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Queere Stimmen | bpb.de

Queere Stimmen

Rabih El-Khoury

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Queere Hauptfiguren sind im arabischen Kino keineswegs eine neue Erscheinung. Im ägyptischen Kino der 1960er- und 1970er-Jahre kamen sie vor allem in stereotypen Rollen zur Erheiterung des Publikums zum Einsatz. Einige Filmschaffende wollten diese Form der Wahrnehmung ändern, darunter Youssef Chahine mit Filmen wie The People and the Nile (1972), Adieu Bonaparte (1985) und mit seiner gefeierten Alexandria-Trilogie Alexandria Why? (1979), An Egyptian Story (1982) und Alexandria Again and Forever (1989) oder Youssry Nasrallah mit seiner schwarzen Komödie Mercedes (1993). Der Journalist und Filmkritiker Adham Youssef schreibt dazu: "Chahine macht deutlich, dass unerwiderte Liebe, Leidenschaft und Herzschmerz auch in gleichgeschlechtlichen und nicht nur in heterosexuellen Partnerschaften vorkommen. Die Kämpfe und Lebenswege seiner Figuren haben nichts mit ihrer sexuellen Orientierung zu tun. Einige haben Erfolg, andere verfallen in Depression, wieder andere sterben."

Allerdings benötigen diese Figuren für ihre Darstellung in ägyptischen Filmen vor allem eine "psychologische Validierung" , stellt Autor und Filmkritiker Joseph Fahim fest. In Marwan Hameds The Yacoubian Building (2006) mussten die "schwulen Protagonisten in ihrer Kindheit einen schmerzhaften sexuellen Missbrauch über sich ergehen lassen, der die sexuelle Orientierung ihrer Figuren begründete", so Fahim. Die Hauptfigur in Hany Fawzys Family Secrets (2013) "begibt sich schließlich in Behandlung und wird auf wundersame Weise von ihrem ‚krankhaften‘ Schwulsein geheilt".

Doch mit dem Arabischen Frühling erhob auch eine neue Generation ihre Stimme, die sich auf viel direktere und persönlichere Weise mit dem Thema Sexualität auseinandersetzt. Und obwohl Homosexualität in den meisten Ländern der arabischen Welt formal noch immer illegal ist, wollten sich diese Filmschaffenden nicht nur ausdrücken, sondern damit auch die gängigen Normen in Frage stellen, gleichzeitig aber auch ihre Identität mit filmischen Mitteln untermauern. Das Persönliche ist bei ihnen auch politisch.

"Im Anschluss an die Dekolonisierung wollten arabische Führer ihren Bürgerinnen und Bürgern weis machen, dass sie nichts wert sind. Doch heute, nach dem Arabischen Frühling und ungeachtet dessen, was im Anschluss daran passierte, bieten die Menschen ihren Regierungen die Stirn, um zu zeigen, dass sie etwas wert sind" 21, so der marokkanische Filmemacher Abdellah Taïa. In seinem autobiografischen Spielfilmdebüt Salvation Army (2013) beschließt Abdellah, der sich wegen seiner Sexualität von seiner Familie und der Gesellschaft zurückgewiesen fühlt, aus Marokko in die liberale Schweiz zu gehen. Dort muss er sich allerdings in ein völlig neues Umfeld einleben, das sich vollkommen von dem in seiner Heimat unterscheidet.

Regisseur Abdulla Al Kaabi aus den Vereinigten Arabischen Emiraten widmet sich den Themen Gender und sexuelle Identität in seinem selbstfinanzierten und vom Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten koproduzierten Drama Only Men Go to the Grave (2016). Er war sich dabei sehr wohl der Tatsache bewusst, dass er sich mit Themen auseinandersetzte, die in seiner eigenen Gesellschaft als ausgesprochen heikel gelten. Allerdings sagt er dazu: "Mit dem Ansprechen von Tabus oder kontroverseren Themen wollte ich einen Dialog in Gang setzen."

Im Libanon wurden in den vergangenen Jahren verhältnismäßig viele LGBTIQ-Filme produziert. In seinem experimentellen Spielfilmdebüt, der deutsch-libanesischen Koproduktion Chronic (2017), adressiert Mohamed Sabbah Privates wie Politisches, wenn er vom Leben in einer bedrückenden Stadt wie Beirut und von der ständigen Auseinandersetzung mit dem Thema Verlust berichtet. Die libanesischen Filmschaffenden Roy Dib und Lara Zeidan haben jeweils den Teddy Award der Berlinale für den besten Kurzfilm für ihre Filme Mondial 2010 (2014) und 3 Centimetres (2018) gewonnen. Im ersten Film nimmt uns Dib mit auf die virtuelle Autofahrt eines schwulen libanesischen Pärchens durch Ramallah, die angesichts der geschlossenen Grenzen in der Realität nicht möglich wäre. Im zweiten Film folgt Zeidan vier Teenagermädchen, die in einem Riesenrad stecken bleiben und sich die Zeit mit intimen Gesprächen und unerwarteten Geständnissen vertreiben.

Doch vor allem in Dokumentarfilmen gewähren libanesische Filmschaffende einen echten Einblick in ihre Sexualität, wenn sie ihre alltäglichen Kämpfe beschreiben und ihre Lebensentwürfe vor der Kamera offenlegen. In seinem Dokumentarfilm Room for a Man (2017) führt uns Anthony Chidiac durch sein Privathaus, das er gemeinsam mit seiner Mutter bewohnt, die seine persönlichen Entscheidungen und seinen queeren Lebensstil nicht billigt. In This Little Father Obsession (2016) konfrontiert Selim Mourad seine Eltern unmittelbar mit seiner sexuellen Orientierung. Und in Here I Am…Here You Are (2017) erzählt Raed Rafei von seiner Fernbeziehung und von den Schwierigkeiten, ein normales Leben als Paar zu führen.

Rabih El-Khoury ist als Diversity Manager im Team des DFF - Deutsches Filmmuseum & Filminstitut in Frankfurt am Main tätig. Darüber hinaus arbeitet er als Geschäftsführer am Metropolis Art Cinema sowie als Generalkoordinator des arabischen Filmfestivals The Beirut Cinema Days. Er hat über 20 arabische Filmwochen in der arabischen Welt und Europa organisiert. Seit 2014 ist er Programm-Manager von Talents Beirut und Mitglied des Verwaltungsrats der Metropolis Association. Er war außerdem Kurator des Filmpreises der Robert Bosch Stiftung.