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Europa | bpb.de

Europa

Hinsichtlich der historischen Präsenz und Kontinuität des Islams sind in Europa die altansässigen muslimischen Gemeinschaften in den ehemaligen Gebieten des Osmanischen Reiches in Südosteuropa (Balkan, Bosnien-­Hercegovina, Albanien) sowie im russischen Zarenreich (Russland) und in Polen (Nachfahren tatarischer Truppen, Interner Link: Tataren) von der neueren muslimischen Zuwanderung in Mittel-, West- und Südeuropa zu unterscheiden, deren Anfänge ins späte 19. Jh. zurückreichen, die sich verstärkt jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte. Der folgende Überblick konzentriert sich auf diese letztgenannten muslimischen Gemeinschaften. Ihre Beziehung zu Europa war durch zwei zeitlich versetzte, dabei jedoch eng verknüpfte Entwicklungen bestimmt. Zunächst ließ die wirtschaftliche und imperiale Expansion des 19. und frühen 20. Jh. viele Muslime teils zu Untertanen, teils zu Verbündeten und Partnern europäischer Staaten werden und fixierte den Nahen Osten, Nordafrika und viele andere islam. geprägte Regionen polit., wirtschaftlich und kulturell nachhaltig auf die europäischen Metropolen. Die Beziehungen und Orientierungen, die dadurch geschaffen wurden, blieben grundlegend auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die europäischen polit. Imperien lösten sich auf; zugleich aber setzten große Ströme von muslimischen Bildungs- und Arbeitsmigranten und immer wieder auch von Flüchtlingen ein, die nach und nach in unterschiedlichem Maße praktisch alle europäischen Staaten erreichten. So bildeten sich seit dem Zweiten Weltkrieg neue muslimische Migranten-­Gemein­schaf­ten in den Staaten Nord-, Mittel- und Westeuropas und im Mittelmeerraum. – Bildungsmigranten kamen häufig aus eigener persönlicher oder familiärer Initiative, teilweise auch im Rahmen staatlicher und internationaler Programme, die dem Aufbau der Bildungs- und Verwaltungsinstitutionen ihrer Heimatländer dienen sollten. Viele von ihnen etablierten sich auf Dauer, freilich mit unterschiedlichem Erfolg, in den Gastländern. Von ihrer nationalen und ethnischen Herkunft her stellten sie meist eine äußerst heterogene, vorwiegend allerdings urban geprägte Gruppe dar. Sie heirateten häufig in die einheim. Gesellschaft ein und engagierten sich nicht selten in polit. Organisationen des Ziellandes. – Die Arbeitsmigration war zahlenmäßig von ungleich größerem Gewicht. In verschiedenen europäischen Ländern führte der wirtschaftliche Aufstieg seit den 1960 er Jahren zu einem großen Bedarf an Arbeitskräften, der nicht zuletzt auch große Zahlen muslimischer Migranten anzog. Ausschlaggebend für die Wahl des Ziellandes waren meist die histor., polit. und rechtlichen Beziehungen, die das Heimatland mit der ehemaligen Hegemonialmacht oder mit einem ehemaligen Alliierten verbanden. So etablierte sich in manchen Ländern eine klare mehrheitliche Dominanz einzelner ethnisch-­nationaler Herkunftsstaaten. In Großbritannien waren dies Pakistan und Indien, in Frankreich und später auch in Spanien die Staaten des Maghreb, in der Bundesrepublik die Türkei, in Griechenland Albanien. In anderen Ländern wie Belgien und den Niederlanden oder Italien und auch in Skandinavien bildete sich dagegen von Anfang an eine ethnisch sehr heterogene muslimische Bevölkerung ohne klares Übergewicht einer der Herkunftsgruppen. Trotz der Unterschiede in der ethnisch-­nationalen Zusammensetzung vollzog sich der Aufbau der muslimischen Gemeinschaften in den verschiedenen Ländern auffällig parallel, sobald die Migration in größerem Stil einsetzte. Dies war etwa in Spanien und Italien später der Fall als im sonstigen West- und Mitteleuropa. Die Arbeitsmigranten ­kamen vorwiegend aus ländlichen Gebieten ihres Heimatlandes, besaßen selten mehr als eine elementare Schulbildung und waren in starkem Maße durch die heimischen religiösen und familiären Struk­turen geprägt. In den meisten Fällen kamen zunächst nur männliche Arbeitskräfte, die nach mehrjährigem Aufenthalt ihre Familien nachholten. In dieser Phase begann der Aufbau religiöser und ethnisch-­nationaler Vereine und Organisationen, die später vielfach auf die Heimatländer zurückwirkten. Die Versuche der europäischen Länder in den 1970 er Jahren, den Zuzug der Migranten gesetzlich zu stoppen, hatten oft zunächst den gegenteiligen Effekt einer verstärkten Zuwanderung. Hinzu kamen ebenfalls seit den 1950 er Jahren verschiedene Wellen von Flüchtlingen und Asyl­suchenden, die durch die Kriege und politischen Krisen im Nahen und Mittleren Osten (bes. Israel/Palästina, Libanon, Iraq, Türkei, Iran, Afghanistan, neuerdings Syrien) in Europa Zuflucht fanden. Diese Entwicklung hält bis heute an. Zusammen mit dem Erbe der Kolonialherrschaft und den wachsenden politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen im Mittelmeerraum prägt sie in starkem Maße die Entwicklung der muslimischen Gemeinschaften und ihre Beziehungen zu den Staaten und Gesellschaften Europas. – Im Vergleich mit den muslimischen Bildungsmigranten, von denen sich viele in akademischen Berufen und in guten Positionen innerhalb der Wirtschaft und Verwaltung in den europäischen Ländern etablieren konnten, führte die Arbeitsmigration vielfach zur Entstehung großer muslimischer Unterschicht-­Gruppen, teilweise mit eigenen städtischen Siedlungsschwerpunkten, die sich mit der wachsenden Arbeitslosigkeit in Europa seit den 1980 er Jahren weiter verfestigten. Andererseits veränderte sich im Laufe der Zeit vielfach die Alters- und Beschäftigungsstruktur dieser Gruppen. Da der Nachzug jüngerer Erwachsener allmählich stark zurückging, stand nunmehr die Überalterung der Erwachsenen einer zunehmenden Zahl muslimischer Jugendlicher gegenüber, die als Kinder eingewandert oder bereits im Zielland geboren waren. Die Beschäftigung verschob sich hin zu einer wachsenden Selbständigkeit, während die Arbeiterschaft mit der Krise der Montan- und Schwer­industrie in vielen europäischen Ländern nach und nach abnahm. Die Anteile von Arbeitslosigkeit und Bildungsrückstand in den muslimischen, stark von den Herkunftsländern und von transnatio­nalen Lebensformen geprägten Milieus und Stadtvierteln in den ­europäischen Städten bleiben dabei europaweit nach wie vor hoch. – Generell hat sich mit der Konsolidierung und partiellen Einbürgerung großer muslimischer Migrantengruppen auch die Bedeutung des Islams in E. verändert. Während die Religion für die muslimischen Bildungsmigranten in ihrem Bemühen um soziale Integration im Zielland nicht selten in den Hintergrund trat, rückte sie für die Arbeitsmigranten geradezu ins Zentrum ihrer Bemühungen um die Konsolidierung ihrer Gemeinschaften und ­ihrer so­ziokulturellen Identität. Mit dem Nachholen der Familien begann daher auch die Gründung eigener Interner Link: Moscheen, zumeist durch Anmietung von Wohnungen oder leerstehenden Fabrikgebäuden, und der Aufbau islam. Vereine, Organisationen und Verbände. Die Beziehungen der Muslime zu den kommunalen Institutionen und zur Mehrheitsbevölkerung erzwangen dabei nicht selten eine Zusammenarbeit von islam. Gruppen, die sich in ihrer Heimat heftig bekämpften. Dies führte in verschiedenen europäischen Großstädten zur Entstehung bedeutender Anteile muslimischer Bevölkerung (z. B. England 2014: Birmingham 23,6 %, Blackburn 29,1 %, Bradford 22,2 %, Leicester 19,9 %; London 12,4 %; in Belgien Brüssel 2015: 23,6 %). Mittlerweile kann man in verschiedenen europ. Ländern aber auch von der Entstehung und Ausweitung einer muslim. Bildungsschicht sprechen, und der alte Gegensatz zwischen muslim. Bildungs- und Arbeitsmigranten scheint sich mehr und mehr aufzulösen. Mittlerweile haben die Metropolen London und Rotterdam muslimische Bürgermeister (Sadiq Khan, seit 2016; Ahmed Aboutaleb, seit 2008), und viele Muslime sind prominent in europäischen politischen Parteien und in öffentlichen politischen Ämtern vertreten. – Insgesamt verfügen innerhalb der EU die Länder Frankreich (ca. 8,2 %), Schweiz (5,8 %), Belgien (über 5 %), Niederlande (4,9 %), Großbritannien (4,4 %) und Deutschland (3,8 – 4,3 %) über die größten Anteile muslimischer Bevölkerung. Die Regie­rungen und Verwaltungen der europäischen Länder haben unterschiedliche Formen der rechtlichen und kommunalen Anerkennung muslimischer Gemeinden und Verbände entwickelt, die sich an die jeweils etablierten Formen des öffentlichen Rechtes, bzw. des Staatskirchenrechtes anschlossen. Die rechtliche Anerkennung islamischer Gemeinschaften variiert entsprechend zwischen einer In­tegration in die staatlich anerkannten religiösen Denominationen und Verbände (z. B. Belgien, Österreich, Portugal), einer Anerkennung als wohltätige oder kulturelle Vereinigungen (z. B. Irland, Großbritannien, Frankreich, Italien) oder als Vereine oder Stiftungen privaten Rechtes (z. B. Italien, Niederlande, Deutschland, Norwegen). Im Falle von Belgien ist mit dieser An­erkennung auch die staatliche Finanzierung von Moscheen und anerkannten Imamen verbunden. In Deutschland sind seit 2013 die türkische DİTİB und die Aḥmadīya im Bundesland Hessen als Religionsgemeinschaften anerkannt, was die Kooperation mit dem Bundesland in Fragen des islamischen Religionsunterrichtes ermög­licht. Die Bemühungen islamischer Verbände um eine Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechtes und damit um Gleichstellung mit den Kirchen blieben ansonsten bisher erfolglos. Auch in den Ländern mit Staats- oder Nationalkirchen (z. B. die skandinavischen Monarchien, Großbritannien, Griechenland) treten die muslimischen Gemeinschaften lediglich als eingetragene Vereinigungen auf. Die Bemühungen um eine angemessene Repräsentation der Muslime im öffentlichen Leben führten in Belgien und Frankreich zur Einführung von gewählten Vertretungen (Exécutif des Musulmans de Belgique, gegr. 1998, Conseil Français du Culte Musulman, gegr. 2002). In anderen Ländern fungieren muslimische Dachverbände als Ansprechpartner der jeweiligen Regierungen und als Vertreter muslimischer Interessen in der Öffentlichkeit (z. B. Comisión Islámica de España in Spanien, gegr. 1992, Muslim Council of Britain in England, gegr. 1997). In anderen Ländern wie Deutschland und Dänemark treten mehrere islamische Dachverbände im öffentlichen Leben in Erscheinung. Verschiedene muslimische Länder (Saudi-­Arabien, Golfstaaten, Marokko, Algerien, Türkei, Iran) sind unter den Muslimen in Europa als Förderer von Moscheen und Gemeinschaften mit ihren eigenen religiös-­poli­tischen Zielen und Interessen aktiv. – Die kommunale Integration der verschiedenen muslim. Gemeinschaften bietet bis heute viele Reibungsflächen und Konflikte, ist aber auch Gegenstand weitreichender politischer Initiativen. Fragen der recht­­lichen Anerkennung des Islams, des islamischen Religionsunterrichts und der islamischen theologischen Ausbildung, der medialen Darstellung des Propheten und des Islams sowie der Zulässigkeit des Kopftuches und der Verschleierung für Musliminnen in Schule und öffentlichen Institutionen werden in fast allen europ. Ländern sehr kontrovers diskutiert und sehr unterschiedlich behandelt, da sie vielfach die grundsätzlichen Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung zum Ver­­hältnis von Religion und Staat und zur Religions- und Meinungsfreiheit (z. B. Rushdie, Karikaturenstreit) berühren. Diese Kontroversen sind häufig eng verknüpft mit dem Identitätswandel, den viele europäische Länder und Regionen seit den 1990 er Jahren im Zuge der Globalisierung und des nicht selten mit ihr ­verbundenen kommunalen und wirtschaftlichen Niederganges erfuhren. Ebenso wirkten die Kriege in Nordafrika und im Nahen Osten seit den 1990 er Jahren und der mit ihnen verbundene Aufstieg jihadistischer Bewegungen auch auf Europa zurück, wo der quietistische wie auch der militante Salafismus und zuletzt auch der «Islamische Staat» besonders unter jungen Muslimen und nicht zuletzt unter Konvertiten viele Anhänger finden konnte (vgl. Interner Link: Deutsch­­land). Die spektakulären Anschläge jihadistischer Ak­tivisten und ihrer lokalen Sympathisanten förderten in Ländern wie England, Frankreich, Belgien, Spanien und Deutschland die Wahrnehmung und Behandlung des Islams als Sicherheitsproblem. Sie führten vielerorts zu einer nachhaltigen Schwächung transkul­tu­reller Akzeptanz und zu einer Infragestellung sozialer Förderungsprogramme für Muslime in der Öffentlichkeit. Islamfeind­liche ­Ten­­denzen sind zu einem bedeutenden Faktor für den Aufstieg nationalistischer und rechtsradikaler politischer Strömungen geworden, die freilich in verschiedenen Ländern nach wie vor auf großen Widerstand in der Mehrheitsbevölkerung stoßen. Die Rück­­wirkung politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen und Krisen im südlichen Mittelmeerraum und im Nahen Osten auf die muslimischen Gemeinschaften in Europa, auf ihre durchaus heterogene transnationale Lebenswelt und auf ihre gesellschaftliche Akzeptanz dürfte sich dabei auch in Zukunft fortsetzen.

Autor/Autorinnen:Prof. Dr. Stefan Reichmuth, Universität Bochum, Islamwissenschaft

Quelle: Elger, Ralf/Friederike Stolleis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte - Alltag - Kultur. München: 6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2018.

Fussnoten