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Gesellschaft/Sozialstruktur | bpb.de

Gesellschaft/Sozialstruktur

Bernhard Schäfers

Gesellschaft (G.)

Begriff und Begriffsgeschichte

G. ist ein vielschichtiger Begriff, der von der Tischg. bis zur Reiseg., von der G. der Musikfreunde bis zur Aktieng. reicht. Die Verbundenheit oft sehr heterogener Personen für einen bestimmten Zweck, ob kurz- oder längerfristig, ist entscheidend.

Dem Wortursprung nach bedeutet G. die Vereinigung oder ein Beisammensein mehrerer Gefährten. In der deutschen Sprachentwicklung ist G. mit Gemeinschaft und Genossenschaft verknüpft. Wichtiger war die griech. und die lat. Begriffsgeschichte. Seit Plato (428–348) und Aristoteles (384–322) hat der Begriff (lat. societas civilis) einen bis heute beibehaltenen Sinn: G. umfasst eine größere Gruppe von Menschen (wie z. B. in der polis, dem Stadtstaat der Griechen), die in einem Zusammenhang wechselseitig eingebrachter Interessen und Fähigkeiten stehen, auf einem klar definierten Territorium leben, sich als politische und soziale Einheit begreifen und außerhalb ihrer Grenzen auch so wahrgenommen werden. Zu ergänzen ist die anthropologisch fundierte Aussage, „dass der Mensch von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen“ (zoón politikón) ist (Aristoteles, Politik, 1278b).

In allen Etappen der europäisch-abendländischen Staats- und G.stheorie blieb der antike Kerngedanke von bürgerlicher G. und schützendem Staat erhalten (Überblick bei Riedel 1975). Er lebte weiter im Bürgertum der mittelalterlichen Städte und Stadtrepubliken. Unter den Bedingungen des Frühkapitalismus, der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen bildete sich die spezifische Form der bürgerlichen G. der Neuzeit heraus, als eine vom Liberalismus geprägte Marktg., als politisch-nationale Einheit und als Rechtsg., die die Freiheitsrechte aller Menschen zur Geltung bringt und sichert.

Die Staats- und G.stheorie von G. F. W. Hegel (1770–1831) konzipierte auf den Grundlagen v. a. der aristotelischen Philosophie, nunmehr unter den Vorzeichen der industriellen und französischen Revolution 1789 ff., einen bis heute wirksamen G.sbegriff: Familie, bürgerliche G. und Staat sind die Basisinstitutionen einer durchgängig auf Recht beruhenden G.sformation, wie Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (zuerst 1821) ausführte.

D als Staats- und G.ssystem ist nach seinem „G.svertrag“ (J.-J. Rousseau, 1762) dem Typus bürgerliche G. zuzuordnen. Konstitutiv ist die Trennung von G. und Staat. Während der Staat für die innere, rechtliche, soziale und äußere Sicherheit zuständig ist, kann G. als Handlungssphäre der freien Bürger bezeichnet werden; sie können sich nach ihren Vorstellungen in Vereinen und Genossenschaften assoziieren und in den Institutionen (wie Familie) und G.en des bürgerlichen Rechts (BGB) durch Verträge zusammenschließen. Entwicklungen hin zu einer „Verstaatlichung der G.“ und einer „Vergesellschaftung des Staates“, die sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt haben, verwischen allerdings die Differenz von Staat und G.

In der DDR (1949–1990) war, wie in allen sozialistischen G.en, diese Differenz, theoretisch und praktisch, aufgehoben. Der Staat der bürgerlichen G. sei nur eine „Agentur für Kapitalinteressen“, unter deren Dominanz die bürgerliche Sphäre insgesamt gerate.

G. im soziologischen Verständnis

Die Entwicklung der Soziologie ist mit der Herausbildung der bürgerlichen G. eng verknüpft. Sieht man von wichtigen Vorläufern ab, zu denen L. von Stein (1815–1890) und W. H. Riehl (1823–1890) zählen, die beide von Hegels Rechtsphilosophie ausgingen, so hat erst F. Tönnies (1855–1936) einen spezifisch soziologischen G.sbegriff entwickelt. In „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (zuerst 1887) analysierte er die Entwicklung von der ständisch-feudalen, agrarischen G. zur modernen Industrieg. mit ihren Trends der Anonymisierung in den größer werdenden Städten und der Verselbstständigung des Individuums. So lässt sich nach Tönnies G. denken, „als ob sie in Wahrheit aus getrennten Individuen bestehe, die insgesamt für die allgemeine G. tätig sind, indem sie für sich tätig zu sein scheinen“. War das „Zeitalter der Gemeinschaft (…) durch den sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion bezeichnet“, so ist es das der G. „durch den sozialen Willen als Konvention, Politik, öffentliche Meinung“ (Tönnies 1963, S.  251).

Zu den Grundlagen der industriell-bürgerlichen G. gehören: die Freisetzung des Einzelnen zu selbst gewählter Familienbildung, freie Wahl von Ausbildung und Arbeitsplatz und der Zugehörigkeit zu Vereinen und sozialen Gruppen sowie die Ablösung bisheriger, ständischer und städtischer Formen der gesundheitlichen und sozialen Fürsorge durch gesamtgesellschaftliche (bzw. staatliche) Institutionen. Voraussetzung für das Wirksamwerden dieser Trends war die Ausdifferenzierung und weitgehende Autonomisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche: Recht und Politik, Markt und Produktion, Religion und Kirche, Kultur und Bildung, Arbeit und Freizeit.

G. wird mit unterschiedlichen Akzentuierungen in allen soziologischen Makrotheorien thematisiert: Strukturfunktionalismus (T. Parsons, R.K. Merton), Systemtheorie (N. Luhmann), Theorie der Frankfurter Schule (T.W. Adorno, J. Habermas), Modernisierungstheorie (Zapf 1970). Für Luhmann (1927–1998) ist G. „das umfassende soziale System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt“ (1998, S. 78).

Sozialstruktur (S.)

Aufgaben/Bereiche der S.-Analyse

Beim Begriff G. besteht die Gefahr, ihn vorschnell zu objektivieren und als real leicht nachweisbar zu verstehen. Davor hatte bereits Georg Simmel (1858–1918) gewarnt. Im einleitenden Beitrag zu seiner „Soziologie“ (zuerst 1908) zum Thema: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ hob er hervor, dass G. nicht nur die Summe der vergesellschafteten Individuen sei, sondern zugleich die Summe aller möglichen Wechselwirkungen, die daraus resultieren können. Die nicht zuletzt am Strukturfunktionalismus orientierte Analyse der S. einer G. ist die empirische Basis, Formen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung zu veranschaulichen und die Ursachen und Folgen des sozialen Wandels in einzelnen Bereichen und für das Gesamtsystem zu identifizieren.

Definition: S. ist die Gesamtheit der dauerhaften Norm- und Wertgefüge, Rechtsgrundlagen, ökonomischen Strukturen und kulturellen Handlungsmuster, der sozialen Gebilde wie Gruppen, Institutionen und Organisationen, die die Integration einer G. kennzeichnen und Kontinuität gewährleisten (Schäfers 2012, S. 16).

Die S.analyse hebt also aus der Vielzahl der relevanten Elemente und Wechselwirkungen jene hervor, die für die Charakteristik eines gesellschaftlichen Systems und seine Integration zentral sind:

  • Bevölkerungsstruktur, inkl. der Wanderungsströme (Migrationen);

  • Formen von Familien, Lebensgemeinschaften und Haushalten (Peuckert 2012);

  • ökonomisches System und die Formen der Arbeit und Produktion, der Berufe und Erwerbsstruktur (Geißler 2014);

  • politisches System: Staat, Regierung, Parlament, Gesetzgebung und das Recht als Steuerungsinstrument für den sozialen und kulturellen Wandel;

  • Siedlungsformen von Dörfern, Städten, Ballungsräumen und Metropolregionen;

  • kulturelles System mit Bildung, Ausbildung und Wissenschaft, den Kulturinstitutionen (Museen, Theater etc.), der differenzierten „Medienlandschaft“, den Kirchen und Religionsgemeinschaften (Schäfers 2012, S. 121–141);

  • Informations- und Kommunikationssystem, das sich durch die Digitalisierung und die Ausweitung der Netze auf allen Ebenen des sozialen Handelns, der Institutionen und Organisationen zu einer „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2017) entwickelt hat – die sich aus diesen Elementen und Wechselwirkungen ergebende Klassen- und Schichtungsstruktur (→ Ungleichheit).

Wandel der deutschen S.

Die „Soziologie des sozialen Wandels“ (Zapf 1970) entwickelte ein differenziertes theoretisches und methodisches Instrumentarium, um die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bereichen der S. – z. B. Technik und Wirtschaft einerseits, Bevölkerung, Kultur und Politik andererseits – zu analysieren. Durch die „digitale Revolution“ seit 1970, den Wertwandel, durch Prozesse der Individualisierung und der Pluralisierung von Lebensstilen jenseits bisheriger Klassen- und Schichtbildungen kam es zur erheblichen Veränderung in den Grundlagen der deutschen S. Die Wiedervereinigung im Jahr 1990 führte nicht nur in den neuen Bundesländern, sondern auch in der bisherigen BRD (hier weniger deutlich artikuliert) zur Veränderung von Basisinstitutionen (Geißler 2014).

Während die Lebenserwartung relativ kontinuierlich gestiegen ist und 2015 bei Vollendung des ersten Lebensjahres für Frauen bei 83,4 und für Männer bei 78,4 Jahren lag, sank die Fruchtbarkeitsziffer auf 1,50; sie reicht nur, um die Bevölkerung zu etwa zwei Dritteln zu ersetzen. Die Anzahl älterer Menschen steigt in Relation zur Gesamtbevölkerung und führt in den Familien, im Arbeitsleben, bei Gesundheit, Sozialversicherung usw. zu erheblichen Auswirkungen (Peuckert 2012).

Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg ein Land großer Wanderungsbewegungen. Standen diese in den ersten Jahrzehnten im Zusammenhang mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der DDR, so kamen seit den 1950er-Jahren erste „Gastarbeiter“ hinzu; im früheren Bundesgebiet waren es im Jahr 1987 4,4 Mio., 2016 lebten in D. 9,2 Mio. Ausländer (11,2 % der Gesamtbevölkerung). Ein besonderes Problem für alle Bereiche der S. sind seit 2015 die ca. 1,2 Mio. Asylsuchenden und Migranten (zu den Ursachen und Folgen, vgl. Luft 2017).

Der Wertwandel (Meulemann 1996), zusammen mit den sozialen und kulturellen Bewegungen seit Ende der 1960er-Jahre, war ein wichtiger Faktor für die Veränderung der S. Zu den Trends zählen: Zunahme der nichtehelichen Lebensgemeinschaften, der Einelternfamilien, der binuklearen Familien („living apart together“). Die Ein-Personen-Haushalte machen inzwischen fast 40 % aller Haushalte aus; in größeren Städten, zumal im Innenstadtbereich, geht ihr Anteil auf 80 % (Peuckert 2012). Gesellschaftspolitisch waren gleichgeschlechtliche Partnerschaften als neue Lebensgemeinschaften schwieriger durchzusetzen als pluralisierte Familienformen. 2001 trat ein Gesetz zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in Kraft (LPartG).

Stark verändert hat sich die Siedlungsstruktur (Schäfers 2012, S. 255 ff.), die trotz des Bevölkerungsrückgangs in zahlreichen Städten durch eine weiterhin wachsende Verstädterung gekennzeichnet ist. Von 82,7 Mio. Einwohnern (2016) leben 31 % in 83 Großstädten mit mehr als 100 Tsd. Einwohnern, von denen zehn mehr als 500 Tsd. Einwohner haben, darunter (2017) vier Millionenstädte: Berlin (3,52 Mio.), Hamburg (1,78 Mio.), München (1,45 Mio.), Köln (1,1 Mio.).

Im Jahr 1995 beschloss die „Ministerkonferenz für Raumordnung“ die Abgrenzung „Europäischer Metropolregionen“. In den größten Metropolregionen Deutschlands – in der Reihenfolge ihrer Einwohner: Rhein-Ruhr, Berlin-Brandenburg, Stuttgart, Hamburg, München, Rhein-Main – leben zusammen rund 20 Mio. Menschen, ein Viertel aller Einwohner. Diese neuen Raumplanungseinheiten sollen das Gewicht Deutschlands im Zusammenhang der Europäischen Metropolregionen bei anstehenden Planungen, nicht nur im Bereich der Infrastruktur, verstärken.

Die Veränderungen in der Klassen- und Schichtungsstruktur und die Entwicklungen der sozialen →Ungleichheit wurden zusammen mit z. T. älteren Begriffen wie Lebenslage und Milieu abzubilden versucht. Neue G.sbegriffe (Pongs 1999) sollen die Veränderungen kenntlich machen: Nachindustrielle G. (D. Bell), Wissens- und Informationsg. (H. F. Spinner), Erlebnisg. (G. Schulze), Netzwerkg. (M. Castells 2017). Auch die S. Europas (Kaelble 1987; Mau und Verwiebe 2009) spielt für die Analyse der deutschen G. eine immer größere Rolle.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Bernhard Schäfers

Fussnoten