Politische Urteilsbildung ist ein alltäglicher Prozess, den jeder (mehr oder weniger gut) beherrscht, häufig allerdings ohne zu wissen, worauf er dabei zu achten hat und welche Fehler zu vermeiden sind. Es gibt sicherlich viele Formen der Urteilsbildung, hier soll im wesentlichen auf die verantwortliche politische Urteilsbildung eingegangen werden. Politische Urteile zeichnen sich dadurch aus, dass sie Regeln der Klugheit beachten, sich durch große Informiertheit auszeichnen, zweckmäßigen Mitteleinsatz beherzigen, Folgen und Nebenfolgen des Handels beachten und dem Kriterium der Verantwortlichkeit genügen wollen. Dieser hohe Anspruch ist in Gänze sicherlich kaum zu erfüllen. Schraubt man den Anspruch zu hoch, so bewirkt man eher das Gegenteil: Die Urteilenden verzichten darauf, den mit Arbeit verbundenen Prozess der schrittweisen Verbesserung des Urteils zu verfolgen. Ich schlage daher vor, sich an einem einfachen, aber leistungsfähigen Grundmodell der Urteilsbildung zu orientieren, dabei auf typische Fehler zu achten und Wege ausfindig zu machen, wie die immer schon vorhandenen Vor-Urteile schrittweise verbessert werden können, je nachdem, wieviel Zeit zur Verfügung steht und wie arbeitsaufwendig die Schritte der Verbesserung sich gestalten. Eine solche eher pragmatische Vorgehensweise knüpft an das Vorwissen und an die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler an. Im Unterricht lässt sich auf dieser Basis sehr gut zeigen, wo typische Fehler in der Urteilsbildung liegen können und wie man diese überwinden kann. Hinzu kommt, dass ein solches Modell der Urteilsbildung - wenn es den Schülern und Schülerinnen einmal offengelegt und bewusst gemacht worden ist - die Gefahr minimiert, dass um der Durchsetzung von wünschenswerten Ergebnissen willen Indoktrination oder Manipulation von Meinungsbildung im Politikunterricht stattfindet. Denn es geht im schulischen Diskussionsforum nicht darum, vorgegebene Ergebnisse durchzusetzen, sondern vielmehr darum, Schritte aufzuzeigen, wie man zu einem begründeten Urteil kommen kann und wie man die Begründung schrittweise verbessern kann.
In der vorliegenden Unterrichtsreihe kann am Beispiel der politischen Wahlen das Thema bearbeitet werden, das für Jungwähler sicherlich von großer Bedeutung ist: Wie soll ich mich angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl entscheiden? Was und wen soll ich wählen? Es ist selbstverständlich, dass der Lehrer oder die Lehrerin den Schülern oder Schülerinnen nicht vorgeben und vorschreiben darf, was sie zu wählen haben. Die Lehrperson kann den Schülern oder Schülerinnen aber Hilfestellung dabei geben, zu einem begründeten Urteil zu gelangen. Im Kern der politischen Urteilsbildung steht somit ein Entscheidungsproblem, das die Schüler und Schülerinnen schrittweise bearbeiten können, um so zu einem insgesamt begründeten Urteil zu kommen. (Wie sich der einzelne im konkreten Wahlakt entscheidet, bleibt davon unbenommen.)
Ein wünschenswerter Nebeneffekte eines solchen Unterrichtes: Der Unterricht gewinnt nicht nur an Relevanz für das eigene Urteilen und Handeln sondern zudem durch den geregelten Wettstreit der Diskutanten Dramatik, Spannung und Spaß. Bislang werden aus Sorge, die Schüler und Schülerinnen zu manipulieren, Entscheidungsfragen wie diese nach der politischen Wahlabsicht weitgehend ausgeklammert. Insofern verzichtet man aus verständlichen Gründen darauf, im Unterricht selbst Entscheidungsprobleme zu entscheiden. Das Überwältigungsverbot der politischen Bildung wird so beachtet und die Indoktrination wird durch das Aussparen von Entscheidungsproblemen zwar verhindert, aber die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen wird auf diese Weise nicht erhöht. Dieses Defizit kann durch den systematischen Aufbau des Modells der Urteilsbildung im Unterricht überwunden werden. Dies kann am ehesten dadurch geschehen, dass eine Methode der politischen Urteilsbildung erarbeitet und anhand konkreter Fälle eingeübt wird. Deutlich dabei wird, dass die Unterrichtsreihen jeweils ergebnisoffen angelegt sind. Die Unterrichtsreichen dürfen nicht auf ein Endergebnis hin (z.B. Wahl einer bestimmten Partei) festgelegt sein, dies verstößt gegen eine Grundregel der Urteilsbildung: Urteile dürfen nicht vom Endergebnis her aufgebaut sein.
Bei abweichenden oder widersprüchlichen Urteilen kann ein Vergleich durchgeführt werden und auf die Gründe, die zur Abweichung führen hingewiesen werden. Insofern ist dies eine hervorragende Basis, um Differenzen präzise zu verorten und dann möglicherweise Schritte zur Überwindung zu finden, wenn die Gründe für diese Differenzen sich ausräumen lassen.
In der Methode der Urteilsbildung kann systematisch das Gespür dafür gefördert werden, wo Fehler in der Urteilsbildung versteckt sein können. Dieses kritische Bewusstsein zu fördern, ist eine gute Basis dafür, um den Mut zur Entscheidungsfindung zu steigern, die Effektivität der Urteilsbildung selbst zu verbessern und die Attraktivität der politischen Bildung in der Schule zu steigern.
Auf dieser Basis wird es gelingen, ein Qualitätsbewusstsein für gute bzw. bessere Urteile bei den Schülern und bei den Lehrpersonen zu fördern. Dies kann als ein gemeinsames Arbeitsprogramm angesehen werden, an dem Lehrende und Lernende gemeinsam mitarbeiten können. Grundsätzlich haben die Lehrpersonen hier keinen Startvorteil.
Urteilsbildung ist ein sozialer Prozess. Das Urteil des einen kann durch eine kritische Beurteilung des anderen gefördert werden. Auf diese Weise können individuelle Fehleinschätzungen aufgedeckt und stückweise überwunden werden, wenn dies durch Diskussion und Diskurs möglich ist. Durch das Befolgen von gemeinsam aufgestellten Regeln kann das Qualitätsbewusstsein der Urteilenden deutlich angehoben werden. Die Freiheit des Einzelnen kann dadurch gesteigert werden, dass er sich und andere an die Einhaltung der aufgestellten Regeln bei der Urteilsbildung jeweils erinnert und im konkreten Fall auch befolgt.
Die Steigerung des Qualitätsbewusstsein und der Entscheidungsfreiheit führt dazu, dass der Handelnde sich vor Entscheidungsproblemen nicht ängstigen muss, dass er vielmehr seine Unzulänglichkeit eingestehen kann und in Kooperation mit anderen die Defizite gemeinsam beheben kann. Aktives Gestalten der Urteils-Bildung führt dazu, dass die Attraktivität des Unterrichtes deutlich erhöht wird, denn entscheidungsrelevante Probleme werden mit Ernsthaftigkeit im Unterricht behandelt, ohne die Freiheit des Einzelnen zu beeinträchtigen, sondern sie wird elementar gefördert.
In den folgenden Abschnitten sind sieben Regeln zur Urteilsbildung aufgeführt, die mit konkreten Hinweisen für die Schülerinnen und Schüler auch im Arbeitsblatt aufgeführt sind. In der Medienleiste finden Sie einen weiteren Text und ein Schaubild zum Thema.
Literatur
W. Sander: Gerichtshöfe der Vernunft. Wie ist politisch-moralische Urteilsbildung im Unterricht möglich?, aus: Frankfurter Hefte Extra 5: Existenzwissen 1983, S.175-193.
W. Sander, J. Priester: Recht Rechtsprechung Gerechtigkeit. Arbeitsbuch Sozialwissenschaften 2. Opladen 1983, S. 36-53.
W. Sander: Effizienz und Emanzipation - Prinzipien verantwortlichen Urteilens und Handelns. Eine Grundlegung zur Didaktik der politischen Bildung, Opladen: Leske 1984, hier besonders Kap. 5 und 6.
P. Weinbrenner: Politische Urteilsbildung als Ziel und Inhalt des Politikunterrichts, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Politische Urteilsbildung. Aufgabe und Wege für den Politikunterricht, Bonn 1997, S. 73 - 74.
E. Baader: Vom richterlichen Urteil. Köln, Berlin, Bonn, Münster 1989.