugegeben.

In der heutigen, dritten Phase ist Demografie zu einem Modethema geworden. Es besteht jetzt sogar die Gefahr, dass die notwendigen politischen Reformen von den inflationsartig zunehmenden Diskussionen und Tagungen in den Hintergrund gedrängt werden. Jetzt werden Versäumnisse und Verzögerungen zwar zugegeben, aber es ist immer noch weitgehend unbekannt, dass der demografische Wandel konfliktträchtige Folgen hat, die nicht immer mit ihm in Verbindung gebracht werden.

Lassen sich aus der Schrumpfung und Alterung aber auch konkrete Chancen ableiten? Sie eröffnen sicherlich die Möglichkeit, dass Deutschland im Umgang mit den demografisch bedingten Problemen Lösungen entwickelt, die später auch für andere Länder wichtig sein werden.

Auf Gemeindeebene könnte eine solche Chance darin bestehen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vielerorts hastig wiedererrichteten Städte behutsam zu rekonstruieren und die Qualität ihrer architektonischen und gestalterischen Substanz wieder zu entdecken, um sie für künftige Generationen zu erhalten.

Die entscheidende Aufgabe liegt jedoch in einer erfolgreichen Integration der zugewanderten Bevölkerung – der künftigen Mehrheitsbevölkerung bei den Jüngeren in vielen Großstädten, sowie in einer Integration der Älteren in den Arbeitsmarkt und in neu zu entwickelnde soziale Dienste und Netzwerke.

Auf regionaler Ebene bietet sich die Gelegenheit, den jahrzehntelangen Trend zur Zersiedlung der Landschaft durch die Stadt-Umland-Wanderung (Suburbanisierung) zu beenden und in eine Reurbanisierung umzukehren, um die Vitalität der Städte zu stärken. Dies bedeutet jedoch, dass gleichzeitig Siedlungen aufgelöst werden müssten, was Mut und planerische Weitsicht in einem bisher ungewohnten Maße voraussetzt.

Auf Landesebene ergibt sich die Chance, die vom Grundgesetz aufgegebene, seit Jahrzehnten aufgeschobene Neugliederung des Bundesgebiets in die Tat umzusetzen, um leistungsfähige Länder zu schaffen. Die vom Grundgesetz geforderte Herstellung "gleichwertiger" (nicht gleichartiger) Lebensbedingungen in allen Teilen des Landes bietet die rechtliche Grundlage für die Verwirklichung schrumpfungsbedingter Reformen, vorausgesetzt, dass die Risiken nüchtern analysiert und angegangen werden.

Auf nationaler Ebene und für jeden einzelnen liegt eine Chance der Schrumpfung und Alterung darin zu erkennen, wie stark wir von der solidarischen Unterstützung durch die nachrückenden, jüngeren Generationen abhängig sind, mit anderen Worten, dass es gute Gründe gibt, die Gesellschaft, in der wir leben, zu erhalten, indem wir ihre demografische Tragfähigkeit sichern.

QuellentextDemografiepolitik – gestalten oder verwalten?

Im November 2009 beschloss die Bundesregierung auf dem Brandenburgischen Schloss Meseberg die Entwicklung einer Demografiestrategie, welche die demografische Lage Deutschlands erfassen und die daraus ableitbare künftige Entwicklung analysieren soll. [...]
Die Arbeit an der Demografiestrategie soll durch das Bundesministerium des Innern auf der Ebene der Staatssekretäre koordiniert werden. Im Beschluss ist die Rede von der Reduktion der Abwanderung, der Stabilisierung der privaten und öffentlichen Infrastruktur im ländlichen Raum, und beides wird dann nochmals herunter gebrochen auf Bereiche wie Gesundheitsvorsorge, Bildungsmöglichkeiten vor Ort, Mobilitätssicherung und anderes mehr. [...]
[Bei] der "Gestaltung des demografischen Wandels" [...] handelt [es] sich um eine gesamtgesellschaftliche und vor allem auch gesamtstaatliche Aufgabe, die ressortübergreifend oder auch ressortbezogen umsetzbar bis 2012 entwickelt werden soll. [...] Der Beschluss der Bundesregierung ist "interministeriell" angelegt, das heißt, es wird von einer Querschnittsaufgabe ausgegangen und eine gouvernementale Gestaltung des demografischen Wandels beabsichtigt. [...]
Demografische Strategie bedeutet politisches Handeln mit dem Ziel, demografische Prozesse a) zu beeinflussen oder zu steuern und/oder b) zu verwalten und zu kanalisieren. über eine Strategie zu verfügen heißt also, ein Ziel zu haben, wohin man steuernd gelangen will und mitzuteilen, mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen dies geschehen soll. [...]
Verwalten heißt zum Beispiel, dass man den sogenannten Rückbau Ost betreibt, Stadtteile aussucht, die nicht mehr saniert werden, sowie Schulen, Infrastruktureinrichtungen, Versorgungssysteme, ämter und Behörden konzentriert.
Sachsen gehört diesbezüglich zu den Bundesländern, die, obgleich keinesfalls am stärksten von demografischen Einschnitten betroffen, vorgebaut haben, örtliche Demografiebeauftragte und Demografiemanager kennen, von "Demografiesensitivität" sprechen und in jeder Hinsicht gut vorbereitet sind. Erfreulich ist es zu sehen, dass sich im Umfeld des Stichwortes Demografie auch immer mehr praktische Berufs-bilder entwickeln.
Gestalten bedeutet, dass man strategisch handelnd vorgeht und Ziele ent-wickelt, die den demografischen Prozess beeinflussen sollen. [...]
Früher sahen Politiker in der Demografie zu langfristig ablaufende Prozesse, die sie in ihrer überschaubaren Amtszeit vermutlich nicht würden beeinflussen können, weswegen jeglicher Eingriff, noch dazu ein umstrittener, etwa pronatalistischer, unterlassen wurde. [...] Erschwerend kommt hinzu, dass die deutsche Demografie besonderen Wert auf den Abstand zur Politik legt – wofür die aktuelle demokratische Politik nichts kann, denn das Problem liegt in der Vergangenheit der Bevölkerungswissenschaft. [...]
Sicherlich einfacher ist die demografische Herausforderung als Anpassungsstrategie zu verstehen. Demnach stehen folgende Punkte auf der politischen Agenda:

  • die Erhöhung der Lebensarbeitszeit;

  • die Erhöhung der Frauenerwerbstätigkeit bzw. die noch bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie;

  • gezielte Mütterförderung;

  • Migrationspolitik, die besonders Qualifizierte anzieht;

  • Alterungsprozesse der Bevölkerung zu begleiten, sowohl was die Aktivierung "junger Alter" angeht, als auch, was zum Beispiel altersgemischte Belegschaften betrifft;

  • in jeder Hinsicht das Eintreten der "Babyboomer"-Generation in sehr hohe Altersklassen vorzubereiten.

[...] Die Anpassungsstrategie [...] hat den großen Vorteil, dass sie unmittelbar erkennbare Fortschritte, Maßnahmen, Korrekturen und Zustimmung mobilisieren kann. Sie geht auf die aktuellen Herausforderungen ein, analysiert treffend den Verlauf des demografischen Wandels und widmet sich der Machbarkeit. Ihre Vertreter wünschen sich auch eine veränderte Fertilität, sehen aber keine Chance, nachhaltig darauf einzuwirken und kümmern sich entsprechend um den Ist-Zustand. Strategisches Vorgehen bedeutet bei ihnen das Koordinieren von Maßnahmen.
[...] Es könnte jedoch sein, dass sich nach einem erneuten Abwarten zu einem späteren Zeitpunkt doch noch die Gestaltungsoption durchsetzt. Vielleicht wäre aber auch schon viel erreicht, wenn versucht würde, über ein Mischsystem beider Strategien nachzudenken.

Tilman Mayer, Demografiepolitik – gestalten oder verwalten?, in APuZ 10-11/2011, S. 11 ff.

Prof. Dr. rer. pol. habil. Herwig Birg war von 1981 bis 2004 Leiter des Lehrstuhls für Bevölkerungswissenschaft und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) der Universität Bielefeld. Seine Hauptforschungsgebiete sind Bevölkerungstheorie, Fertilitätstheorie, Migrationstheorie, Mortalitätsanalyse und Lebenserwartung, Bevölkerungsprognose- und Simulationsmodelle sowie Bevölkerungsprojektionen. Kontakt: »herwig.birg@uni-bielefeld.de« Homepage:»www.herwig-birg.de«