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Spitzenkandidaten (bei Europawahlen) | bpb.de

Spitzenkandidaten (bei Europawahlen)

M. Große Hüttmann

S. sind Personen, die an der Spitze (der Wahlliste) einer Partei stehen und sich bei demokratischen Wahlen um das höchste Regierungs- oder Staatsamt bewerben (z. B. Bundeskanzler, US-Präsident). Um in dieses Amt gewählt zu werden, müssen sie zunächst möglichst viele Wählerstimmen auf sich vereinigen und dann bei der Abstimmung (z. B. im Parlament) die notwendige Mehrheit von Abgeordneten hinter sich vereinigen. Der Gewinner einer Parlamentswahl (also die Person bzw. die Partei, die rechnerisch die Mehrheit der Stimmen und Mandate erreicht hat), wird in der Regel, aber jedoch nicht zwingend, als Gewinner am Ende auch das entsprechende Spitzenamt antreten (das kann, abhängig vom Wahlsystem und den verfassungsrechtlichen Vorgaben, jedoch auch eine Person sein, die weniger Stimmen erreicht hat als der rechnerische Wahlsieger; wenn der Zweit- oder Drittplatzierte sich durch Koalitionsbildung die notwendige Unterstützung oder Mehrheit für seine Wahl im Parlament sichern kann, gewinnt er und nicht der numerische Wahlsieger das Amt). Bei den Europawahlen 2014 und 2019 traten viele europ. Parteifamilien erstmals mit S. an. Die Idee von S. wurde geboren und dann umgesetzt in der Erwartung, dass ein von nationalen Wahlen vertrautes Modell, in dem Politiker, die für ihre Parteien als S. antreten und sich um das Amt des Regierungschefs (hier: Präsident der EU-Kommission) bewerben, auch bei den Europawahlen das (mediale) Interesse und die Wahlbeteiligung der Bürger anheben würden. Einzelne Vertreter des Europäischen Parlaments (unterstützt von der EU-Kommission in einer Empfehlung vom 14.2.2018) haben sich für die Übernahme des in der nationalen Politik vertraute Modell der S. stark gemacht. Im EU-Vertrag ist dieses Modell im engeren Sinne jedoch (noch) nicht verankert, das heißt, dass die Einführung des S.-Modells als schleichender Verfassungswandel und inzwischen als eine Art Gewohnheitsrecht beschrieben werden kann (seit Anfang 2020 laufen Überlegungen zur Verstetigung und Reform des S.-Verfahrens). Befürworter von europ. S. verweisen auf die Artikel 17 Absatz 7 des EU-Vertrags, wonach es zunächst die Aufgabe des Europäischen Rates, also des Gremiums der Staats- und Regierungschefs, ist, »dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen (…) einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission« vorzuschlagen; dabei »berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament«. Über diesen Vorschlag stimmt dann das Europäische Parlament (EP) und »wählt« ihn oder sie in das Amt. In einer dem EU-Vertrag angehängten Erklärung Nr. 11 wird diese gemeinsame Verantwortung im Auswahlverfahren eigens betont und festgehalten, dass die Einzelheiten des Konsultationsprozesses »zu gegebener Zeit einheitlich zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat festgelegt werden« können. Bei den Europawahlen 2019 sind folgende Kandidaten für die unterschiedlichen Parteifamilien angetreten: Manfred Weber (Europäische Volkspartei, EVP; dt. CSU-Politiker und Mitglied im Europäischen Parlament), Frans Timmermans (Sozialdemokratische Partei Europas, SPE; niederl. Politiker und Mitglied der EU-Kommission), Ska Keller (Europäische Grüne Partei, EGP; dt. EP-Abgeordnete, zusammen mit Bas Eickhout), Margrethe Vestager (Allianz der Liberalen und Demokraten, ALDE; dän. Politikerin und Mitglied der EU-Kommission; sie war Teil eines 7-löpfigen Teams), Nico Curé (Europäische Linke, Generalsekretär der belg. Gewerkschaft FGBT, zusammen mit Violeta Tomic) und Jan Zahradil (Allianz der Konservativen und Reformer, AKRE; tschech. Abgeordneter im EP). Die Unterstützung für das europ. S.-Modell war in den einzelnen EU-Staaten unterschiedlich stark ausgeprägt (v.a. in Deutschland waren das Interesse und die Erwartungen hoch). Nachdem die Ergebnisse der Europawahlen 2019 vorlagen und die sozial- und christdemokratischen Parteien nicht mehr, wie noch 2014, eine »große Koalition« rechnerisch zustande bringen konnten, fehlte dem eigentlichen »Wahlsieger« Manfred Weber (EVP) die unterstützende Mehrheit im Parlament. Das EP und seine Fraktionen konnten sich auch nicht auf einen anderen Spitzenkandidaten einigen, sodass die Staats- und Regierungschefs – anders als noch 2014 – einen größeren Handlungsspielraum bei der Präsentation ihres Personalvorschlags für sich in Anspruch nehmen konnten. Auf dem EU-Gipfel Anfang Juli 2019 verständigten sie sich dann auf ein Gesamtpaket für alle neu zu besetzenden EU-Spitzenposten (inklusive eines Vorschlags für den EP-Präsidenten, obwohl dies nicht zu ihrer Aufgabe gehört). Die insbesondere vom franz. Präsidenten Emmanuel Macron unterstützte CDU-Politikerin und dt. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wurde dann (ohne die Stimme von Bundeskanzlerin und Parteifreundin Merkel) vom Europäischen Rat als Kandidatin für den Posten der Kommissionspräsidentin benannt und vom EP im Juli 2019 mit knapper Mehrheit gewählt. Da eine Politikerin, die nicht als S. bei den Europawahlen angetreten ist (die aber gleichwohl aus der Parteifamilie kommt, die »Wahlsiegerin« war), am Ende das Rennen gemacht hat, hat in vielen EU-Staaten (insbesondere auch in Deutschland) und vor allem im Europäischen Parlament zu großem Unmut und zu erheblicher Frustration geführt. Dies hat die Debatte um eine mögliche Reform des Systems angeheizt und die Frage aufgeworfen, ob und wie der Europäische Rat politisch und rechtlich gezwungen werden kann, am Ende nur einen Kandidaten dem Parlament vorzuschlagen, der tatsächlich bei den Europawahlen als S. angetreten ist. Bei diesem Streit geht es letztlich auch um die Frage, ob die EU ein ›normales‹ (bundesstaatsähnliches) politisches System ist, in dem die in der nationalen Politik vertrauten Verfahren und Prinzipien der Besetzung von Spitzenposten zum Zuge kommen (müssen) oder ob die Europäische Union in politisch sensiblen Personalfragen noch immer deutliche Züge eines Staatenbundes trägt, in dem die intergouvernementale Zusammenarbeit prägend ist und die Regierungen der Mitgliedstaaten die alles entscheidenden Akteure sind und eine vollständige Parlamentarisierung und Europäisierung der Europawahlen, z. B. mit transnationalen Listen, (noch) nicht möglich ist.

Literatur

  • S. Fotopoulos: What sort of changes did the Spitzenkandidat process bring to the quality of the EU’s democracy?, in: European View, H. 2/2019, S. 194-202

  • Y. Nasshoven: »To be or not to be?« Das Spitzenkandidatenprinzip in der Europawahl 2019 und zukünftige Szenarien, in: integration, H. 4/2019, S. 262–279.

  • N. Penalver García/J. Priestley: The Making of a European President, London 2015.

  • L. Tilindyte: Election of the President of the European Commission. Understanding the Spitzenkandidaten process, European Parliamentary Research Service, Briefing, April 2019, Brüssel (Download: www.europarl.europa.eu/thinktank).

aus: Große Hüttmann / Wehling, Das Europalexikon (3.Auflage), Bonn 2020, Verlag J. H. W. Dietz Nachf. GmbH. Autor des Artikels: M. Große Hüttmann

Siehe auch:

Fussnoten

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