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Inklusive politische Bildung - inklusive Gesellschaft | bpb.de

Inklusive politische Bildung - inklusive Gesellschaft

Wolfram Hilpert

/ 4 Minuten zu lesen

Inklusion von Menschen mit Behinderung, insbesondere wenn sie sich nur auf den Bildungsbereich fokussiert, kann kaum erfolgreich sein, wenn soziale und ökonomische Ausgrenzungsprozesse nicht in den Blick genommen werden. Auch bei der Planung inklusiver Lernprozesse ist zu berücksichtigen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld sie geschehen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention gab entscheidende Impulse, um die Rechte und die Stellung von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft zu diskutieren. Das Recht auf die Gleichstellung wurde in der UN-Konvention menschenrechtlich begründet und somit einem hohen Wert zugemessen. "Inklusion" wurde seit der UN-Konvention der Leitbegriff dessen, was als gesellschaftliche Aufgabe für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung betrachtet wird, und insbesondere in der Debatte um Bildung relevant. "In der UN-Konvention wird deutlich, dass Inklusion nicht bedeutet, Menschen mit Behinderung an gegebene gesellschaftliche Verhältnisse anzupassen", stellte Karl-Ernst Ackermann (1) fest. "Vielmehr sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse so modifiziert werden, dass Heterogenität akzeptiert wird und Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben."

(© bpb, Swen Rudolph)

Aus der menschenrechtlichen Begründung lassen sich nach Martin Kronauer (2) Rückschlüsse auf die Reichweite des Begriffs "Inklusion" ziehen: Wenn "Inklusion ein Menschenrecht darstellt, kann dieses nicht auf Menschen mit Behinderungen begrenzt werden. […] Denn was für die »Inklusion« von Menschen mit Behinderungen gelten sollte, nämlich dass sie bei Anerkennung ihrer besonderen Bedarfe ihre Lebensziele gleichberechtigt mit allen anderen Menschen verfolgen können, muss für eben jene anderen Menschen mit ihren besonderen Bedarfen gleichermaßen gelten. Auf solche Inklusion aber ist die gegenwärtige Gesellschaft nicht angelegt. Gerade dies müsste deshalb eine der Aufklärung verpflichtete politische Bildung zuallererst zeigen, wenn sie sich nicht von vornherein vom Gedanken einer »inklusiven Gesellschaft« verabschieden will." Für Kronauer kann eine Inklusionspolitik für Menschen mit Behinderung, insbesondere wenn sie sich auf den Bildungsbereich fokussiert, kaum erfolgreich sein, wenn diese sich in einer Gesellschaft vollzieht, die Menschen immer wieder aussortiert und ausschließt. Inklusion darf deshalb nicht nur als eine Aufgabe betrachtet werden, die sich nur auf die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen bezieht, und kann auch nicht auf den Bildungsbereich reduziert werden. Weil die Teilhabe aller als Ideal der Demokratie unverzichtbar ist, aber es eine "inklusive Gesellschaft" als Modell nicht gibt und nicht geben kann, ist es für die politische Bildung unverzichtbar, besonderes Augenmerk auf die Exklusionsprozesse, etwa die Zunahme und zugleich Neukonturierung sozialer Ungleichheiten seit den 80er Jahren, zu richten.

Dass es mit Blick auf "Inklusion" als gesellschaftliches Vorhaben von Bedeutung ist, gesellschaftliche Exklusionsprozesse in den Blick zu nehmen, dies betont auch Karl-Ernst Ackermann. Neben der soziologischen Perspektive, die Martin Kronauer einnimmt, gibt es aber nach Ackermann auch eine sonderpädagogische, die ebenfalls ihre Berechtigung hat. Aus sonderpädagogischer Sicht geht es bei der Diskussion darum, bezugnehmend auf die UN-Konvention Inklusion als ein legitimes Projekt zu erweisen und auf diesem Hintergrund den normativen Anspruch zu formulieren, dass Menschen mit Behinderung als gleichwertig anerkannt werden.

Aus Sicht der Politikdidaktik formulieren Anja Besand und David Jugel (3) eine Definition des Begriffes "Inklusion", die mit den obigen Überlegungen nicht im Widerstreit steht: "Inklusion ist ein in allen gesellschaftlichen Teilbereichen vernetzt verlaufender Wandlungsprozess, der darauf abzielt, jedem Menschen in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen auf Grundlage seiner individuellen Bedarfe Zugang, Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen."

Inklusion als gesellschaftlicher Prozess lässt sich auch für Besand und Jugel nicht auf "Bildung" beschränken. Inklusion ist jedoch als Aufgabe für Bildung, insbesondere aber für die politische Bildung, von hoher Relevanz. Inklusion in der politischen Bildung darf sich allerdings nicht darauf beschränken, "Menschen mit Behinderung als zusätzliche und neu zu adressierende Gruppe anzusprechen. Es reicht nicht, politische Informationsbroschüren in Leichter Sprache anzubieten, wenn es uns gleichzeitig nicht gelingt, angemessene Lernmaterialien für Schülerinnen und Schüler in Haupt-, Real- oder Berufsschulen zu entwickeln." Bei der Entwicklung angemessener Lernmaterialien muss aber die Gefahr der Stigmatisierung vermieden werden. Die Didaktik darf die entstehenden Materialen nicht einer Zielgruppe zuweisen. Sie muss sich gezielt mit den Zugangsschwierigkeiten, die Menschen davon abhalten, sich politisch zu bilden, beschäftigen und Angebote entwickeln, die diese Hürden abbauen. "Die Angebote, die so entstehen, werden nie nur eine der skizzierten Gruppen ansprechen, sondern alle Menschen, die die jeweiligen Zugangsschwierigkeiten teilen."

Wer sich mit "Inklusion in der Bildung" beschäftigt, der darf, darauf weist Ackermann hin, die sich aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit ergebenden Dilemmata nicht außer Acht lassen: Schule hat "auf der einen Seite die gesellschaftliche Funktion von Selektion und Allokation zu erfüllen hat und zur notwendigen Hierarchisierung [wird] hierbei das Leistungsprinzip herangezogen […]. Zugleich kommt ihr aber auf der anderen Seite die Funktion zu, durch Inklusion mehr oder weniger auch gesellschaftliche Kohäsion zu fördern." In der Erwachsenenbildung wiederum kollidiere der Anspruch der Zielgruppenorientierung mit dem Anspruch auf Inklusion. "Zugleich ist fraglich, ob die Forderung nach offenen bzw. inklusiven Angeboten den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen bzw. ihren Teilhabeeinschränkungen immer gerecht wird. Hier ist ein Sowohl-als-auch zu entwickeln, das möglichst allen erwachsenen Menschen die Realisierung legitimer Bildungswünsche ermöglicht und gleichzeitig auch den Menschen Bildungsmöglichkeiten eröffnet, die sich bislang von der allgemeinen Erwachsenenbildung ausgeschlossen fühlen. Inklusion schließt hier Zielgruppenorientierung nicht zwangsläufig aus."

Die zitierten Aufsätze

  1. Kronauer, Martin: Politische Bildung und inklusive Gesellschaft (S.18-29)

  2. Ackermann, Karl-Ernst: Politische Bildung im inklusiven Bildungssystem – grundsätzliche Fragen (S.30-44)

  3. Besand, Anja / Jugel, David: Inklusion und politische Bildung – gemeinsam denken! (S.45-59)

veröffentlicht in dem Kapitel „Inklusive politische Bildung – inklusive Gesellschaft“ des 2015 erschienen Schriftenreihe Bandes 1617

Interner Link: PDF: Didaktik der inklusiven politischen Bildung

Fussnoten