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Regierungszentrale/Bundeskanzleramt | bpb.de

Regierungszentrale/Bundeskanzleramt

Stephan Bröchler

Das Bundeskanzleramt in Berlin ist die Regierungszentrale der deutschen Bundesregierung. Der Begriff Regierungszentrale steht in der Vergleichenden Regierungslehre für einen besonderen Typus von Regierungsinstitution. Im deutschen Regierungssystem zählen neben dem Kanzleramt in Berlin auch die Staats- und Senatskanzleien der 16 Bundesländer dazu (Bröchler und Lauth 2018). Auf internationaler Ebene lassen sich das Weiße Haus in Washington, No.10 Downing Street in London sowie der Élysée-Palast und Hôtel Matignon in Paris diesem Typus zuordnen. Das Alleinstellungsmerkmal der Regierungszentrale liegt in ihrer Steuerungs- und Koordinationsfunktion als politisch-administratives Instrument der Regierungsspitze, um der Regierungspolitik Richtung zu geben. Zum Kernprofil zählen Beratung und Unterstützung des Regierungschefs, Sekretariatsfunktionen für das Kabinett, Koordination von Sachpolitiken, Planung und Politikformulierung, Kooperation mit anderen Staatsorganen des politischen Systems sowie Public Relations.

Die deutsche Bundesregierung setzt sich aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern zusammen (Art. 62 GG). Das Bundeskanzleramt in Berlin ist das zentrale politisch-administrative Instrument zur Unterstützung des Bundeskanzlers und erfüllt darüber hinaus Sekretariatsaufgaben für die gesamte Bundesregierung. Die Regierungszentrale ist vielfältig mit dem parlamentarischen Regierungssystem verflochten und in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse der Bundesregierung eingebunden.

Organisatorische Einbettung des Bundeskanzleramtes in die Bundesregierung

Die Organisationsstruktur des Bundeskanzleramtes ist Ausdruck und Folge der institutionellen Prägung durch das parlamentarische Regierungssystem Deutschlands mit seiner Akzentuierung auf die starke Stellung des Kanzlers (König 2011). Die Zusammenarbeit innerhalb der Bundesregierung wird durch drei Prinzipien strukturiert (Art. 65 GG): das Kanzlerprinzip, das die Richtlinienkompetenz, die Leitungskompetenz und die Organisationsgewalt umfasst, das Ressortprinzip und das Kollegialprinzip. Alle drei Prinzipien prägen die Organisation des Bundeskanzleramtes (Busse und Hofmann 2015).

Aufgrund des Kanzlerprinzips trägt der Bundeskanzler die politische Gesamtverantwortung für das Tun und Unterlassen der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag (Art. 65 GG). In Deutschland ist der Regierungschef von fachministeriellen Aufgaben frei. Das gilt grundsätzlich auch für das Bundeskanzleramt. Die deutsche Regierungszentrale ist kein Fachministerium, sondern dient der Steuerung und Koordination der Politik des Gesamtsystems Bundesregierung. Der Kanzler ist zudem nicht nur von Fachaufgaben freigestellt, sondern auch von der Leitung der Geschäfte der Regierungszentrale. Der Bundeskanzler regiert, aber er administriert nicht. Das Bundeskanzleramt wird stellvertretend für den Kanzler durch den Chef des Bundeskanzleramtes (ChefBK) geleitet. Die Rolle des ChefBK lässt sich als Generalsekretär oder Stabschef begreifen. Nach 1949 waren die Leiter des Kanzleramtes häufig Staatssekretäre. Seit 1984 tragen sie überwiegend die Amtsbezeichnung Bundesminister für besondere Aufgaben. Mit der Umbenennung ist eine bedeutsame Aufwertung verbunden. Der Chef des Kanzleramtes besitzt seitdem als Mitglied der Bundesregierung Sitz und Stimme im Kabinett. Er leitet die oberste Bundesbehörde, die mit ca. 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Vergleich zu den deutlich größeren Bundesministerien einen überschaubaren Personalkörper aufweist. Der ChefBK ist mit der ganzen Bandbreite der Regierungsthemen befasst. In der täglichen Arbeit erweist sich der Kanzleramtschef als machtvolles Alter Ego des Bundeskanzlers hinter der politischen Bühne, als Koordinator vielfältiger Regierungsprozesse und als Problemlöser bei Konflikten zwischen den Ressorts.

Im formalen bürokratisch-hierarchischen Organisationsaufbau des Bundeskanzleramtes lassen sich funktional zwei Ebenen unterscheiden: der Leitungsbereich samt Büros und die Arbeitsebene. Zur Leitung zählen neben dem Bundeskanzler und dem Kanzleramtschef auch der Staatsminister für die Koordination der Bund-Länder-Beziehungen, Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung. Hinzu kommen die Beauftragten der Bundesregierung im Range eines Staatsministers (Kultur und Medien, Migration, Flüchtlinge und Integration sowie Digitalisierung), der Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes und der Vorsitzende des Nationalen Normenkontrollrats.

Die Arbeitsebene umfasst derzeit sieben Abteilungen, die wiederum in Gruppen und Referate untergegliedert sind. Der Blick auf die Gliederung der Arbeitsebene zeigt die funktionelle Ausdifferenzierung der Leistungserbringung. Die Abteilung 1 ist traditionell die Zentralabteilung. Dort erfolgt die Eigenverwaltung des Kanzleramtes (Personal, Haushalt, Technik). Im aktuellen Organisationsaufbau (Stand Oktober 2019) wurden zusätzlich Aufgaben der Koordination eingegliedert: Kabinett und Parlament, Bund und Länder, sowie Spiegelreferate. Die Abteilungen 2 bis 5 dienen der Steuerung und Koordination aller Politikfelder der Regierungspolitik durch weitere Spiegel- und Querschnittsreferate. Die Koordination der Europapolitik erfolgt in einer spezialisierten fünften Abteilung. Abteilung 6 soll als Planungsabteilung zur strategischen Politikentwicklung des Bundeskanzleramtes beitragen. Abteilung 7 übernimmt die Ressortfunktion für den Bundesnachrichtendienst (BND) und durchbricht den Grundsatz, dass das Bundeskanzleramt ressortfrei arbeitet. Aus dem Bundeskanzleramt weitgehend ausgegliedert wurde die Kommunikations-, Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA) mit ca. 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verfügt über eine eigene rechtliche und ausdifferenzierte organisatorische Struktur. Wie die Regierungszentrale untersteht es als oberste Bundesbehörde dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers.

Die Organisationsstruktur wird neben dem Kanzlerprinzip durch das Ressortprinzip geprägt. Gerade im Bereich der zentralen Funktion Steuerung und Koordination der Regierungspolitik spielt die systematische Berücksichtigung der selbstständigen und eigenverantwortlichen Leitung der Ressorts durch die zuständigen Bundesminister eine zentrale Rolle. Denn die Steuerung und Koordination der Regierungsarbeit ist aufgrund der Ressortautonomie nicht gegen die Bundesministerien, sondern nur im Zusammenwirken mit den Ressorts möglich. Auf der Arbeitsebene sind spezialisierte Referate für die Steuerung und vor allem die Koordination der Bundesregierung angesiedelt, die strukturtypisch für das Bundeskanzleramt sind. Spiegelreferate haben die Funktion einer Schnittstelle zwischen den Bundesministerien und dem Kanzleramt. Sie dienen dazu, dass die Regierungszentrale über alle wichtigen Vorgänge in den Ressorts informiert ist (zum Beispiel Referat 322: Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft). Eine andere Funktion in der Organisation des Bundeskanzleramtes übernehmen Querschnittsreferate, die ressortübergreifend Politikfelder bearbeiten (beispielsweise Referat 422: Energiepolitik und Energiewende).

Zusätzlich zur Richtlinienkompetenz und zum Ressortprinzip gestaltet das Kollegialitätsprinzip die Organisation des Bundeskanzleramtes. Der Bundeskanzler ist der Vorsitzende der Bundesregierung, führt die Geschäfte und leitet die Sitzungen der Bundesregierung. Das Bundeskanzleramt organisiert für Kanzler und Bundesminister die Vorbereitung (Tagesordnung) sowie die Nachbereitung der Kabinettssitzungen (Protokoll) und nimmt die Aufgaben der Geschäftsstelle der Bundesregierung in der Kommunikation mit anderen Verfassungsorganen wahr.

Das Bundeskanzleramt als Akteur im Regierungsprozess

Regieren als politischer Prozess umfasst die Tätigkeiten der Lenkung, Führung, Steuerung, Koordinierung und Moderation staatlichen Handelns. Das Bundeskanzleramt ist intensiv in formaler wie informaler Weise in diesen Regierungsprozess eingebunden. Im Rahmen des Regierungsmanagements wirkt die Regierungszentrale bei der Willensbildung und Entscheidungsfindung und bei der Durchsetzung von Inhalten, Zielen und Interessen innerhalb der Bundesregierung aktiv mit.

Ein wichtiger Aspekt des Regierungsmanagements des Bundeskanzleramtes ist das Informations- und Wissensmanagement, das zum Ziel hat, den Bundeskanzler über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten und diese Informationen in ihrer politischen Bedeutung zu bewerten (Korte 2010). Die Beratung der Regierungsspitze erfolgt in vielfältigen formalisierten wie informalen Varianten durch externe (Wissenschaft, Consultingfirmen, organisierte Interessen) und regierungsinterne (Kanzleramt, Ressorts, Fraktion) Akteure. Den Bundeskanzler über aktuelle Entwicklungen des Weltgeschehens per E-Mail und SMS à jour zu informieren, ist Aufgabe des rund um die Uhr arbeitenden Lagezentrums im Bundeskanzleramt, das ressortübergreifend mit anderen Lagezentren (wie Bundespresseamt, Auswärtiges Amt, Innenministerium, Verteidigungsministerium) zusammenarbeitet. Weitere wichtige Informationsquellen sind die Kanzlermappe, ein frühmorgendlicher Pressespiegel des Bundespresseamtes von ca.130 Seiten und die Akten des Bundeskanzleramtes. Von Instrumenten der Informationsgewinnung und -aufbereitung sind informale Formate zu unterscheiden, die alle bisherigen Bundeskanzler in der einen oder anderen Form genutzt haben (Küchenkabinett, Kleeblatt, Kleine Lage). In der Regierungszeit von Kanzlerin Angela Merkel ist das bekannteste Format die Morgenlage, die in der Regel um 08:30 Uhr beginnt und etwa 30 Minuten dauert. Das informelle Gremium dient in erster Linie dem Austausch: Besprechung des Tagesablaufes, Beratschlagung aktueller politischer Fragen und Brainstorming möglicher Reaktionsmuster. Dabei gilt die Regel: offene Aussprache innerhalb der Gesprächsrunde und strikte Diskretion nach außen. Die Zusammensetzung des Teilnehmerkreises der Morgenlage zeigt die enge Verflechtung von Spitzenakteuren der Parteien in Regierungs-, Parlaments- und Parteiämtern mit der Ministerialbürokratie des Bundeskanzleramtes. Zum exklusiven Kreis gehören neben dem Bundeskanzler und dem Chef des Kanzleramtes in der Regel die Leitung des Kanzlerbüros, Staatsminister im Bundeskanzleramt, einzelne Abteilungsleiter und – falls geboten – weitere Mitarbeiter der Regierungszentrale, der Regierungssprecher, der Medienberater des Kanzlers, Vertreter der Fraktionsspitze der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und der CDU-Generalsekretär. Seit dem Rücktritt von Angela Merkel als CDU- Parteivorsitzende Ende 2018 nimmt in dieser Funktion Annegret Kramp-Karrenbauer an der Morgenlage teil.

Der Kernbereich des Regierungsmanagements des Bundeskanzleramtes liegt in der Integration in Verhandlungssysteme des Regierens. Denn die Regierungszentrale ist gegenüber den Bundesministerien und ihren Leitern weder übergeordnet noch weisungsbefugt. Beide Begriffe spiegeln ein einseitig akzentuiertes hierarchisches und unilaterales Steuerungsverständnis (Government) wider, das vom Begriff der Kanzlerdemokratie abgeleitet ist. Angemessener für die politisch-administrative Realität ist jedoch eine Sichtweise, nach der sich Prozesse der Steuerung und Koordination der Regierungsarbeit in institutionellen Strukturen von Verhandlungssystemen bewegen, die besonders die Steuerungselemente Hierarchie und Verhandlung verbinden (Governance). Das Bundeskanzleramt ist personell (Leitungsebene, besonders ChefBK) und organisatorisch (Arbeitsebene) intensiv in Verhandlungssysteme des Regierens integriert. Im Rahmen der Koalitionsdemokratie ist die Regierungszentrale in die Arbeitsgruppen der Koalitionsgespräche, die Erarbeitung des Koalitionsvertrages, die Umsetzung des Regierungsprogramms durch die Ressorts und die Vor- und Nachbereitung der Sitzungen des Koalitionsausschusses systematisch eingebunden. Darüber hinaus ist das Kanzleramt in eine Vielzahl weiterer Prozesse eingebettet. In der Kabinettsarbeit wirkt das Kanzleramt durch die Vorbereitung (Tagesordnung) und Nachbereitung (Protokoll) der Sitzungen der Bundesregierung mit. Im Gesetzgebungsverfahren sorgen die Spiegelreferate dafür, dass die Regierungszentrale über die Gesetzentwürfe der Ressorts und über den Stand der Arbeiten informiert wird. Eine wichtige Funktion in beiden Verfahren ist die Konfliktschlichtung und Konsensfindung zwischen den Ressorts. Der Kanzleramtsminister pflegt regelmäßige Kontakte zu den Regierungsfraktionen im Bundestag. Das Kanzleramt ist zudem Schnittstelle für die Beziehungen zum Bundesrat, dem Vermittlungsausschuss und entsendet einen ständigen Vertreter in den Ältestenrat des Bundestages. Auch im Verhandlungssystem des Exekutivföderalismus ist das Kanzleramt Akteur. Der ChefBK bereitet den Bundeskanzler strategisch auf die zunehmend an Bedeutung gewinnenden informalen direkten Verhandlungen mit den Ministerpräsidenten vor. Im Rahmen der Koordinierung der Europapolitik schaltet sich das Bundeskanzleramt bei Fragen grundsätzlicher Bedeutung besonders in die Arbeit des Europäischen Rates ein, an dem der Bundeskanzler mit Sitz und Stimme teilnimmt.

Machtzentralisierung des Bundeskanzleramtes

Die Vergleichende Regierungsforschung zeigt, dass Staats- und Regierungschefs ihre Handlungsspielräume innerhalb der Regierung ausbauen und damit mehr politische Macht an sich ziehen (Bröchler 2016). Der Regierungszentrale als dem zentralen politisch-administrativen Instrument der Regierungsspitze kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Das Bundeskanzleramt hat unter den Bundeskanzlern Gerhard Schröder und verstärkt mit Angela Merkel neue Koordinierungskompetenzen an sich gezogen. Die Machtzentralisierung wird im Leitungsbereich des Kanzleramtes durch den Ausbau der Beauftragtenstellen deutlich. Aus dem Bundesministerium des Innern wurden als Folge der Flüchtlingskrise Kompetenzen in die Regierungszentrale verlagert. Der damalige Kanzleramtsminister Peter Altmaier übernahm im Oktober 2015 zusätzlich zu seiner Funktion als ChefBK auch den Koordinierungsstab Flüchtlingspolitik (KSF). Die Abteilungen 2 (Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik) und 5 (Europapolitik) bringen den Kompetenzzuwachs des Bundeskanzlers und seiner Regierungszentrale auf internationaler Ebene und im Bereich der Europäischen Union zu Lasten des Außenministers zum Ausdruck. Der Zuwachs an Kompetenzen führt zur Zunahme des Personals und erhöhtem Raumbedarf, was sich am geplanten Erweiterungsbau des Bundeskanzleramtes zeigt.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Stephan Bröchler

Fussnoten