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Bürgerinitiativen | bpb.de

Bürgerinitiativen

Bernd Guggenberger

Der Begriff Bürgerinitiative (Bi.) kann als eine besonders gelungene Hervorbringung der jüngeren politischen Semantik gelten. Dabei ist nicht zu übersehen, dass der Wortbestandteil „initiativ“ nicht allein beschreibend, sondern auch normativ gemeint ist: Es wird als demokratiepolitisch erwünscht vorausgesetzt, dass der Bürger die Initiative ergreift. In der Praxis allerdings waren – seit Bi., dem Begriff wie der Sache nach, in den späten 60er-Jahren (in der Nachfolge der Wählerinitiativen und gelegentlich auch gestützt auf amerikanische Vorbilder) in der BRD aufkamen und in den 70er- und 80er-Jahren rasche Verbreitung fanden – viele „Initiativen“, genauer besehen, eher „Reaktiven“; d. h. sie reagierten auf öffentliche Planungen, auf umstrittene Großprojekte, auf Fehler oder Versäumnisse in kommunalen Handlungsfeldern. Mehr als auf spezifische Inhalte zielt der Begriff auf den Aspekt des unmittelbaren Tätigwerdens des Bürgers ab, der sich mit einem konkreten Anliegen unmittelbar zu Wort meldet und sich nicht mehr allein von Parteien und Verbänden vertreten lässt.

Definition

Bi. sind spontane, zeitlich meist begrenzte, organisatorisch eher lockere Zusammenschlüsse einzelner Bürger und Bürgergruppen, die sich, außerhalb der etablierten Beteiligungsformen der repräsentativen Parteiendemokratie, zumeist aus einem konkreten Anlass, häufig auch als unmittelbar Betroffene zu Wort melden und sich – sei es direkt im Wege der Selbsthilfe, sei es „indirekt“ im Wege der öffentlichen Meinungswerbung und der Ausübung politischen Drucks – um Abhilfe im Sinne ihres Anliegens bemühen. Charakteristisch für Bi. sind gerade ihre amöbenhafte Unabgeschlossenheit, ihre organisatorische Vielgestalt sowie die Vielfalt möglicher Zielsetzungen: Bi. kommen und gehen, sie haben in der Regel einen konkreten, eng begrenzten Aktionsanlass, und sie lösen sich häufig bald auch wieder auf, wenn ihre Bemühungen scheitern oder wenn sie erfolgreich waren (– jedenfalls galt dies für die Bi. der „ersten Generation“). Ihre Attraktivität beruht nicht zuletzt darauf, dass jeder sie „machen“ und dass nahezu jedes denkbare Anliegen zum Gegenstand einer Initiative werden kann. Sie sind meist lockere Interessenkoalitionen und partielle Aktionsgemeinschaften, deren Zusammenhalt zunächst eher negativ begründet ist – durch Gefahr und Missstand, die man gemeinsam wahrnimmt und bekämpft: die geplante Bahnhofs- oder Flughafenerweiterung, die Mülldeponie, das Kohle- oder Kernkraftwerk, die Theaterschließung, unzureichende Krankenversorgung, fehlende Bildungs-, Sport- und Freizeitmöglichkeiten, Wohnraumzerstörung, Landschaftszersiedelung, umweltbelastende Großtechnologie, weite Schulwege u. v. a. m.

Umfang und Reichweite

Seit Beginn der 70er-Jahre entwickelte sich die Bürgerinitiativbewegung in Reaktion auf eine fortschritts- und wachstumsfixierte Planungs- und Modernisierungspolitik zu einem partizipatorischen Flächenbrand. Die Angaben über den Umfang von Bürgerinitiativ-Aktivitäten im Beobachtungszeitraum von 1972 bis 1980 wiesen ganz erhebliche Unterschiede auf: zwischen 1000 und 50.000 bewegten sich die Schätzungen über die Gesamtzahl von Bi., zwischen 1,3 % und 12 % schwankten die Angaben über den durch Umfragen ermittelten Anteil von Mitgliedern in Bi. an der erwachsenen Gesamtbevölkerung. Realistischerweise wird man – in diesem Zeitraum – von einer Gesamtzahl von eher 1000 bis 1500 präsenten Einzelinitiativen ausgehen können. Gleichwohl dürfte hierbei die Gesamtzahl der Bürger, die, sei es als aktive Mitglieder, sei es anlassbedingt als teilaktive Sympathisanten, in Bi. arbeiten oder gearbeitet haben (und damit das „Modell Bi.“ aus eigener Erfahrung kennen), die Gesamtzahl aller Mitglieder der im Bundestag vertretenen Parteien deutlich übertreffen. Bedeutet dieses massenhafte „Ausweichen“ auf freie Mitarbeit in ad-hoc gegründeten Initiativen im Hinblick auf die Parteiendemokratie und ihre eingefahrenen Modalitäten der Willensbildung als solches schon eine Art „politischer Kulturrevolution“, so verstärkt sich dieser Eindruck noch, wenn man Qualität und Intensität des Engagements miteinbezieht. Man kann davon ausgehen, dass die Aktivitätsrate in Bi. ungleich höher ist, da ihre Durchschlagskraft und Erfolgschance unmittelbar vom persönlichen Engagement jedes Einzelnen abhängen.

Die hohe Attraktivität der Bürgermitwirkung in freien Initiativen wird noch deutlicher, wenn man neben der faktischen auch die erklärte Partizipationsbereitschaft ins Kalkül zieht: über 60 % der bundesdeutschen Wahlbevölkerung sind bereit, sich in Verbindung mit bestimmten Fragen und Problemen von hohem Betroffenheitsgrad (wie beispielsweise bei der Kernenergie, dem Kohleausstieg oder dem Engagement für den Frieden, dem Erhalt der Natur, dem Arten- und den Klimaschutz) auf Seiten der Bi. zu engagieren.

Ursachen, Anliegen und Politikstil

Gewiss hat es in der Geschichte der politischen Einspruchs- und Widerstandsbewegungen schon immer den Bi. vergleichbare Phänomene gegeben. Doch in der Massierung und Häufung seit den frühen 70er-Jahren erscheinen sie als Indikatoren einer Krise, die sich aus objektiven und subjektiven Quellen speist: der – jedenfalls in eklatanten Fällen – objektiven Verschlechterung der sozialen und natürlichen Umweltsituation als Folge von Vermassungs-, Verdichtungs- und Beschleunigungsphänomenen der modernen Industriezivilisation auf der einen und der veränderten Bewusstseinslage des kritischen und engagementbereiten Bürgers auf der anderen Seite; eines „aktiven Bürgers“, der sich mit Sensibilität und eigener Urteilskraft wider die Sachzwangberufungen der etablierten Politik zur Wehr setzt und Gesichtspunkte einer ökologischen und sozial-humanen Gestaltbarkeit geltend macht. Die gesteigerte Aufmerksamkeit, die der kommunalen Politik zuteil wird, hat vor allem damit zu tun, dass hier nicht nur Fehlentwicklungen am deutlichsten sichtbar werden, sondern auch unmittelbare Ansatzpunkte für direkte politische Mitsprache und Einmischung gegeben sind.

Die Aktivitätsbereiche von Bi. sind vielfältig: knapp 60 % aller Einzelinitiativen sind im sozio-kulturellen Feld anzusiedeln (Jugendfragen, Randgruppen, Kindergärten und Spielplätze, Schulen, kommunale Kultureinrichtungen, Ausländerintegration, Verkehrs- und Stadtplanung); seit den frühen 80er-Jahren schoben sich – vor allem in Verbindung mit dem Widerstand gegen Atomkraftwerke – die Umwelt-Bi. in den Vordergrund, die bis dahin rund 1/3 aller Initiativen ausmachten. Jede dritte Umwelt-Bi. ihrerseits opponierte gegen die Errichtung eines Kernkraftwerks, so dass der AKW-Widerstand insgesamt über eine längeren Zeitraum einen nicht unerheblichen Anteil am Gesamtpotenzial aller Bi.-Aktivitäten umfasste. Dies hat sich – nach dem unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Fukushima (2011) definitiv vollzogenen Ausstieg aus der Kernenergie – inzwischen bereits deutlich geändert: In den Vordergrund rücken seither die Energiewende- und Klimaschutzinitiativen – bis hin zu den aktuell spektakulärsten Aktionen des Braunkohle-Widerstands im Hambacher Forst und des Fridays-for-Future-Protests gegen die herrschende Klimapolitik.

Das Öffentlichkeitsbild der Bi. wird wesentlich durch die mittlerweile gut organisierten, meist auch überregional tätigen Initiativen bestimmt. Die Arbeit der großen Mehrzahl der „stilleren“ Bi., zumal der vielen Mahn- oder Selbsthilfeinitiativen, findet gegenüber den publikumswirksamen Aktionen der großen „Verhinderungs-Initiativen“ vergleichsweise wenig Beachtung. Dennoch sind auch sie recht erfolgreich: Bis zu 60 % geben an, ihre Zielsetzung erreicht oder wenigstens nennenswerte Teilerfolge erzielt zu haben. Die Erfolgsaussichten einer Bi. sind nach wie vor am größten, wenn sie, meist im überschaubaren Kommunalbereich, kurzfristig erreichbare und möglichst konkrete Einzelziele verfolgt.

Bi. organisieren sich in höchst unterschiedlichen Formen. Am häufigsten finden sich freie, nicht verfasste Gruppierungen; daneben aber auch Stiftungen des privaten Rechts, rechtsfähige und nicht rechtsfähige Vereine im Sinne von § 21 ff. BGB bzw. § 53 ff. BGB, ferner auch sog. „BGB-Gesellschaften“ (im Sinne von § 705 ff. BGB). Ein Spezifikum der Aktivitäten von Bi. besteht darin, dass sie sich, unter Umgehung der üblichen institutionellen Vermittlungsinstanzen der Verbände, Parteien und Parlamente, direkt an die zuständigen Planungs- und Genehmigungsbehörden wenden und diese – vor allem durch die Mobilisierung von Öffentlichkeit – unter Druck setzen. Sie verfügen über eine breite Palette fantasievoller Dramatisierungsstrategien: Happenings, Kostüminszenierungen, Demonstrationen und Betroffenenversammlungen, Presse-und Plakataktionen, Unterschriftenkampagnen u. a. m. Nicht selten zählt auch die „begrenzte Regelverletzung“ (Selbstbezichtigungen, unangemeldete Demonstrationen, Platzbesetzungen, Verkehrsbehinderungen, „Mahnwachen“ und Zahlungsboykotte) zu ihrem Handlungsinstrumentarium.

Entwicklung der Bürgerinitiativbewegung

Die Bürgerinitiativbewegung hat im zurückliegenden Halbjahrhundert eine Entwicklung durchgemacht, die sich – deutlich ablesbar etwa bei den Umwelt-Bi. – in fünf Phasen aufteilen und darstellen lässt: In der ersten Phase (1) dominierte eindeutig die Einzelfall-Orientierung; konkrete, persönliche Betroffenheit löste in den allermeisten Fällen die Aktivitäten aus. Die zweite Phase (2) lässt sich als Phase des Erwerbs von Zusammenhangswissen beschreiben: Man vermutet hinter der Fülle einzelner Missstände, Versäumnisse und Fehlentwicklungen einen gemeinsamen Ursachennenner und beginnt nach Alternativen zum herrschenden Lebens- und Zivilisationsmodell zu suchen. In der dritten Phase (3) werden die theoretisch gewonnenen Einsichten ins Praktisch-Konkrete gewendet und zu programmatischen Forderungen an die Politik verdichtet. Die vierte Phase (4) ist die der organisatorischen und parteipolitisch-ideologischen Formierung des „grünen Protests“; und die fünfte Phase (5) schließlich bringt die endgültige politische Durchsetzung und parteipolitische „Repräsentation“ der Umwelt- und Bürgerbewegung in Landesparlamenten und im Bundestag.

Betrachtet man die beiden letztgenannten Entwicklungsphasen (4 und 5) genauer, so zeigt sich, daß es zunächst nur der kleinere Teil der Bi.-Aktiven war, der sich in „grünen“ Partei- und Wählerinitiativen oder in „Grünen“ bzw. „Bunten Listen“ (bis hin zur Umweltpartei „Bündnis 90/Die Grünen“) unmittelbar auch parteipolitisch konstituierte. Aber eine zunehmende Institutionalisierung, eine Erweiterung des Zielhorizonts und der überregionalen Kooperationsbereitschaft, sowie insgesamt eine Verstetigung ihrer Arbeit ist für die Mehrzahl der Bi. inzwischen durchaus kennzeichnend. Die meisten der Umwelt-Bi. sind inzwischen Mitglieder von Dachverbänden, deren wichtigstem, dem „Bundesverband Bi. Umweltschutz“ (BBU), Mitte der 80er-Jahre über Landesverbände, regionale Zusammenschlüsse und Einzelgruppen bereits etwa 1000 Bürgeraktionen mit mehr als 300.000 Einzelmitgliedern angehörten, die kooperativ angeschlossenen Organisationen noch nicht einmal berücksichtigt. Auch wenn die Zahlen seit den 90er-Jahren hier stark rückläufig sind: die Tendenz zur (über)regionalen Kooperation ist ungebrochen: Arbeiteten 1972 58 % der Bi. noch völlig isoliert, ohne Beziehungen zu anderen Initiativen, so sind seit den 90er-Jahren nur noch 8 % ohne solche Außenkontakte. Auch die Bestandsdauer der einzelnen Bi. hat sich deutlich erhöht. Vergleichbares gilt für die Erweiterung des Zielhorizonts: Nahezu 2/3 der Umwelt-Bi. geben an, dass sie neben konkreten Einzelanliegen auch allgemeine Ziele verfolgen. Für einen gewissen Institutionalisierungs- und Verstetigungstrend sprechen auch Formalisierungserscheinungen wie z. B. Vorstands- und Sprecherwahlen, feste Aufgabenverteilung, professionelle Pressearbeit, Internetpräsenz und die zunehmende Organisation als eingetragener Verein. Die Ausrichtung auf umfassendere Organisationsformen und Aktionsbündnisse erklärt sich vor allem auch im Blick auf die „neuen Themen“ der 90er-Jahre: Geschlechterpolitik, Menschen- und Bürgerrechte, Verfassungsinitiativen, Aktionen zur Friedenspolitik und zur Ausländerintegration, Initiativen der Globalisierungsgegner, Klimaschutzbündnisse, u. a. m. Viele der aktuellen zivilgesellschaftlichen und bürgerrechtlichen Anliegen (einschließlich des verbreiteten NGO-Engagements von Attac bis Amnesty International) zielen primär auf Öffentlichkeit, Transparenz, Barrierefreiheit, Inklusion und die Durchsetzung einer jederzeit aktivierbaren elektronischen „Basisdemokratie“ mit einer Öffnung für fluide, jugend- und szenetypische Interessen und Anliegen.

Hinter diesem jüngsten Aufbruch zeichnet sich eine Art „großer Bürgerinitiative“ für die zivilgesellschaftlich inspirierte Erneuerung der direkten Demokratie durch Elemente der „liquid democracy“ ab; eine neuartige, grenzensprengende Sammlungsbewegung der vom etablierten Partei- und Politikbetrieb Ausgeschlossenen oder Abgestoßenen, die sich in breitgefächerten lokalen und überlokalen Aktionsbündnissen (z. B. „Stuttgart 21“, „Rositzer Bi.“), aber auch in temporären Politik- und Parteiforen wie etwa dem „Forum Grundeinkommen“ oder „Demokratie 3000“ organisier(t)en.

Bürgerinitiativen und repräsentative (Parteien-)Demokratie

Bi. „konkurrieren“ mit den Parteien häufig nicht bloß auf dem Boden einer vom Prinzipiellen her identischen Politik um diese oder jene Einzelverbesserung. Sie stehen in ihrer großen Mehrzahl für das „ganz Andere“ bisheriger Politik: für die Abkehr von der bloßen Klientelpolitik, für das Misstrauen gegenüber der Berufung auf Sachzwänge, oft auch für die Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Planung und Politikanleitung, für die Abwehr von zu vielen und zu schnellen sozialen Wandlungsprozessen, zumal jenen, zu denen die Globalisierung nötigt.

Die Parteien, die Volksparteien zumal (oft aber auch schon die Grünen), erscheinen als Teil jener „großen“ Strukturen, welche von den Bi. negiert werden. Sie sind nach Anliegen und innerem Aufbau in vielfältiger Weise gerade jener Wertewelt verpflichtet, deren Humanverträglichkeit und deren Legitimität von den Bi. in Zweifel gezogen werden. Das Verhältnis Bi./Parteien ist von daher nicht allein in den Kategorien der bloßen Personalkonkurrenz und des einfachen Meinungs- oder Sympathiewettbewerbs zu beschreiben, sondern immer auch in den Kategorien eines schwer überbrückbaren Wert- und Prinzipienkonflikts.

Bi. zielen jedoch keineswegs prinzipiell auf Systemüberwindung. Sie sind als „plebiszitäre Korrektive“ einer basisdemokratischen Beteiligung mit den verfassungspolitischen Leitlinien der repräsentativen Ordnung durchaus vereinbar. Die gesamtstaatliche Repräsentativverfassung kann ihre Vorzüge nur entfalten, wenn dem plebiszitären Element in den gesellschaftlichen Untergliederungen, d. h. in Bürgerzusammenschlüssen, Bewegungen und freien Initiativen ausreichend Spielraum verbleibt.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Bernd Guggenberger

Fussnoten