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CSU – Christlich-Soziale Union | bpb.de

CSU – Christlich-Soziale Union

Martin Sebaldt

Die CSU und Bayern

Die im Jan. 1946 von der amerikanischen Militäradministration offiziell lizenzierte Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. (CSU) ist traditionell Herzstück eines politischen Gemeinwesens, das in den letzten Jahrzehnten starken Wandlungen unterworfen war: Die bayerische →Gesellschaft ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs säkularer und älter, aber auch ökonomisch fortschrittlicher und zugleich wohlhabender geworden. Diese Trends haben unmittelbare Auswirkungen auf die CSU: Konstant wächst das Durchschnittsalter ihrer Mitglieder, und ein Schulterschluss gelingt ihr am besten mit Bürgern, die ihr Weltbild und ihr politisches Selbstverständnis wie die Partei selbst aus der christlichen Tradition beziehen.

Ist die CSU bei diesen sozialen Trends eher Objekt der Entwicklung, so hat sie die simultane ökonomische Modernisierung Bayerns jedoch maßgeblich selbst bestimmt: Den Ministerpräsidenten Alfons Goppel (1962–1978) und Franz Josef Strauß (1978–1988) gelang der Umbau Bayerns (→Land Bayern) vom Agrarstaat zum modernen Industrie- und Dienstleistungsstandort. Unter Edmund Stoiber (1993–2007) wurde diese Entwicklung weiter vorangetrieben. Zugleich verabschiedete sich das süddeutsche Bundesland vom jahrzehntelangen Status des Nehmerlandes im bundesstaatlichen Finanzausgleich.

Die Beziehungen der CSU zu Bayerns Bürgern sind im Zuge dieser gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse komplexer und brüchiger geworden: Langfristig angelegte Parteibindungen, von denen die Christsozialen vor allen Dingen in den altbayerischen bzw. katholisch geprägten Milieus über Jahrzehnte hinweg profitieren konnten, schwinden zunehmend zugunsten kurzfristig orientierter politischer Einstellungsmuster: Gerade unter den jüngeren, besser gebildeten und urbanen Wählergruppen hat diese Volatilität stark an Bedeutung gewonnen. Die Entwicklung Bayerns zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft, in der auch die Berufsprofile merklich variabler, individueller und von ausgeprägter räumlicher Mobilität getragen sind als in klassischen branchengeprägten Industrietätigkeiten, verstärkt diesen Individualisierungstrend.

Ein erster Warnschuss für die CSU stellte diesbezüglich schon der Verlust ihrer absoluten Mehrheit bei der Landtagswahl 2008 dar. Zwar gewann sie fünf Jahre später mit 47,7 Prozent Stimmanteil zumindest die Mehrheit der Landtagsmandate noch einmal zurück, doch schon bei den Europawahlen 2014 sackte sie deutlich auf 40,5 Prozent ab. Die Bundestagswahl 2017 bescherte ihr dann nur noch 38,8 Prozent, und ihr erneutes Absinken bei den Landtagswahlen 2018 auf nur noch 37,2 Prozent ist klarer Beleg dafür, dass die unangefochtene Dominanz der Christsozialen in Bayern Geschichte ist.

Programmatik

Auf diesem Hintergrund hat die CSU seit ihrer Gründung eine bemerkenswerte programmatische Entwicklung durchlaufen. Schon am bloßen Umfang der Grundsatzdokumente wird das ersichtlich: Umfasste die am Anfang stehende Zehn-Punkte-Erklärung des Jahres 1945 nur ganze zwei Seiten Text, so belief sich das Grundsatzprogramm von 2007 bereits auf knapp 200 Seiten. Die Programme sind inzwischen als konkrete Handlungsleitfäden gefasst, in denen alle wesentlichen Politikfelder abgedeckt und zu denen auch spezifische Lösungsvorschläge formuliert werden. Darin kommt der Volksparteienanspruch der CSU besonders gut zum Ausdruck.

In diesen Grundsatzdokumenten finden sich zum einen programmatische Konstanten, die vor allem das christliche Wertefundament der CSU versinnbildlichen: Unverhandelbar ist für Bayerns Christsoziale zum einen die bayerische Eigenstaatlichkeit. Die Begründung hierfür wird nicht nur in der langen Staatstradition Bayerns gesucht, sondern sie speist sich auch aus den Grundprinzipien der Katholischen Soziallehre, insbesondere dem →Subsidiaritätsprinzip. Der große Stellenwert der christlichen Ethik kommt auch bei zentralen gesellschaftlichen Streitfragen zum Ausdruck, wo die Christsozialen trotz sonstiger deutlicher Programmänderungen auch gegen Zeitgeisttrends an Grundsätzen festhalten: So ist die Position der CSU zum Thema Abtreibung seit Jahrzehnten weitgehend unverändert; liberalen Fristenlösungen hat sie mit Verweis auf ihr christliches Wertefundament stets eine klare Absage erteilt.

Kontinuität ist schließlich – die unmittelbare Nachkriegsphase einmal ausgeblendet – auch bei der Wirtschaftspolitik feststellbar, in welcher die CSU bewusst einen ‚Dritten Weg‘ zwischen zügellosem Liberalismus einerseits und sozialistischer Planwirtschaft andererseits sucht und deshalb seit Jahrzehnten zu den entschiedensten Befürwortern der Sozialen Marktwirtschaft zählt, in der die Grundsätze des freien Marktes sinnvoll mit einer dosierten staatlichen Ordnungspolitik kombiniert werden sollen: So wird auch die wirtschaftspolitische Praxis der bayerischen CSU-Regierungen der letzten Jahrzehnte erklärlich, in welcher die ordnungspolitischen und die Fördermaßnahmen (insb. regionale Strukturförderung) neben der Gewährleistung freier Marktbedingungen immer eine substanzielle Rolle spielten.

An anderen Stellen hat sich die Programmsubstanz aufgrund der schon thematisierten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse allerdings deutlich geändert. So lässt sich in den Dokumenten zum einen eine deutliche Änderung des Frauenbildes erkennen, weg vom traditionellen Verständnis der dominierenden Rolle als Hausfrau und Mutter hin zu einem modernen Rollenbild, in dem die Gleichberechtigung der Geschlechter im Vordergrund steht und das Bestreben, auch den Frauen eine vollwertige Berufstätigkeit zu ermöglichen. Zum anderen wird im Zuge der wachsenden Globalisierung und der fortschreitenden europäischen Integration auch der stark gestiegenen sozialen Mobilität und insbesondere der Herausforderung der Migration (→Migrations- und Integrationspolitik) Rechnung getragen, indem die Partei nun deutlich für eine Begrenzung der Zuwanderung eintritt, um einer multikulturellen Überfremdung vorzubeugen.

Seit Mitte der 70er-Jahre findet darüber hinaus der Umweltschutzgedanke Eingang (→Umweltpolitik). Damit trug die Partei frühzeitig ökologischen Prinzipien Rechnung, wozu die verstärkte Thematisierung des Naturschutzprinzips durch internationale Organisationen und Ökologieverbände ab Beginn der 70er-Jahre maßgeblich beitrug. Jüngere internationale politische Bedrohungsszenarien (Terrorismus, Islamismus, Organisierte Kriminalität) sind in den letzten Programmen ebenfalls schon abgebildet.

Und schließlich sind auch die weltpolitischen Umbrüche seit der Implosion des Ostblocks nicht spurlos an der CSU-Programmatik vorübergegangen: Nahm die Bekämpfung des kommunistischen Feindbilds noch bis in die 80er-Jahre einen prominenten Stellenwert ein, so rückte dies mit dem Verschwinden der mittel- und osteuropäischen Sowjetsysteme in den Hintergrund. Gleichzeitig präzisierte die Partei ihre europapolitischen Positionen, was im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union auch vordringlich wurde. In dieser Phase begann die Partei von pauschalen föderalen Postulaten abzurücken und stellte nun die Bewahrung bayerischer Autonomie in einem zusammenwachsenden Europa in den Vordergrund, freilich auch jetzt nicht ohne Integrationsskepsis.

Seine erste Fortschreibung erfuhr das wegweisende CSU-Grundsatzprogramm von 2007 bereits im Jahre 2013 durch den „Bayernplan“: Bayern sollte ihm zufolge u. a. bis 2030 schuldenfrei sein und Vollbeschäftigung aufweisen, durch Erhöhung des Kindergeldes und der Kinderfreibeträge noch familienfreundlicher werden, die regionale Identität durch die Sicherung bäuerlicher Existenzen und nicht zuletzt durch ein eigenes Heimatministerium festigen und Bayerns Position im Bund durch die Reform des Länderfinanzausgleichs und durch die Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene festigen. Auf dieser Grundlage wurde dann wiederum die Auflage eines neuen Grundsatzprogramms in Angriff genommen, das auf dem Parteitag im Nov. 2016 verabschiedet wurde.

Auch hier bleiben die Christsozialem ihrem programmatischen Markenkern treu, akzentuieren allerdings manches mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen noch stärker als früher und haben das Dokument gegenüber dem letzten Programm auf etwa die Hälfte des Textumfangs eingekürzt. Dadurch liest sich vieles pointierter als früher, und auch sein Titel „Die Ordnung“ ist ein klarer Fingerzeig: Neben den klassischen Plädoyers für ein „freiheitliches Miteinander“ auf Basis der christlich geprägten Gesellschaftsordnung und für die Bewahrung der Sozialen Marktwirtschaft werden nun die Stärkung der hiesigen „Leitkultur“ sowie der Staats- und Rechtsordnung stärker in den Mittelpunkt gerückt. Das gilt auch für die Passagen zur „Friedens- und Sicherheitsordnung“, in denen nicht nur vor einer „zunehmenden Christenverfolgung“ weltweit gewarnt wird, sondern neben der Bekämpfung der internationalen Sicherheitsrisiken auch die Bewältigung des Migrationsproblems und insbesondere die Begrenzung der Zuwanderung noch einmal explizit betont werden. Die unionsinternen Debatten und Kontroversen dazu haben hier also deutliche Spuren hinterlassen.

Strukturen

Herzstück der zehn Bezirksverbände (Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz, München, Oberfranken, Mittelfranken, Unterfranken, Nürnberg-Fürth-Schwabach, Schwaben, Augsburg) und acht Arbeitsgemeinschaften (Junge Union, Frauenunion, Arbeitnehmer-Union, Arbeitsgemeinschaft Landwirtschaft, Kommunalpolitische Vereinigung, Mittelstands-Union, Union der Vertriebenen, Senioren-Union) umfassenden CSU sind die verschiedenen Machtzentren der Partei, zu denen neben der Landesleitung als Parteizentrale auch die CSU-Landtagsfraktion, die Landesgruppe der Partei im Deutschen →Bundestag, ihre Parlamentariergruppe im Europäischen Parlament sowie seit Jahrzehnten auch die Staatskanzlei unter dem jeweiligen CSU-Regierungschef zählen. Bayerns Christsoziale sind also keineswegs eine Parteiorganisation ‚aus einem Guss‘ , sondern ein Komposit aus mehreren Kraftzentren.

Eine auffällige Aufwertung hat dabei zum einen die CSU-Gruppe im Europäischen Parlament (EP) durchlaufen, und dies im Einklang mit der fortschreitenden europäischen Integration und dem Kompetenzgewinn der EU-Abgeordneten. Insbesondere seit der Einführung der Direktwahl des EP 1979 haben sich deshalb immer mehr CSU-Nachwuchspolitiker frühzeitig auf eine Karriere als Europaparlamentarier festgelegt, die im Rahmen der Gesamtpartei längst nicht mehr nur informell Einfluss entfalten, sondern mittlerweile auch als CSU-Gruppe offiziellen Status besitzen, etwa durch die ex officio-Mitgliedschaft ihres Vorsitzenden im Parteivorstand. Der stellvertretende CSU-Vorsitzende Manfred Weber, zugleich Chef der EVP-Fraktion, und der Vorsitzende des CSU-Bezirksverbands Schwaben und frühere Europagruppenchef Markus Ferber sind gute Beispiele.

Das Machtpotenzial der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag ist demgegenüber vor allem von der Verortung des Parteivorsitzenden abhängig. Durch den bundespolitischen Anspruch der CSU und die gewachsene Bedeutung der Bundesgesetzgebung zu Lasten der Länderkompetenzen haben zwar auch die Bundestagsabgeordneten, ähnlich wie ihre ‚europäischen‘ Kollegen, einen Bedeutungszuwachs erfahren. Richtig entfalten können sie ihren Einfluss aber meist nur dann, wenn sich in ihren Reihen auch der Vorsitzende der Partei befindet. Vor allen Dingen zu den Bonner Zeiten von Franz Josef Strauß (1961–1978) und mit Abstrichen auch unter Theo Waigel (1988–1999) wuchs das Machtpotenzial der Landesgruppe gegenüber den landespolitischen Machtzentren – insbesondere dann, wenn die Parteivorsitzenden in einer unionsgeführten →Bundesregierung selbst prominente Ministerämter innehatten. Das galt vor allem für Franz Josef Strauß in seiner Zeit als erfolgreicher Finanzminister der ersten Großen →Koalition 1966–1969, aber auch Theo Waigel profitierte lange Zeit vom Bonus des gleichen Amtes.

Für die CSU-Landtagsfraktion ist demgegenüber das Verhältnis zum jeweiligen bayerischen Regierungschef entscheidend. Auch diese Machtbeziehung kann nicht pauschal qualifiziert werden, sondern ist von mehreren personellen und institutionellen ‚Stellschrauben‘ abhängig. Zum einen ist von Belang, ob der bayerische Ministerpräsident zugleich den Parteivorsitz inne hat; ist dies der Fall, wie unter Franz Josef Strauß (1978–1988), Edmund Stoiber (1999–2007) und Horst Seehofer (2008–2018), ist die Position des Regierungschefs gestärkt, weil er dann sein parteiinternes Patronage- und Disziplinierungspotenzial nutzen kann, um die Willensbildung in der Landtagsfraktion gezielt zu beeinflussen. Gerade der Bundespolitiker Theo Waigel musste in seiner Zeit als Parteichef (1988–1999) dagegen schmerzlich erfahren, nur wenig Einfluss auf die Landtagsfraktion zu besitzen, in der sich Innenminister Edmund Stoiber systematisch zum Nachfolger Max Streibls als Ministerpräsident aufbaute. Für Horst Seehofer galt nach seinem Rücktritt vom Amt des bayerischen Regierungschefs im Frühjahr 2018 mit Blick auf seinen Nachfolger Markus Söder das Gleiche.

Personelle Konstellationen spielen aber eine mindestens ebenso große Rolle. Denn mit einem starken und in der Partei hoch angesehenen Vorsitzenden, wie etwa Alois Glück (1988–2003), kann die Landtagsfraktion selbst gegenüber einem machtvoll agierenden Ministerpräsidenten ein einflussreiches Gegengewicht darstellen. Umgekehrt heißt dies, dass ihr Gewicht gegenüber einem derartigen Regierungschef schwindet, wenn ihre Führung in schwächeren Händen liegt, wie es etwa unter Glücks Nachfolger Joachim Herrmann (2003–2007) geschah. Die Ära Stoiber zeigt jedoch auch, dass sich ein derartiger Bedeutungsverlust der Landtagsfraktion für den Regierungschef langfristig als Bumerang erweisen kann: Vom Ministerpräsidenten gerade seit dem Ausscheiden Glücks zunehmend ignoriert, baute sich in der CSU-Fraktion Schritt für Schritt ein großes Unzufriedenheitspotenzial auf, das maßgeblich zum Sturz Stoibers zu Beginn des Jahres 2007 beitrug. Umgekehrt vergrößern schwache (Max Streibl) bzw. eher moderierende Ministerpräsidenten (Alfons Goppel) den Spielraum der Landtagsfraktion. Der seit dem Frühjahr 2018 amtierende Regierungschef Markus Söder steht dagegen wieder erkennbar in der Tradition von Strauß und Stoiber, und sein personalistischer Führungsstil hat schon jetzt zu Irritationen in der Fraktion geführt, was ebenfalls auffällig an die späte Stoiber-Ära erinnert.

In dieses Machtgefüge sind dann Staatskanzlei und Landesleitung als Kraftzentren des Partei- und Regierungschefs eingebettet – in dieser Verbindung aber nur, wenn beide Funktionen in Personalunion vereinigt sind. Bei einer Ämterfusion hat sich dabei in den letzten Jahrzehnten ein Trend zur Machterosion der Parteizentrale zugunsten der Staatskanzlei ergeben, was sowohl in der Regierungszeit von Franz Josef Strauß (1978–1988) als auch seit der Übernahme des Parteivorsitzes durch Edmund Stoiber (1999–2007) deutlich zu beobachten war. Gerade Stoiber baute die Staatskanzlei systematisch zum eigentlichen Machtzentrum der CSU aus und ließ die Landesleitung entweder durch wenig einflußsreiche (Thomas Goppel) bzw. durch unbedingt loyale (Markus Söder) Generalsekretäre führen. Auch Horst Seehofer folgte in seiner Zeit als Ministerpräsident (2008–2018) mit den loyalen Generalsekretären Alexander Dobrindt (2009–1913), Andreas Scheuer (2013–2018) und zuletzt Markus Blume diesem Muster.

An Gewicht gewinnt die Parteizentrale wieder, wenn beide Spitzenämter getrennt sind. Vor allen Dingen Ministerpräsident Alfons Goppel musste während seiner Amtszeit (1962–1978) regelmäßig erleben, dass der in Bonn sitzende Parteichef Franz Josef Strauß über die Landesleitung versuchte, Einfluss auf die Agenda der bayerischen Staatsregierung zu nehmen. Und auch unter Theo Waigel als Parteichef hatte die Landesleitung zumindest während der Regierungszeit Max Streibls (1988–1993) eine eigenständigere Position.

Herausforderungen

Trotz jahrzehntelanger politischer Erfahrungen, die Bayerns Christsoziale in diesen Machtstrukturen gesammelt haben, steht die CSU doch vor neuen Herausforderungen, die in den überkommenen Handlungsrepertoires nicht oder nur unzureichend abgebildet sind. Vor allem gilt dies für das in Bayern immer noch ungewohnte Koalitionsformat, auf das sich die seit 1966 durchgängig alleine regierende bayerische ‚Staatspartei‘ nach der Landtagswahl 2008 erstmals umstellen musste. Zur Herausforderung geriet dabei zum einen der offensive Führungsstil des neuen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der beim neuen Koalitionspartner →FDP wenig Anklang fand. Hier zeigte sich also bald, dass der für eine erfolgreiche Koalitionsarbeit wichtige kooperative Umgangsstil in der CSU noch ungewohnt war. Freilich trug auch die FDP zu diesen Dissonanzen bei, denn auch sie hatte Schwierigkeiten, ihre öffentliche Profilierung sinnvoll auf die Regierungszusammenarbeit abzustimmen. Zudem wurde die →Koalition seit dem Herbst 2009 von den erheblichen Dissonanzen der neuen schwarz-gelben Regierung auf Bundesebene beeinträchtigt. Gleichwohl stellten sich beide Parteien nach diesen Startproblemen auf das in Bayern ungewohnte Regierungsformat leidlich ein.

Dieser Erfahrungshintergrund hat auch die jüngsten Koalitionsverhandlungen mit den →Freien Wählern (FW) begünstigt, zumal die Wahlprognosen im Unterschied zu 2008 der CSU schon seit dem Sommer 2018 klar den Verlust ihrer absoluten Landtagsmehrheit signalisierten. Die programmatische Nähe beider Parteien und der koalitionsorientierte Pragmatismus der FW um ihren Vorsitzenden Hubert Aiwanger wirkten ebenfalls förderlich, So wurde für die neue Legislaturperiode (2018–2023) eine bürgerliche Regierung aus CSU und Freien Wählern gebildet, die eigentlich ohne große programmatische Probleme regieren kann.

Aber auch aus den jüngeren Wahlkämpfen musste die CSU schmerzliche Lehren ziehen. Zum einen hat sich gerade bei den letzten Bundestagswahlen immer stärker herausgestellt, dass die traditionell unzureichende Koordination der beiden Unionsparteien unter den Bedingungen des Internetzeitalters und der massenmedialen Modernisierung von Wahlkämpfen immer nachteiliger wird: Denn das bietet dem politischen Gegner beste Gelegenheiten, →CDU und CSU gegeneinander auszuspielen, gut ablesbar etwa an den Divergenzen beider Parteien in der →Migrationspolitik.

Auch auf die letzten bayerischen Landtagswahlen strahlten interne Spannungen nachhaltig aus. Denn hier geriet zum einen der fortwährende Machtkampf zwischen Parteichef Seehofer und Ministerpräsident Söder zum Problem, zumal Seehofer sein Amt als bayerischer Regierungschef 2018 nur unter Druck aufgegeben hatte. Zum anderen behinderte Seehofers sprunghafte Amtsführung als Bundesinnenminister seit 2017 die programmatische Positionierung der Christsozialen in Bayern, auch hier insbesondere bei Migrationsfragen. Die Quittung erhielt Seehofer durch die starken Stimmverluste der CSU bei der Landtagswahl 2018, was seine Position als Parteichef irreparabel beschädigte und maßgeblich zu seiner Ablösung beitrug.

Insgesamt betrachtet zeigen die jüngsten Entwicklungen, dass die Zukunft der bayerischen Christsozialen von mehreren Faktoren abhängt: Erstens vom Rollenwechsel weg von der klassischen ‚Staatspartei‘ Bayerns hin zum kompromissbereiten Koalitionspartner, denn dieses Regierungsformat wird Bayern künftig prägen, zweitens von der professionellen Bewältigung innerparteilicher Spannungen, drittens von einer weiteren programmatischen Modernisierung, und schließlich muss auch das Verhältnis zur CDU verbessert werden, um negativen bundespolitischen Ausstrahlungen auf die bayerische Landespolitik zu begegnen.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Martin Sebaldt

Fussnoten