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Familienpolitik | bpb.de

Familienpolitik

Klaus Peter Strohmeier

Was ist und warum gibt es Familienpolitik?

Als Familienpolitik (Fp) bezeichnen wir politische Maßnahmen, die Einfluss auf den Lebenszusammenhang und die Lebensführung von Familien nehmen bzw. nehmen wollen.

Die Begründung staatlicher Fp. ist das Interesse des Staates an den Leistungen der Familie. Seit den 1990er-Jahren (Fünfter Familienbericht (1994) ist das vor allem die seit dem Geburtenrückgang der 1960er-Jahre prekär gewordene Leistung der quantitativen und der qualitativen Sicherung des gesellschaftlichen Nachwuchses. Jede Gesellschaft ist nämlich nicht nur auf Nachwuchs in hinreichender Zahl angewiesen, sondern auch darauf, dass dieser Nachwuchs über die sozialen Kompetenzen und Motive verfügt, die ihn zu sozialem Handeln in den unterschiedlichsten sozialen Handlungsfeldern befähigen und ihn motivieren, diese Gesellschaft fortzusetzen. Zur Bildung dieser elementaren sozialen Kompetenzen und Motive, des „Humanvermögens“, leisten Familien einen entscheidenden und nicht zu ersetzenden Beitrag. Die „Humanvermögensproblematik“ als Begründung für staatliche Fp. ist komplexer als die neuerdings vermehrt zu vernehmenden bevölkerungspolitischen Begründungen für eine Intensivierung der familienpolitischen Bemühungen des Staates.

Der Fp. in der Bundesrepublik geht es seit ihren Anfängen in den 1950er-Jahren in erster Linie um den Ausgleich von Nachteilen. Die Einführung des Kindergeldes 1954 sollte (bei Dominanz von Familien als Lebensform) besondere wirtschaftliche Nachteile kinderreicher Familien ausgleichen. Staatliche Familienpolitik heute will unter Bedingungen von Individualisierung der Lebensführung und Schwinden der Lebensform Familie Nachteile ausgleichen, die Eltern im Vergleich zu Kinderlosen betreffen. Seit etwa einem Jahrzehnt versteht sie sich explizit auch als Bevölkerungspolitik, die besonders Anreize für (mehr) Kinder in den mittleren und oberen Bildungs- und Einkommensschichten setzt, die in höherem Maße als die unteren Schichten kinderlos bleiben. Im europäischen Vergleich haben heute die Staaten die höchsten Geburtenraten, die (mit Betreuungsangeboten und Arbeitszeitregelungen) Frauen (und Männern) die besten Optionen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eröffnen. Hier konvergieren bevölkerungspolitische, geschlechterpolitische und familienpolitische Interessen. Der Siebte Familienbericht (2005) thematisiert die großen Schwierigkeiten der jungen Generation von (prospektiven) Eltern, ein Leben mit Kindern in ihrem Lebenslauf und im Alltag der bundesdeutschen Gesellschaft so zu realisieren, dass sie es wertschätzen können.

Familienpolitik ist Politik für „Familie“ als Lebensform und Politik für einzelne ihrer Mitglieder (Familienmitgliederpolitik). Eine explizite Fp. die sich auch so nennt, gibt es in Europa z. B. in D, Österreich und Frankreich. In den meisten anderen europäischen Ländern gibt es (in jeweils unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Relation) zwar finanzielle Transferzahlungen und staatliche Leistungen und soziale Dienste für Familien und Kinder, ohne dass jedoch damit ein explizites staatliches Interesse an „der Familie“ verbunden wäre, hier sind es vielmehr in erster Linie armutspolitisch, bevölkerungspolitisch, frauenpolitisch oder kinderpolitisch begründete Interventionen des Staates, die Wirkungen auch auf die Familie haben (Kaufmann et al. 1997, 2002). Betrachten wir die faktischen Wirkungen von Politik auf den Alltag und die Leistungen von Familien in Deutschland, so überlagern sich die Ebenen und die Zuständigkeitsbereiche, denn auch Schulpolitik, Verkehrspolitik, Wohnungspolitik, Stadtentwicklung und andere Politikbereiche (zudem auf unterschiedlichen Ebenen, Bund. Land, Kommune) beeinflussen im Sinne von Achingers „entfalteter Sozialpolitik“ (1958) das Leben und die Leistungen der Familie, ohne dass jedoch eine Koordination von Programmen und Aktivitäten stattfindet. Effekte einzelner Maßnahmen sind deshalb kaum zu isolieren. Verstehen wir als Familienpolitik dagegen nur das, wofür die Familienminister zuständig sind, so übersehen wir wichtige Handlungsfelder und wir verwechseln oft Ziele und Aufwand mit den Wirkungen der Politik. Im europäischen Vergleich gibt Deutschland z. B. das meiste für den Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile der Familien aus. Die aktuelle Kinderarmut, die je nach Schätzung jedes 4. bis jedes sechste Kind, in einzelnen Kommunen mehr als jedes dritte trifft (vgl. Externer Link: www.wegweiser-kommune.de) und von der vor allem Kinderreiche und Alleinerziehende und unter diesen besonders die gering qualifizierten betroffen sind, steht in keinem Verhältnis zu diesen Aufwendungen (vgl. „Die ZEIT“, Nr. 29, 11.07. 2019, S. 59).

Ebenen, Interventionsformen und Profile der Familienpolitik

Die staatlichen Maßnahmen, mit denen Einfluss auf das Familienleben genommen wird, lassen sich vier Interventionsformen zuordnen:

  • einer rechtlichen Interventionsform, die Maßnahmen und Regelungen z. B. im Familienrecht, Arbeitsrecht oder Sozialrecht umfasst, die den rechtlichen Status der Familienmitglieder betreffen;

  • einer ökonomischen Interventionsform, die Maßnahmen bezeichnet, die die wirtschaftliche Lage der Familien betreffen (in D ist das in erster Linie der so genannte Familienleistungsausgleich);

  • einer ökologischen Interventionsform, unter die jene Politiken fallen, die die sozialräumlichen Umweltbedingungen der Familien (bzw. ihrer Mitglieder) gestalten, z. B. lokale Angebote sozialer Dienste, Kindergärten, aber auch Wohnungsbauförderung und Wohnumfeldpolitik; und schließlich

  • einer pädagogischen Interventionsform, die Maßnahmen mit Bildungs- und Beratungscharakter bezeichnet, mit denen soziale und personale Kompetenzen und Qualifikationen der Familienmitglieder gefördert werden sollen. Die Interventionsformen sind mit unterschiedlichen Ebenen verbunden: ökonomische und rechtliche Intervention sind Sache des Bundes, ökologische und pädagogische sind (z. T. im Zusammenwirken mit den Ländern) Angelegenheit der Kommunen.

Die nationalen Fp.en der europäischen Staaten unterscheiden sich vor allem in den finanziellen Transfers zugunsten der Familien und der Unterstützung der Erwerbstätigkeit der Mütter. Die Absichten (expliziter oder impliziter) staatlicher Fp. in Europa kann man unschwer an den Unterschieden der nationalen Politikprofile erkennen, die im Grunde in Institutionen und Gesetze geronnene Leitbilder eines „normalen“ Familienlebens darstellen. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Okt. 1990 hat durch die Ausweitung des faktisch die traditionelle Familie privilegierenden Politikprofils der BRD auf Gesamtdeutschland für die neuen Bundesländer zunächst eine deutliche Verschlechterung in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familien und Erwerbstätigkeit gebracht. Dennoch sind auch heute noch die Quoten erwerbstätiger Mütter und die Versorgung mit Plätzen in Tageseinrichtungen für Kinder im Osten Ds erheblich höher als im Westen. Von der Familienpolitik der DDR (z. B. auf der betrieblichen Ebene) wurde nichts übernommen.

Die deutsche Fp. ist durch eine in Europa einzigartige Dominanz der ökonomischen Interventionsform gekennzeichnet. Die „ökologische“ Interventionsform vor allem durch den Ausbau der Kinderbetreuung hat im letzten Jahrzehnt zwar deutlich aufgeholt. Nach wie vor aber ist Fp. in D vor allem Umverteilung von Geldmitteln zugunsten der Ehe und der (traditionellen) Familie bei (im internationalen Vergleich) immer noch relativ geringer Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf (Strohmeier 2002). Die wichtigsten finanziellen Transfers zugunsten der Familien sind das Kindergeld und (seit 2007) das Elterngeld, von dem vor allem Mittelschichtfamilien profitieren. Das Erziehungsgeld sollte ursprünglich eine Lohnersatzleistung für Frauen sein, die aufgrund der Geburt eines Kindes ihre Berufsarbeit aufgeben oder auf maximal 19 Stunden pro Woche beschränken, es wurde bis 2006 auch Frauen gewährt, die nicht im Erwerbsleben standen. Das Elterngeld (ab 2007) wird wie in den skandinavischen Ländern abhängig von der Höhe des zuvor erzielten Einkommens gewährt. „Vätermonate“ nach schwedischem Modell sollen einen Anreiz für Männer geben, sich auf Zeit ganz ihrem Kind zu widmen.

Der weitaus größte Teil der monetären Transfers begünstigt aber nicht Familie und Elternschaft, sondern entfällt auf die fiskalische Privilegierung der traditionellen Ehe durch das „Ehegattensplitting“ im Steuertarif, von dem vor allem Einernährerfamilien der Mittelschicht profitieren. Kindergeld wird für jedes Kind bis zum 18. Lebensjahr (in bestimmten Fällen auch länger) gezahlt und staffelt sich nach der Zahl der Kinder. Bei Empfängern staatlicher Transferzahlungen (ALGII) findet eine Verrechnung der Kindergeldansprüche statt. Durch Kinderfreibeträge, die vom steuerpflichtigen Einkommen abgesetzt werden können, werden Mittelschichtfamilien besonders begünstigt. Die Transfers sind umso höher, je größer das zu versteuernde Gesamteinkommen ist. (Das Finanzamt sucht für die Begünstigten die günstigere Lösung). Bei Familien, bei denen aufgrund niedrigen Einkommens keine Steuern anfallen, wird eine Kinderzulage als Negativsteuer gewährt. Wohngeld und die staatliche Wohnungsbauförderung sollen für Familien mit steigender Kinderzahl eine familiengerechte Wohnungsversorgung gewährleisten. Die Inanspruchnahme wirtschaftlicher Hilfen des Staates durch die armen Familien ist generell nur gering. Leistungen des „Bildungs- und Teilhabepakets“ werden nicht einmal von einem Viertel der Anspruchsberechtigten beantragt (Monitor Familienforschung 30, 2012).

Neuere Modelle einer „Kindergrundsicherung“, wollen alle finanziellen Transfers für Kinder in einem Betrag zusammenfassen und die bestehenden bürokratischen Hindernisse abschaffen, die z. B. führen, dass Leistungen nur von einem Bruchteil der Anspruchsberechtigten überhaupt beantragt werden.

Wie wirkt Familienpolitik?

Das bundesdeutsche System der Fp. ist durch eine Vielzahl von Zielen, durch widersprüchliche Anreize, durch zersplitterte Zuständigkeiten (Bund, Länder, Gemeinden) und durch fehlende Koordination auf diesen Ebenen und über diese Ebenen hinweg gekennzeichnet. Die Wirksamkeit der Fp. wird darüber hinaus durch „Eigensinn“ und „Politikresistenz“ der Familie eingeschränkt. „Leistungen“ der Familie (einschließlich ihrer „generativen“ Leistung durch die Geburt von Kindern) sind das Ergebnis höchst privater und im Wesentlichen auf Gefühlsbeziehungen und -bindungen beruhender privater Entscheidungen von Frauen und Männern. Zahlreiche Befunde der empirischen Familienforschung (vgl. Kaufmann 1995) haben Familien als ausgesprochen „politikresistent“ erwiesen, d. h. in sie hinein kann schwerlich direkt interveniert werden. Leistungen, die z. B. Kindern zugutekommen sollen, müssen von den Eltern wahrgenommen und in Anspruch genommen werden. Politik kann nur Rahmenbedingungen des Familienlebens gestalten. Besondere Bedeutung kommt deshalb der örtlichen „Familienpolitik vor Ort“ zu (Citlak und andere 2014). Hier sind die Wirkungsketten am kürzesten. Die lokale Ebene hat in D als Implementations- und Wirkungsfeld der Fp. (mit einer besonderen Akzentuierung der ökologischen und pädagogischen Interventionsform) an Bedeutung gewonnen. „Örtliche Familienpolitik“ kann Familien durch Angebote im alltäglichen Handlungsumfeld bei der Erbringung ihrer Leistungen unterstützen. Die Kommunen sind als Alleinveranstalter einer solchen (auch gesellschaftspolitisch relevanten) Aufgabe überfordert. Sie können aber Initiatoren und Koordinatoren von Aktivitäten aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik sein, die die Lebenslagen der Familien faktisch durch ihr bislang in der Regel unkoordiniertes Handeln prägen (dazu Schultz et al. 2009). Der Bericht der Enquetekommission zur „Zukunft der Familienpolitik“ im Landtag von NRW hat 2017 169 Empfehlungen formuliert. Von diesen 169 Handlungsempfehlungen richten sich zwei Drittel an die Kommunen bzw. an Akteure auf der kommunalen Ebene. Familienpolitik ist ressortübergreifende Querschnittspolitik unter Beteiligung der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft. Sie lässt sich am leichtesten auf der lokalen Ebene organisieren, wenn sie dort als „Chefsache“ angegangen wird. Die Sachverständigenkommission des Fünften Familienberichts hat 1994 eine neue „Familienorientierung“ von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft als effektive Strategie gegen die damals erkannte Gefährdung des Humanvermögens empfohlen. Familienorientierung und „Familiengerechtigkeit“ können am ehesten und am leichtesten in den Städten und Gemeinden erreicht werden. (Zukunft der Familienpolitik 2016; Externer Link: www.familiengerechte-kommune.de)

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Klaus Peter Strohmeier

Fussnoten