Am 18. Dezember 2010 gingen in Tunesien die ersten Menschen aus Protest auf die Straße. Kurz darauf kam es zur Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi in einem Vorort von Tunis. Neben vielen weiteren arabischen Staaten erreichte die Protestwelle bald darauf auch Ägypten und Syrien, wo die Unruhen ab dem 25. bzw. 26. Januar 2011 um sich griffen.
Innerhalb kürzester Zeit und während des gesamten Jahres 2011 breiteten sich die sozialen Unruhen dieser inzwischen als Arabischer Frühling bekannten Protestbewegung in der gesamten arabischen Welt, von Jemen und Algerien über den Irak bis in den Sudan, aus.
Doch ungeachtet der Konsequenzen waren die Ereignisse bis zu einem gewissen Grad auf ähnliche Ursachen zurückzuführen. Junge Menschen strömten in Massen auf die Straßen und forderten ein Ende der Tyrannei und Korruption durch politische Reformen sowie mehr Chancen für junge Menschen durch gesellschaftlichen Wandel.
Viele Filmschaffende aus der Region stellten sich auf die Seite der Demonstrierenden, dokumentierten die Proteste und nahmen sie in ihre Geschichten auf. Der tunesische Regisseur Hamza Ouni begann bereits vor den Ereignissen von 2011 mit den Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm El Gort (2013). Darin portraitiert er das Leben zweier Teenager in Tunesien, die Tag und Nacht für ihren Lebensunterhalt schuften müssen. Wie vielen anderen Menschen in Tunesien bleibt ihnen nur die Wahl zwischen Ausbeutung oder erneuter Arbeitslosigkeit. Obwohl der Film Tunesien vor und nach dem Aufstand gegen Ben Ali zeigt, haben die gesellschaftlichen Veränderungen und die ersten freien Wahlen kaum Auswirkungen auf die Lebensrealitäten der beiden Protagonisten. Die tunesische Filmemacherin Hinde Boujemaa folgt in ihrem Dokumentarfilm It Was Better Tomorrow (2012) der von Armut gezeichneten Tunesierin Aida auf ihrer Suche nach Obdach in einer von Protesten erschütterten Stadt.
Doch viele Filmschaffende setzten sich auch mit den Folgen der Proteste auseinander, die von einer anfänglichen Euphorie über erste Enttäuschungen bis hin zu ausbleibenden Veränderungen reichten. In The Square (2013) dokumentiert Regisseurin Jehane Noujaim die Ereignisse am Tahrir-Platz in Kairo aus der Perspektive ihrer drei Protagonisten. Sie berichten von ihren Erlebnissen im Anschluss an die 18 angespannten, aber auch ausgelassenen Tage, die zum Sturz von Präsident Mubarak und kurz darauf auch zur ersten Ernüchterung anlässlich der ersten Wahlen führten. Auch Viola Shafik folgt in ihrem Dokumentarfilm Arij - Scent of Revolution (2014) vier Protagonisten, allerdings an ganz anderen Orten in Ägypten. Anhand ihrer Lebenswege will die Filmemacherin deutlich machen, wie die Misserfolge der jüngsten Gegenwart mit denen der Vergangenheit verknüpft sind.
Im Unterschied zu Tunesien und Ägypten nahmen die Proteste in Syrien im darauffolgenden Sommer eine völlig andere Wendung. Das harte Vorgehen gegen die Protestierenden mündete in eine endlose Spirale der Gewalt, die das gesamte Land erfasste. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte verloren dabei mehr als 586.000 Menschen ihr Leben
Diese ersten Filme bilden die Brutalität der Regime in aller Deutlichkeit ab und werfen einen erbarmungslosen, aber auch unerschrockenen Blick auf den Konflikt. In The Return to Homs (2013) folgt Talal Derki dem bekannten jungen Torwart Abdul Baset Al-Sarout, der den Fußball gegen Waffen tauscht, um den Kampf gegen das Regime anzuführen, während sich seine Heimatstadt Homs in eine Geisterstadt verwandelt. Die Dokumentation Silvered Water, Syria Self-Portrait (2014) verfolgt einen völlig anderen Ansatz. Die kurdische Lehrerin Wiam Simav Bedirxan hat die Zerstörung der Stadt ebenfalls mit der Kamera dokumentiert und anschließend den im Pariser Exil lebenden Regisseur Ossama Mohammed kontaktiert. Neben ihrem Filmmaterial setzt sich dieser erschütternde Bericht über die grausamen Ereignisse in Syrien nach Angaben der beiden Filmschaffenden ausschließlich aus Handyaufnahmen und YouTube-Videos von 1001 syrischen Männern und Frauen zusammen.
Filmfestivals in aller Wert reagierten mit ihrer Filmauswahl umgehend auf die politischen Ereignisse, die die Region und vor allem Syrien erschütterten. The Return to Homs lief im Januar 2014 in Sundance, nachdem er im November 2013 seine Premiere auf dem International Documentary Festival Amsterdam (IDFA) gefeiert hatte. Silvered Water, Syria Self-Portrait wurde im Mai 2014 auf dem Filmfestival in Cannes uraufgeführt (und war der einzige arabische Film im gesamten Festivalprogramm des Jahres), Haunted (von Liwaa Yazji) auf dem FID Marseille im Juli 2014, The Immortal Sergeant (von Ziad Kalthoum) auf dem Filmfestival von Locarno und der animierte Kurzfilm Suleima von Jalal Maghout bei DOK Leipzig im Oktober 2014. Alle bedeutenden Festivals waren offenbar auf der Suche nach dem nächsten großen Film aus Syrien.
Diese ersten Filme ebneten den Weg für Werke mit längeren Produktionszeiten, die eine andere Form der Finanzierung benötigten. Investor/-innen konnten auf den epischen Charakter einiger Geschichten setzen. Beispielsweise produzierte der britische Channel 4 den Dokumentarfilm For Sama (2019) unter der Regie von Saad al-Kateab und Edward Watts. Darin berichtet Al-Kateab ihrer neugeborenen Tochter Sama von ihren schrecklichen Erlebnissen während der Unruhen in Aleppo. Zwischenzeitlich versuchte sich National Geographic mit Feras Fayyads zweitem Spielfilm The Cave (2019), nachdem der erste Film des Regisseurs Last Men in Aleppo (2017) eine Oscarnominierung erhalten hatte. The Cave ist ein Dokumentarfilm über eine unterirdische Klinik im bereits seit mehr als fünf Jahren belagerten Ghouta. Dort kämpft Dr. Amani Ballour sowohl um das Überleben ihrer Patient/-innen als auch um ihr eigenes Überleben als Ärztin in einer fast ausschließlich von Männern dominierten Gesellschaft. For Sama und The Cave wurden beide für die 92. Oscarverleihung in der Kategorie Bester Dokumentarfilm nominiert.
Viele der genannten syrischen Filmschaffenden haben das Land verlassen und erzählen ihre Geschichten inzwischen aus dem europäischen Exil. Talal Derki ließ sich beispielsweise schon in Berlin nieder, lange bevor die Stadt zu einem Zentrum für syrische Filmschaffende wurde: "Ab 2014 kamen viele syrische Regisseurinnen und Regisseure nach Deutschland, vor allem nach Berlin, das über eine lange Tradition als Zufluchtsort für Kunstschaffende und politisch Verfolgte verfügt."
Die Geschichten, die sie aus dem Exil oder von ihrer Reise in das Exil erzählen, können genauso erschüttern wie die im Bombenhagel verfassten Berichte. Im deutsch-syrischen Dokumentarfilm Purple Sea (2020) entkommt die syrische Regisseurin Amel Alzakout nur knapp dem Ertrinken, als ihr Flüchtlingsboot nahe der Küste von Lesbos kentert. Sie verliert ihr letztes Hab und Gut, doch mit einer am Handgelenk befestigten wasserfesten Kamera dokumentiert sie das lange qualvolle und traumatische Warten auf ihre Rettung aus dem Meer. Der Film hält diese mühevolle Reise bis zu ihrer Ankunft in Berlin und ihrem Wiedersehen mit Ko-Regisseur Khaled Abdulwahed in Bildern fest. "Ich brauchte ein Jahr, um mir die Aufnahmen ansehen zu können. Ehrlich gesagt war es eine Qual, mich damit zu befassen. Doch ich wollte von meinen Erlebnissen berichten. Ich wollte keinen Film über Flüchtlinge machen, die wir überall in den Medien aus unterschiedlichen Perspektiven zu sehen bekommen, weil es mir wichtig ist, uns als Individuen mit eigenen Lebensentwürfen darzustellen. Diesen Blick können die Medien nicht vermitteln, die uns als Gruppe wahrnehmen"
Filmschaffen nach dem Arabischen Frühling
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Rabih El-Khoury ist als Diversity Manager im Team des DFF - Deutsches Filmmuseum & Filminstitut in Frankfurt am Main tätig. Darüber hinaus arbeitet er als Geschäftsführer am Metropolis Art Cinema sowie als Generalkoordinator des arabischen Filmfestivals The Beirut Cinema Days. Er hat über 20 arabische Filmwochen in der arabischen Welt und Europa organisiert. Seit 2014 ist er Programm-Manager von Talents Beirut und Mitglied des Verwaltungsrats der Metropolis Association. Er war außerdem Kurator des Filmpreises der Robert Bosch Stiftung.