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Bundespräsident | bpb.de

Bundespräsident

Eckhard Jesse

Struktur des Regierungssystems und Geschichte

Die Rolle des Staatsoberhauptes hängt wesentlich von der Struktur des Regierungssystems ab (vgl. Hartmann und Kempf 2011). In parlamentarischen Monarchien (wie in Großbritannien) ist es der durch Erbfolge ins Amt gelangte Monarch, dem eine integrative und – aufgrund der Parlamentarisierung der Monarchie – überwiegend repräsentative Funktion zukommt. In parlamentarischen Republiken wird das Staatsoberhaupt auf Zeit gewählt – sei es indirekt durch ein Wahlgremium (z. B. in Italien), sei es direkt durch das Volk (z. B. in Österreich). In präsidentiellen Systemen (wie den USA) vereinigt der mächtige Präsident die Funktionen des Regierungschefs und des Staatsoberhauptes in Personalunion. Hingegen zeichnen sich semi-präsidentielle Regierungssysteme durch eine zweipolige Exekutive aus (wie in Frankreich): Dem einflussreicheren Staatspräsidenten steht der Ministerpräsident gegenüber. Konflikte sind jedenfalls unter einer Konstellation der cohabitation programmiert. In Diktaturen kann der Diktator entweder zugleich auch das Staatsoberhaupt sein oder neben sich ein formelles Staatsoberhaupt dulden. D ist der Musterfall einer parlamentarischen Demokratie. Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, der Bundespräsident (Bpr.) ist als Staatsoberhaupt nicht annähernd so einflussreich. Seine Bedeutung unterscheidet sich fundamental von der des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik, der in manchem als eine Art „Ersatzkaiser“ figurierte (Paul von Hindenburg), den Oberbefehl über die Wehrmacht besaß, über ein Notverordnungsrecht verfügte, das Parlament auflösen und den Reichskanzler entlassen konnte.

Im Parlamentarischen Rat wurde die zukünftige Rolle des Bpr. umfassend und durchaus kontrovers erörtert. „Im Ergebnis vermochte sich bei der Ausgestaltung des Bundespräsidentenamtes keine der politischen Grundströmungen entsprechend den ursprünglichen Intentionen durchzusetzen: weder föderalistische Entwürfe noch radikal demokratische und kommunistische Vorstellungen von der herausgehobenen Stellung des Parlaments sowie die während der Beratungen des Parlamentarischen Rats von traditionell liberaler Seite eingeführte Gegenposition eines präsidialen Systems. Aber auch das von den Sozialdemokraten vertretene zeitbedingte Provisoriumskonzept blieb auf der Strecke“ (Lange 1978, S. 651). Letztlich herrschte Konsens darin, die als verhängnisvoll angesehene Rolle des Präsidenten im Vergleich zur Weimarer Republik massiv zu schwächen. Auch und gerade das Beispiel des Bpr. verdeutlicht, dass die Grundgesetzväter und -mütter eine Art Anti-Verfassung zu Weimar anstrebten, fehlen ihm doch wesentliche Funktionen des seinerzeitigen Reichspräsidenten.

Funktionen des Bundespräsidenten

Der Bpr. ist nur mit wenigen und nicht sehr bedeutenden Aufgaben betraut (vgl. GG Art. 54–61). Er repräsentiert D nach innen wie nach außen, vertritt den Bund völkerrechtlich und schließt in dessen Namen Staatsverträge. Faktisch an die Mehrheitsverhältnisse gebunden, schlägt er dem Bundestag einen Kandidaten zur Wahl als Kanzler vor. Zu den staatsnotariellen Pflichten gehören u. a. die Ernennung und Entlassung der Bundesbeamten sowie die Ausfertigung von Gesetzen (vgl. van Ooyen und Möllers 2012). Ob ihm dabei ein materielles Prüfungsrecht zusteht (das formelle Prüfungsrecht steht außer Frage), ist in der staatsrechtlichen Literatur umstritten. Nur wenige Male hat der Bpr. seine Unterschrift unter ein Gesetz verweigert, so Walter Scheel 1976 beim Gesetz zur Erleichterung der Wehrpflicht, so Horst Köhler 2006 beim Gesetz zur Privatisierung der Flugsicherheit. In mehreren Fällen unterschrieben die Bpr. das Gesetz, ohne aber zuvor nicht mit verfassungsrechtlichen Bedenken zu sparen – so Richard von Weizsäcker 1984 bei dem Gesetz über Parteienfinanzierung, so Johannes Rau 2002 bei dem über die Zuwanderung. Der Bpr. hat „auctoritas“, keine „potestas“ (Theodor Eschenburg) Autorität, keine Macht. Der erste Amtssitz des Bpr. ist das Schloss Bellevue in Berlin, der zweite die Villa Hammerschmidt in Bonn. Von dem Recht auf Präsidentenanklage (Art. 61 GG) wurde bisher kein Gebrauch gemacht. Die Ehefrauen der Bpr. nehmen oft karitative Funktionen wahr.

In parlamentarischen Krisensituationen kommt ihm eine gewisse Nothelferfunktion zu. Das Recht, den Bundestag aufzulösen, obliegt ihm lediglich in zwei Fällen. Erreicht der Kandidat für das Amt des Kanzlers im dritten Wahlgang nur die relative Mehrheit der Stimmen, so kann der Bpr. gemäß Art. 63 Abs. 4 ihn entweder ernennen oder den Bundestag auflösen. Der Bpr. hat laut Art. 81 GG die Möglichkeit, unter bestimmten – eng definierten – Voraussetzungen den Gesetzgebungsnotstand zu erklären. Spielten diese zwei Bestimmungen in der Praxis bisher keine Rolle, so wurde der Bpr. aufgrund von Art. 68 GG – nach einer gescheiterten Vertrauensfrage des Bundeskanzlers kann der Bpr. den Bundestag auflösen – dreimal aktiv: 1972, als die Bundesregierung unter Brandt die Mehrheit im Parlament verloren hatte, 1983, als Kohl Neuwahlen anstrebte sowie 2005, als Schröder eine vorgezogene Bundestagswahl ankündigte. 1983 und 2005 war die Mehrheit der Regierung nicht gefährdet (aufgrund der restriktiven Bestimmungen zur Auflösung des Parlaments blieb jedoch nur dieser Umweg übrig). Die von allen wichtigen politischen Verfassungsorganen gewünschte Entscheidung (das fingierte „Nein“ bei der Vertrauensfrage) segnete das Bundesverfassungsgericht mehrheitlich jeweils ab. Die Frage, ob auf diese Weise nicht das Prinzip der Vertrauensfrage missbraucht wird, ist berechtigt. Daher besteht die Debatte über ein Selbstauflösungsrecht des Deutschen Bundestages fort.

Wahlverfahren und Diskussion um Direktwahl

Der Bpr., der bei der Kandidatur das 40. Lebensjahr vollendet haben muss, wird durch die Bundesversammlung auf fünf Jahre gewählt – ohne Aussprache und geheim. Diese setzt sich zusammen aus den Mitgliedern des Bundestages sowie einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, gewählt von den Volksvertretungen der Länder entsprechend den Ergebnissen der letzten Landtagswahlen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl. Dieser Modus hat nicht dazu geführt, dass föderalistische oder regionale Prinzipien solche parteipolitischer Art überlagern. Seit jeher haben die Parteien versucht, diese Wahlen als „Richtungswahlen“ für die jeweils anstehenden Bundestagswahlen zu instrumentalisieren (Decker und Jesse 2013). Zuweilen nimmt die Wahl des Bpr. einen Wechsel im Kanzleramt vorweg (nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse in den Landtagswahlen) – so 1969 mit Gustav W. Heinemann, so 2004 mit Horst Köhler. Manchmal zog der Regierungswechsel im Bund einen Wechsel im Amt des Bpr. nach sich (nicht zuletzt aufgrund des Ausgangs der Bundestagswahlen) – so 1984 mit Karl Carstens, so 1999 mit Johannes Rau.

Seit 1974 findet die Wahl am 23. Mai statt, dem Verfassungstag, seit 1999 wieder in BE (wie bereits zwischen 1954 und 1969), nicht mehr in Bonn. Unmittelbare Wiederwahl ist einmal zulässig, wie das bei Heuss, Lübke, von Weizsäcker und Köhler eingetreten ist. Findet ein Kandidat im ersten oder im zweiten Wahlgang keine absolute Mehrheit, genügt im dritten Wahlgang die relative Mehrheit. Die manchmal ins Spiel gebrachte plebiszitäre Wahl des Bpr. dürfte ambivalent sein. Einerseits: Die veränderte Legitimationsbasis könnte eine unerwünschte Stärkung der Rolle des Bpr. bedingen, wobei es merkwürdig anmutet, eine weithin einflusslose Person durch das Volk wählen zu lassen. Andererseits: Durch die Transparenz fördernde Direktwahl des Bpr. wird die starke Rolle der Parteien und ihren Ambitionen, verdiente Politiker zu „versorgen“, massiv zurückgedrängt. Vielleicht wäre die Direktwahl (für sieben Jahre; ohne Wiederwahlmöglichkeit; auf Vorschlag der Parteien) ein Kompromiss zwischen den streitenden Positionen. Wahrscheinlich überschätzen Anhänger wie Gegner den Modus einer Direktwahl. Die Befürchtungen, die Autorität des späteren Amtsinhabers habe unter einem polarisierten Wahlkampf zu leiden, findet keine Bestätigung aus Ländern mit einer Direktwahl des Staatsoberhauptes. Und die negativen Erfahrungen mit der Präsidentschaft Paul von Hindenburgs in der Weimarer Republik können schwerlich als prinzipielles Argument gegen eine Direktwahl ins Feld geführt werden.

Bisherige Bundespräsidenten

Meistens wurde der Bpr. im ersten Wahlgang gewählt: Theodor Heuss (FDP) 1949 und 1954, Heinrich Lübke (CDU) 1959 und 1964, Walter Scheel (FDP) 1974, Karl Carstens (CDU) 1979, Horst Köhler (CDU) 2004 und 2009, Joachim Gauck (parteilos) 2012 und Frank-Walter Steinmeier (SPD) 2017. Die Wahl von Johannes Rau (SPD) 1999 erfolgte im zweiten Wahlgang. Gustav W. Heinemann (SPD) setzte sich 1969 ebenso wie Roman Herzog (CDU) 1994 und Christian Wulff (CDU) 2010 erst im dritten Wahlgang durch.

Der Sieg Heinemanns über Gerhard Schröder (CDU), dem früheren Innen-, Außen- und Verteidigungsminister, fiel mit 512:506 besonders knapp aus. Theodor Heuss erreichte 1954 mit 85,6 % die größte Mehrheit. Die Autorität des Bpr. als moralische Instanz hängt nicht von der extensiven Wahrnehmung seiner Befugnisse ab. Trotz der eng gesteckten Kompetenzen (deswegen schreckte Adenauer im Jahre 1959 davor zurück, das Amt zu übernehmen, nachdem er zeitweilig derartige Ambitionen gehegt hatte) haben die bisherigen Bpr., die mit dem Amtsantritt ihre Parteimitgliedschaft ruhen ließen, dem Amt ein unterschiedliches Gepräge gegeben. Die ersten beiden Präsidentschaften von Theodor Heuss wirkten stilbildend. Nicht nur „Bilderbuchpräsident“ von Weizsäcker, der schon im Jahre 1974 kandidiert und zuvor – 1969 – beim Wettstreit innerhalb der Unionsfraktion gegen Schröder verloren hatte, ist seine Rolle als Mahner und „Integrator“ gelungen (trotz gestiegener Kritik in der zweiten Amtsperiode), sondern auch seinen Vorgängern Heinemann, Scheel und Carstens sowie seinen Nachfolgern Herzog und Gauck, ebenso – mit gewissen Abstrichen – Rau (vgl. Scholz und Süskind 2004). So umstritten sie vor ihrer Wahl auch waren, so verstanden sie es durch ihre Amtsführung, die Kritik jedenfalls zum Teil zum Verstummen zu bringen (mit der Ausnahme von Lübke in seiner zweiten Wahlperiode). Aus der Autorität des Bpr. leitet sich indirekt die Konsequenz ab, später nicht mehr in die aktive Politik zurückzukehren, allenfalls als elder statesman zu wirken. Alle früheren Amtsinhaber hielten sich an diese ungeschriebene Regel. Während CDU, CSU und FDP Horst Köhler 2004 zum gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Bpr. benannten, favorisierten SPD und Grüne die Professorin für Politikwissenschaft Gesine Schwan. Beide eher parteiferne Persönlichkeiten betrieben eine Art öffentlichen Wahlkampf. Nach der Wahl Köhlers wiederholte sich dieser Vorgang 2009: Erneut gewann Köhler mit knapper Mehrheit.

Ein Jahr später geschah Ungeheuerliches: Der im Volk beliebte Horst Köhler, aber kein Mann der „politischen Klasse“, trat – für alle überraschend – am 31.05.2010 von seinem Amt mit sofortiger Wirkung zurück – wegen der von ihm als ungebührlich empfundenen Kritik an seinen Aussagen zur Interessenwahrnehmung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr, so die Begründung. Jens Böhrnsen, der damalige Präsident des Bundesrates, nahm vorübergehend die Amtsgeschäfte des Bpr. wahr. Als Nachfolger gelangte der von Union und FDP vorgeschlagene bisherige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff ins Amt. Wulff, mit 51 Jahren jüngster Bpr., setzte sich gegen Joachim Gauck durch, den parteilosen Kandidaten der SPD und der Grünen. Das „Ungeheuerliche“ des Jahres 2010 wurde schnell übertroffen. Wulff trat wegen schwerwiegender Vorwürfe – u. a. Vorteilsnahme im Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten – im Febr. 2012 zurück, nachdem die Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Immunität beantragt hatte. Im Febr. 2014 sprach ihn das Landgericht Hannover jedoch vom Vorwurf der Vorteilsgewährung und der Vorteilsannahme frei. Joachim Gauck, gegen dessen Kandidatur Angela Merkel sich zunächst gestemmt hatte, setzte sich 2012 als Nachfolger Wulffs mit den Stimmen der vier demokratischen Parteien – der Union, der SPD, der FDP und der Grünen – klar gegen Beate Klarsfeld durch, die Kandidatin der Partei „Die Linke“. Gauck – erster Leiter der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen – genoss in der Öffentlichkeit über die Parteigrenzen hinweg große Sympathien. Diesen Vorschusslorbeeren wurde er – der erste Bpr. aus den neuen Bundesländern – weithin gerecht. Allerdings kam für ihn wegen seines hohen Alters keine zweite Amtszeit in Frage. 2017 einigten sich die Union, die SPD, die FDP und Bündnis 90/Die Grünen erneut auf einen Kandidaten: den Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (2005–2009, 2013–2017) von der SPD. Diese Einigung in den „Hinterzimmern“ löste zum Teil Kritik aus, nicht wegen der Person Steinmeiers, sondern wegen des Befundes, dass die Union nicht bereit war, einen Gegenkandidaten zu präsentieren. Steinmeier spielte nach den gescheiterten Sondierungsverhandlungen zwischen der Union, der FDP und Bündnis 90/Die Grünen eine tragende Rolle. Er forderte 2017/18 von allen Parteien Gesprächsbereitschaft und unterstützte hinter den Kulissen maßgeblich den Eintritt der SPD in eine erneute Große Koalition.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Eckhard Jesse

Fussnoten