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Bundesstaat/Föderalismus | bpb.de

Bundesstaat/Föderalismus

Uwe Andersen

Begriff und historischer Hintergrund

Bundesstaat (Bs) steht begrifflich zwischen den Polen Staatenbund und Einheitsstaat. Er versucht das Spannungsverhältnis von Vielfalt und Einheit dadurch produktiv zu bewältigen, dass die staatlichen Funktionen territorial aufgegliedert werden auf zwei selbstständige politische Träger, die Gliedstaaten und den Zentralstaat (in D Länder und Bund). Wie die historische Realität zeigt, deckt der Bs-Begriff eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Gestaltungsmöglichkeiten mit stärkerer Orientierung an einem der beiden Pole (konföderaler bzw. unitarischer Bs). Der bundesstaatliche Gehalt eines konkreten politischen Systems kann nie allein aus den normativen Vorgaben (Verfassung) abgeleitet werden, sondern hängt ab von der faktischen Unterfütterung durch die Entwicklungen insbesondere in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die die Dynamik des Bs als eines schwierigen Balanceaktes zwischen beiden Polen prägen.

Bs ist eng mit dem meist umfassender verstandenen Begriff Föderalismus verknüpft. Für den Bs werden prinzipiell zwei Rechtfertigungsgründe genannt. Zum einen ermögliche er in Form von Gliedstaaten die staatlich-institutionelle Repräsentation regionaler Unterschiede, z. B. ethnischer, sprachlicher, kultureller, religiöser Art, und erlaube zugleich eine meist aus ökonomischen, sicherheits- und außenpolitischen Gründen gewünschte höhere Integration in einem größeren Verbund – Zentralstaat. In diesem Begründungsstrang steht die Integrationsaufgabe im Vordergrund, die Berücksichtigung heterogener, regional konzentrierter Interessen und Merkmale, eine Aufgabe, die gerade bei der geschichtlichen Entstehung von Bsen häufig anzutreffen ist. Zum anderen wird die Machtaufgliederung im Dienste der Freiheitssicherung genannt, da mit dem Bs eine vertikale Gewaltenteilung verbunden ist. Im Kontext dieser Begründung werden auch weitere ergänzende bzw. konkretisierende Aspekte genannt wie Subsidiaritätsprinzip, größere Experimentiermöglichkeiten, vermehrte Partizipationschancen sowohl für die Bürger wie für Organisationen – z. B. regionale Parteien und regionale Regierungschancen für die zentralstaatliche Opposition – sowie die Möglichkeit, den Problem- und Protestdruck auf unterschiedliche Ebenen zu verteilen.

Föderalistische Strukturen unterschiedlicher Art haben in der dt. Geschichte eine wichtige Rolle gespielt. Der erste formale Bs als „kleindeutsche Lösung“, das Kaiserreich von 1871, war charakterisiert durch die starke dynastische Komponente, das extreme Übergewicht Preußens mit fast 2/3 der Einwohner und Fläche und eine Finanzverfassung – der Lackmustest der Gewichtsverteilung im Bs –, die das Reich über Matrikularbeiträge als Hauptfinanzquelle zum Kostgänger der Gliedstaaten machte. In der Weimarer Republik wurde der Bs „demokratisiert“ und nunmehr die Zentralstaatsebene zum dominanten Akteur auch in der Finanzverfassung – das extreme Übergewicht Preußens auf der Länderebene aber blieb erhalten. Mit dem Dritten Reich wurden entsprechend der nationalsozialistischen Ideologie die föderalistischen Strukturelemente zugunsten eines rigiden Einheitsstaates beseitigt.

Grundgesetz und Bs

Nicht zuletzt in Reaktion auf den Nationalsozialismus war das Prinzip des Bs nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland kaum umstritten, hatte in der Bevölkerung aber nach Meinungsumfragen nur dürftigen Rückhalt. Es wurde als eines der Staatsstrukturprinzipien im Grundgesetz (GG) verankert und durch die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG normativ überhöht, indem es als Prinzip während der Geltung des GG jeder Änderung entzogen wurde. Ungeachtet der grundsätzlichen Übereinstimmung sowohl zwischen den westlichen Alliierten – trotz unterschiedlicher Motive, z. B. eigene politische Traditionen bei den USA und Wunsch nach Schwächung der dt. Zentralgewalt bei Frankreich – als auch den westdt. Akteuren war die konkrete Ausgestaltung des Bs einer der kontroversesten Punkte bei den GG-Beratungen. Einflussfaktoren waren dabei neben den Vorgaben der Siegermächte der politische Neuaufbau von „unten“, d. h. der Existenzvorsprung der Länder, sowie die unterschiedlichen Parteiorientierungen mit den zentralistischen Traditionen von KPD und SPD auf der einen, den zentrifugalen Tendenzen bei CSU und Zentrum auf der anderen Seite des Spektrums.

Eine weitgehende Vorgabe der Siegermächte war die Auflösung Preußens, womit zwar eine extreme Asymmetrie beseitigt wurde, zugleich aber überwiegend „künstliche“ neue Länder geschaffen wurden, die zudem an der Aufteilung in Besatzungszonen orientiert waren. Von den neu geschaffenen westdt. Bundesländern konnten sich nur BY und die beiden Hansestädte HH und HB auf gewachsene Staatstraditionen stützen, andere, z. B. SH, immerhin an ein historisches Zusammengehörigkeitsgefühl anknüpfen. Der fragile, künstliche Charakter der meisten neu geschaffenen Bundesländer und Zweifel an ihrer Lebensfähigkeit wegen der unterschiedlichen Größenordnung und Ausstattung äußerten sich nicht zuletzt in dem Gebot einer Neugliederung (Art. 29 GG). Das Fehlen grundlegender regional gebundener ethnischer, sprachlicher oder kultureller Unterschiede bedingte auch, dass weniger die Integrationsaufgabe als vielmehr die zusätzliche vertikale Gewaltenteilung die Begründung für den neu geschaffenen Bs lieferte.

Das Bs-Modell des GG war von Anfang an durch einen der dt. Tradition entsprechenden Aufgabenverbund mit unterschiedlichen Schwerpunkten der staatlichen Gewalten bei Bund und Ländern gekennzeichnet. In der Gesetzgebung dominiert der Bund in einem komplexen System mit einer ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes (z. B. Außenpolitik) und der Länder (begrenzt im Wesentlichen auf den Kulturbereich einschließlich Bildungssystem, das Polizei- und Kommunalrecht), mit einer die Regelungstiefe begrenzenden Rahmengesetzgebung des Bundes (z. B. Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes) und einer „konkurrierenden“ Gesetzgebung, bei der es sich tatsächlich aber um eine „alternative“ Gesetzgebung handelt. Zwar können prinzipiell Länder oder Bund tätig werden, die Länder allerdings nur solange, wie der Bund keine Regelungen trifft. Das Eingriffsrecht des Bundes wird zwar an Voraussetzungen gebunden, aber vor allem „die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ (Art. 72 Abs. 2 GG alte Fassung) hat sich als weit geöffnetes Einfallstor für die Bundeskompetenz in diesem materiell außerordentlich breiten Gesetzgebungsbereich erwiesen. Die Kompetenzvermutung zugunsten der Länder bei nicht enumerierten Gesetzgebungsmaterien (Art. 30 GG) hat sich dagegen als eher symbolischer Akt mit begrenzter praktischer Bedeutung herausgestellt.

Auch bei der Verwaltung gibt es eine eigenständige Verwaltung des Bundes (v. a. Verteidigung, Auswärtiger Dienst) und der Länder, aber die Verwaltungsdominanz liegt eindeutig bei letzteren, die die Bundesgesetze zusammen mit den Kommunen im Wesentlichen ausführen. Für die Judikative gilt, dass innerhalb der durchgehenden Instanzenzüge untere und mittlere Instanzen bei den Ländern angesiedelt sind, die obersten Bundesgerichte aber als die entscheidenden Revisionsinstanzen eine bundeseinheitliche Rechtsauslegung garantieren. Das Bundesverfassungsgericht spielt nicht zuletzt als Entscheidungsinstanz bei Bund-Länder-Konflikten über die Verfassungsauslegung eine wichtige Rolle.

Die enge Verbindung zwischen Bund und Ländern wird auch deutlich am Homogenitätsgebot (Art. 28 GG), das die Verfassungsordnung der Länder an die im GG für den Bund vorgegebenen politischen Strukturprinzipien bindet. Für den Grenzfall schwerwiegender Konflikte mit einzelnen Ländern verfügt der Bund sogar über das – bisher noch nie eingesetzte – Instrument des „Bundeszwanges“ (Art. 37 GG), d. h. er kann notfalls gewaltsam vorgehen, bedarf aber dazu der Zustimmung des Bundesrates.

Der Bundesrat, formal ein Organ des Bundes, ist realiter das wichtigste Instrument der Gesamtheit der Bundesländer, ihre Interessen bei der Willensbildung auf der Bundesebene zur Geltung zu bringen. Die Charakteristika des Bundesrates – Besetzung durch die Länderregierungen, unterschiedliches Stimmengewicht – waren in den GG-Beratungen besonders umstritten. Der wichtigste Einflusskanal des Bundesrates ist seine Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Während er bei den „zustimmungspflichtigen“ Gesetzen sogar über eine Vetoposition verfügt, kann sein Einspruch bei anderen Gesetzen von einer entsprechenden Bundestagsmehrheit überstimmt werden. Neben dem Einfluss auf die Gesetzgebung und Verwaltung sind die personalpolitischen Mitwirkungsrechte der Länder von Bedeutung, so z. B. bei der Wahl des Bundespräsidenten und der Richter des Bundesverfassungsgerichts.

Für die Haushalte von Bund und Ländern gilt der Grundsatz, dass sie „selbständig und voneinander unabhängig“ sind (Art. 109 Abs. 1 GG). Bei der Steuergesetzgebung gibt es wiederum eine ausschließliche Gesetzgebung des Bundes (Zölle und Finanzmonopole), ganz überwiegend die konkurrierende Gesetzgebung und schließlich Reservatrechte der Länder und Gemeinden („Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis“ und Hebesätze bei den Realsteuern). Bei Steuern, an deren Aufkommen Länder oder Gemeinden partizipieren, ist wiederum die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Bei der Verteilung des Steueraufkommens (Ertragshoheit) wurde vorläufig ein Trennsystem vorgesehen, dem Bundesgesetzgeber aber aufgegeben, eine endgültige Finanzverfassung erst noch zu schaffen. Für die Finanzverwaltung wurde ein eigenartiges Mischsystem von Bundes- und Landeszuständigkeiten geschaffen, und zwar auf Druck der Alliierten, die gerade bei der Finanzverfassung als zentralem Konfliktfeld zwischen Bund und Ländern zugunsten der Länderinteressen interveniert haben.

Kooperativer Föderalismus und Politikverflechtung

Die im GG angelegte bundesstaatliche Ordnung ist durch die reale Entwicklung zugleich ausgefüllt und modifiziert worden, wobei die Verfassungsreform von 1969 unter dem Stichwort kooperativer Föderalismus einen Einschnitt markiert.

In den 50er- und 60er-Jahren wurden die bestehenden regionalen Unterschiede, z. B. zwischen Stadt und Land oder zwischen den Konfessionen, tendenziell verringert. Vor dem Hintergrund der gewaltigen Aufgaben des Wiederaufbaus und der Bevölkerungsverschiebungen war die Mobilität hoch und die Erwartungshaltung der Bevölkerung stark auf eine wachsende „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ orientiert.

Angesichts der starken Tendenzen in Richtung Parteienstaat musste die bundesstaatliche Realität weitgehend von der Parteienentwicklung beeinflusst werden. Bs und Parteienstaat stehen in einem Interdependenzverhältnis, wobei in der BRD aber der Einfluss des Parteienstaates auf den Bs vorherrschend ist. Im Parteiensystem der BRD haben sich keine spezifischen Länderparteien behauptet, wenn man vom Sonderfall CSU mit starken Bundesambitionen absieht. Die föderalistische Staatsstruktur hat sich allerdings zunehmend auf die innere Struktur von Parteien und auch von Interessengruppen ausgewirkt, insofern die Landesebene zu einem wichtigen Element innerorganisatorischer Gewaltenteilung geworden ist. Die Machtkonzentration auf der Bundesebene in Verbindung mit dem wachsenden Gewicht des Bundesrates hat jedoch dazu geführt, dass auch in den Parteien die Bundesorientierung dominiert und bei der Bildung von Landesregierungen bundespolitische Überlegungen häufig eine zentrale Rolle spielen. Landtagswahlen sind zunehmend, insbesondere bei knappen Stimmenmehrheiten im Bundesrat, als räumlich begrenzte, zwischenzeitliche „Ersatzbundestagswahlen“ behandelt und auch von einem Teil der Wähler so perzipiert worden.

Die besonderen Herausforderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit und die Erwartung der Bevölkerung begünstigten die Verlagerung der Gesetzgebung zum Bund, die v. a. auf der weitgehenden Monopolisierung der „konkurrierenden“ Gesetzgebung durch den Bund beruhte. Wo Landeszuständigkeiten bestanden, gleichwohl aber ein Harmonisierungsbedarf anerkannt wurde, versuchten die Länder, dem durch eine Selbstkoordination als einer „dritten“, im GG nicht vorgesehenen Ebene Rechnung zu tragen. Instrumente waren insbesondere Ministerpräsidenten- und Ressortministerkonferenzen – ein prominentes Beispiel ist die Ständige Konferenz der Kultusminister – sowie Staatsverträge, die allerdings dem Einstimmigkeitsprinzip unterworfen sind. Neben der horizontalen Selbstkoordination der Länder entwickelten sich auf der vertikalen Koordinationsachse eine Mitfinanzierungspraxis des Bundes sowie eine Vielzahl von Bund-Länder-Kommissionen, deren Wirksamkeit aber durch die Notwendigkeit einstimmiger Entscheidungen eingegrenzt wurde. Im Interesse einer Flurbereinigung wurde in der Verfassungsreform von 1969 das neue Instrument der Gemeinschaftsaufgabe geschaffen: „Der Bund wirkt auf folgenden Gebieten bei der Erfüllung von Aufgaben der Länder mit, wenn diese Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist (Gemeinschaftsaufgaben): 1. Ausbau und Neubau von Hochschulen einschließlich der Hochschulkliniken, 2. Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur, 3. Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (Art. 91a Abs. 1 GG). Der Bund trägt dabei die Hälfte bzw. im dritten Fall mindestens die Hälfte der Kosten. Das gesetzlich präzisierte Verfahren für die gemeinsame Rahmenplanung sieht Planungsausschüsse für jede Gemeinschaftsaufgabe vor, in denen jedes Land mit einer Stimme und der Bund mit 50 % der Stimmen vertreten ist und bindende Entscheidungen mit Drei-Viertel-Mehrheit getroffen werden. Neben den Gemeinschaftsaufgaben und weiteren Investitionshilfen des Bundes (Art. 104a Abs. 4 GG) ist in Art. 91b ausdrücklich die Möglichkeit des Zusammenwirkens von Bund und Ländern bei der Bildungsplanung und Forschungsförderung eingeräumt worden.

Die zunehmende Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz wurde partiell dadurch kompensiert, dass regelmäßig die Zustimmung des Bundesrates verlangt und damit die Gesamtheit der Länderregierungen verstärkt beteiligt wurde. Gestärkt wurde die Rolle des Bundesrates auch dadurch, dass der Anteil der zustimmungspflichtigen Gesetze und Gesetzesnovellierungen aufgrund der in ihnen häufig enthaltenen Regelungen des Verwaltungsverfahrens auf über die Hälfte anwuchs. Das von den Verfassungseltern intendierte Ziel, den Verwaltungssachverstand der Länder bei der Gesetzgebung des Bundes zur Geltung zu bringen, wurde durchaus erreicht, führte allerdings zu einer deutlichen Asymmetrie („Verwaltungsföderalismus“) zulasten der Länderparlamente.

Der vorherrschende Trend einer engen Verzahnung von Bund und Ländern zeigte sich auch in der Finanzverfassung. So wurde das Trennsystem bei den Steuererträgen zugunsten eines Verbundsystems aufgegeben, indem in einem ersten Schritt die Einkommen- und Körperschaftsteuererträge zwischen Bund und Ländern aufgeteilt und 1969 auch die Umsatzsteuer zur „Gemeinschaftssteuer“ gemacht wurde („großer Steuerverbund“). Am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer sind Bund und Länder seitdem je zur Hälfte beteiligt (wobei die Gemeinden einen gesetzlich festzulegenden Anteil erhalten), der Anteil von Bund und Ländern an der Mehrwertsteuer ist dagegen entsprechend der Entwicklung ihrer Einnahmen und Ausgaben zu bestimmen und damit zentraler Konfliktgegenstand. Die Komplexität der Finanzverfassung wird schließlich durch sowohl einen horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern als auch einen ergänzenden vertikalen Finanzausgleich zwischen dem Bund und „armen“ Ländern gesteigert. Dabei wird auch der horizontale Finanzausgleich durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates geregelt, was häufig zu einer Koalition zwischen Bund und finanzschwachen Ländern geführt hat.

Der erforderliche Finanzausgleich, die damit verbundene relative Schwäche einiger Bundesländer und Einflussmöglichkeit des Bundes haben wiederkehrend zu Neugliederungsüberlegungen geführt. Nach Initiativen von Teilregionen, die Landeszugehörigkeit zu verändern, hat die sozial-liberale Bundesregierung 1970 eine Kommission eingesetzt, um dem Verfassungsauftrag der Neugliederung zu entsprechen. Die Vorschläge der „Ernst-Kommission“ von 1973 – Reduzierung der Länderzahl auf fünf oder sechs mit Neuordnung v. a. im Norden (Zusammenschluss von SH und HH sowie HB und NI bzw. alternativ ein großer Nordstaat) sowie Mittelwesten (Vereinigung von SL, RP und HE als eine Variante) – sind aber am Beharrungsvermögen der bestehenden Länder, gestützt auf das institutionelle Eigeninteresse von Landespolitikern und -verwaltung sowie das auch in den „Kunstländern“ inzwischen gewachsene Landesbewusstsein der Bevölkerung, gescheitert. 1976 ist der Neugliederungsauftrag des GG in eine Kann-Bestimmung abgeschwächt worden, wobei es sich weiterhin um ein zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz ohne Vetorecht der betroffenen Länder handeln würde, das allerdings der Bestätigung durch Volksentscheid bedürfte.

Mit den Verfassungsänderungen 1969 erreichte die bereits im GG angelegte Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern eine neue Stufe. Als in den 70er-Jahren sich die politische Planungseuphorie im empirischen Test verflüchtigte und das bundesstaatliche System sich in neuen ökonomischen – Erdölkrise – und politischen Herausforderungen – gegensätzliche parteipolitische Mehrheiten in Bundestag und -rat – bewähren musste, wurden Schwachpunkte der starken Politikverflechtung deutlicher herausgearbeitet. In der Literatur werden Tendenzen zur Entmachtung der Parlamente (insbesondere der Länderparlamente), ebenenübergreifende „Ressortkumpanei“, die eine Politikkoordination auf der Bundes- bzw. Landesebene erschwere, Verwischung der Verantwortlichkeiten, die ein Schwarzer-Peter-Spiel begünstige, zugleich aber auch ein Verschieben neuer Anforderungen an die Politik erlaube, sowie insgesamt aufgrund des hohen Konsensbedarfes – de facto Allparteienregierung bei abweichenden Mehrheitsmustern in Bundestag und -rat – eine Strategie der Konfliktvermeidung verbunden mit Innovationsschwäche und politischer Immobilität genannt. Naheliegende Versuche zu einer Politikentflechtung haben zwar in den 80er-Jahren zu verstärkten Diskussionen und vorsichtigen Reforminitiativen geführt, aber die praktischen Ergebnisse (z. B. Graduiertenförderung, Krankenhausneubau) blieben mager. In der Perspektive und Herausforderung der dt. Einheit schien die dt. Bs-Konstruktion neu auf den Prüfstand zu kommen.

Herausforderung der deutschen Einheit und Reformansätze

Auch in der DDR war nach dem Krieg eine Neugliederung in fünf Länder vorgenommen worden, wobei mit BB und teilweise ST zwei Länder aus ehemals preußischen Provinzen neu entstanden. Entsprechend der zentralistischen, Macht konzentrierenden marxistischen Tradition wurden die Länder allerdings schon 1952 konsequenterweise abgeschafft und die DDR als lupenreiner Einheitsstaat mit der organisatorischen Untergliederung in 15 Bezirke etabliert.

Auf die sich abzeichnende dt. Einheit und die damit verbundene Aufgabe der Integration der DDR in den westdt. Bs hat die Bundesregierung mit Überlegungen zu einer Neugliederung der Länder durch Erleichterung des Verfahrens (Art. 29 GG) reagiert. Die westdt. Länder haben die Vereinigung zwar als Chance der „Reföderalisierung“ interpretiert, aber den Weg der Neugliederung sofort abgeblockt. In der DDR gab es eine ambivalente Gemengelage mit einem verständlichen Pendelschlag weg von dem Superzentralismus des alten Systems und in Teilen der Bevölkerung deutlichen Sympathien für die Wiederanknüpfung an alte Länder, die aber überlagert wurden durch die vorrangige Orientierung am Ziel baldmöglichster Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse. Die erste frei gewählte DDR-Regierung entschied sich dann angesichts eines Vorschlagspektrums, das von einem Bundesland DDR bis zu den alten fünf Ländern reichte, für die Wiederherstellung der kurzlebigen Länder der Nachkriegszeit. Diese Lösung war sicherlich die widerstandsärmste, konnte aber unter dem Gesichtspunkt ökonomisch und finanziell autonom handlungs- und lebensfähiger Länder schwerlich befriedigen und musste die Chancen einer umfassenden Neugliederung auch im Westen weiter mindern. Im Einigungsvertrag wurde nur für das wiedervereinigte BE und BB ein vereinfachtes Verfahren vorgesehen, sich auf Wunsch zu einem Bundesland zusammenzuschließen. Die von beiden parteipolitisch unterschiedlich gefärbten Landesregierungen betriebene Vereinigung scheiterte aber 1996 an der Volksabstimmung (negative Mehrheiten in BB und auch in Ost-BE), was die Hoffnungen auf eine weitergehende Neugliederung der Länder weiter reduzierte.

Die durch den Einigungsvertrag vorgegebene Überprüfung der Verfassung hat auch im Bund-Länder-Verhältnis nur zu eng begrenzten Änderungen des GG geführt. So ist u. a. versucht worden, die Expansion des Bundes mittels konkurrierender Gesetzgebung dadurch zu beschneiden, dass die Bedürfnisklausel in Art. 72 Abs. 2 GG restriktiver gefasst (Herstellung nur „gleichwertiger“ Lebensverhältnisse) und bei vermutetem Missbrauch ein Klagerecht vor dem Bundesverfassungsgericht, u. a. auch für die Länderparlamente, fixiert worden ist.

Finanzpolitisch war der zentralstaatlich geregelte horizontale und vertikale Finanzausgleich bereits in der Vergangenheit das Konfliktzentrum zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern und hat auch mehrfach zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts geführt. Mit der Einbeziehung der neuen Bundesländer ist gerade das ökonomische Leistungsgefälle extrem gewachsen. Die anfänglich stark unterschätzte extreme Finanzlast der dt. Vereinigung ist von den westdt. Ländern überwiegend dem Bund zugeschoben worden, wie bereits der Indikator Entwicklung der Staatsverschuldung auf den unterschiedlichen Ebenen zeigt. Der mühsame Kompromiss über den Finanzausgleich ab 1995 verblieb im Rahmen des bisherigen Systems, machte es aber noch komplexer. Die ostdt. Länder wurden ab 1995 voll in den horizontalen Finanzausgleich einbezogen, die damit verbundene erhebliche Finanzbelastung der westdt. Bundesländer wurde durch einen höheren Anteil aller Länder an der Umsatzsteuer zu Lasten des Bundes teilkompensiert. Darüber hinaus leistet auf der vertikalen Ebene der Bund in verschiedenen Formen erhebliche Bundesergänzungszuweisungen nicht nur an die ostdt., sondern auch finanzschwache westdt. Bundesländer. Auf die gegen eine „Übernivellierung“ gerichtete Klage der wichtigsten Geberländer im horizontalen Finanzausgleich hat das Bundesverfassungsgericht 1999 eine Neuregelung erzwungen. In einem eher bescheidenen Reformschritt ist es immerhin schon 2001 gelungen, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in Form eines politischen Kompromisses umzusetzen und dabei den für die östlichen Bundesländer zentralen Solidarpakt II (bis 2019) einzubeziehen.

Die wachsende Kritik – hoher Konsensbedarf und daher Verzögerung notwendiger Entscheidungen, allgemeine Effizienzmängel und fehlende Transparenz – führten 2003 in einem Umfeld vielfältiger Reformansätze vom Sozialstaat bis zum Bildungssystem zu einem neuen Versuch einer „großen Föderalismusreform“. Die Bund-Länder-Kommission unter dem gemeinsamen Vorsitz der politischen Schwergewichte Müntefering (SPD) und Stoiber (CSU) klammerte zwar mit der Finanzverfassung und einer Länderneugliederung von vornherein zwei zentrale Themen aus, gleichwohl war die Reform als Stufenprozess angelegt, und ihr Stellenwert wurde hoch eingeschätzt („Mutter aller Reformen“ – Stoiber). Nachdem der erste Anlauf 2004 insbesondere am Bildungsbereich gescheitert war, wurden mit der Bildung der Großen Koalition nach der Bundestagswahl 2005 neue Rahmenbedingungen geschaffen, und der Kern der Kommissionsergebnisse wurde Teil des Koalitionsvertrages. Mitte 2006 wurde das Ergebnis des mühsamen Kompromissprozesses mit der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit von Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Gemessen an der Vielzahl von Verfassungsänderungen handelt es sich um eine tiefgreifende Reform, ob es sich inhaltlich um eine „große“ Reform handelt, ist umstritten. Der Typus der Rahmengesetzgebung wurde abgeschafft und dafür ein neuer Typus der Abweichungsgesetzgebung eingeführt, der es den Ländern begrenzt auf sechs Politikfelder in den Bereichen Umwelt und Hochschulrecht erlaubt, mit Landesgesetzen von Bundesgesetzen abzuweichen. Neben ihren Kernkompetenzen in Bildung und Kultur haben die Länder eine Reihe zusätzlicher Gesetzgebungskompetenzen erhalten (z. B. Besoldung und Laufbahnrecht der Landesbeamten, Strafvollzug, Versammlungsrecht, Ladenschluss) – tendenziell eine Stärkung der Landesparlamente. Dagegen sind Verbundelemente wie die Gemeinschaftsaufgaben und Investitionshilfen des Bundes („Kooperationsverbot“ im Bildungsbereich) reduziert worden. Die Vetomöglichkeiten des Bundesrates sollten durch eine Verminderung der Zahl zustimmungspflichtiger Gesetze verringert werden. Hauptinstrument ist die Neufassung des Art. 84 GG, der die Ausführung der Bundesgesetze im Normalfall Länderregelungen überlässt. Damit entfällt ein wesentlicher Teil der zustimmungspflichtigen Gesetze, in denen sich das Vetorecht des Bundesrates auf Verwaltungsregelungen des Bundes stützte. Führen Bundesgesetze andererseits zu finanziellen Belastungen der Länder, werden sie nunmehr zustimmungspflichtig.

Im Hinblick auf die Verbindung zur immer wichtiger werdenden EU-Ebene haben die Länder als Bedingung für ihre Zustimmung zum Maastricht-Vertrag von 1992 eine deutliche Stärkung ihrer Position durchgesetzt. Nicht nur sind im neu gefassten Art. 23 GG für die EU u. a. föderative Grundsätze und das Ziel der Subsidiarität festgeschrieben worden, sondern der Bund kann Hoheitsrechte an die EU auch nur mit Zustimmung des Bundesrates übertragen. Die Bundesregierung hat in ihrer EU-Politik die Position der Länder – abgestuft nach der Stärke der Länderkompetenz im bisherigen Bund-Länder-Verhältnis – zu berücksichtigen, im Kernbereich der Landeskompetenzen übernehmen Vertreter der Länder sogar die dt. Verhandlungsführung in der EU. Die lange offene Frage der innerstaatlichen Verteilung von Finanzsanktionen insbesondere der EU bei dt. Vertragsverletzungen ist im GG neu geregelt worden (bei Verletzung der Defizitobergrenze z. B. 65 % Bund und 35 % Länder).

Die einer neuen Bund-Länder-Kommission übertragenen, angesichts unterschiedlicher Finanzstärke der einzelnen Bundesländer besonders schwierigen Verhandlungen über eine bundesstaatliche Finanzreform (Föderalismusreform II) gelangten Anfang 2009 zum Abschluss. Ergebnis war neben kleineren Verbesserungen, u. a. bei der komplexen Steuerverwaltung, insbesondere die Aufnahme einer härteren „Schuldenbremse“ in die Verfassung (Änderung Art. 109, 115 und 143d). Der Bund muss seine Neuverschuldung ab 2016 auf maximal 0,35 % des BIP beschränken. Für die Länder gilt ab 2020 sogar das Verbot einer Neuverschuldung. Ausnahmen sind vorgesehen für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen (z. B. Weltwirtschaftskrise), für die dann ein Tilgungsplan aufzustellen ist. Zudem ist im Konjunkturzyklus bei Abweichungen von der Normallage nach unten eine zusätzliche Neuverschuldung („deficit spending“ nach Keynes) zulässig, die aber in der Hochkonjunkturphase wieder zu tilgen ist. Für die lange Übergangszeit ab 2011 erhalten fünf finanzschwache Bundesländer von Bund und Ländern zu je 50 % getragene Konsolidierungshilfen von 800 Mio. € jährlich. Die Auszahlung der Konsoliderungshilfen wie generell die Haushaltpolitik von Bund und Ländern überwacht ein neu geschaffener Stabilitätsrat, um zukünftige Haushaltsnotlagen zu verhindern. Es handelt sich um eine rein politische Institution, der der Bundesfinanz- und der Bundeswirtschaftsminister sowie die Finanzminister der Länder angehören. Schwachstellen der neuen Konstruktion sind insbesondere eine mögliche breite Interpretation der Ausnahmen, politisch nutzbare schwierige technische Probleme z. B. bei der Diagnose des Konjunkturzyklus und beim „Auswandern“ aus dem Haushalt, unklare Sanktionen und weiche, auf politische Kompromisse orientierte Entscheidungen im Stabilitätsrat. Ein weiteres 2017 verabschiedetes Reformpaket schuf insbesondere neue Rahmenbedingungen für den Finanzausgleich ab 2020. Für finanzielle Zugeständnisse in der Größenordnung von 10 Mrd. € erhält der Bund erweiterte Kompetenzen (bei Fernstraßen, Digitalisierung, Bunderechnungshof). Der Ausgleich der unterschiedlichen Finanzkraft unter den Bundesländern wird über die Verteilung der Umsatzsteuer etwas vereinfacht, und die Bundesergänzungszuweisungen werden ausgebaut.

Ob als dritte Stufe der „Reformrakete“ eine Länderneugliederung duchsetzbar ist, steht aus heutiger Sicht „in den Sternen“. Zwar bewegt sich die dt. Reformdiskussion durchaus in Übereinstimmung mit einem internationalen Trend in Richtung stärkerer Trennelemente und damit größerer Eigenständigkeit von Bund und Ländern, aber die Ergebnisse bleiben ambivalent. So sind durch weitere GG-Änderungen die Möglichkeiten für Investitionshilfen des Bundes und damit Verbundelemente wieder erweitert worden, 2019 im besonders kontroversen „Digitalpakt“.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Uwe Andersen

Fussnoten