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Gewerkschaften | bpb.de

Gewerkschaften

Peter Rütters Siegfried Mielke

Definition

Gewerkschaften (G) sind auf Dauer angelegte, staats-, partei- und gegnerunabhängige Vereinigungen von und für Arbeitnehmer/n, die auf freiwilliger Mitgliedschaft basieren. Ihre organisatorische und gewerkschaftspolitische Unabhängigkeit beruht auch auf ihrer ökonomischen Eigenständigkeit, indem satzungsmäßig festgelegte Beiträge der Mitglieder die Organisationstätigkeit finanzieren. Als etablierte Verbände organisieren sie abhängig Beschäftigte (Arbeiter und Angestellte (= Arbeitnehmer) sowie Beamte) mit dem Ziel, deren wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Interessen zu vertreten. Im Mittelpunkt der Gewerkschaftstätigkeit steht die Regulierung der Arbeitsbedingungen (Entlohnung, Arbeitszeit, Urlaub, betriebliche Altersversorgung etc.) durch kollektive Vereinbarungen (Tarifverträge) mit Arbeitgeberverbänden und – in geringerem Umfang – mit einzelnen Unternehmen (sog. Firmen-/Haustarifverträge).

Interessenvertretung und Einflussnahme von G.en richten sich auch auf die Institutionen und Träger politischer Entscheidungsprozesse, insbesondere bei sozial- und wirtschaftspolitischen Themen. In D sind G.en rechtlich, sozial und politisch anerkannte Organisationen („befestigte G.en“ in der Terminologie von Götz Briefs). Sie können sich auf eine stabile Mitgliedschaft in ausreichender Zahl stützen (Bestandsvoraussetzung), wobei die Mitglieder den Organisationszielen loyal gegenüber stehen und durch ihre Mobilisierungsbereitschaft die Konfliktfähigkeit der G. glaubhaft machen (Handlungsvoraussetzung) (Müller-Jentsch 1997, S. 119–120).

Entwicklung

Auch wenn es nach dem Zweiten Weltkrieg in D zu Neugründungen von G.en kam, da im Zuge der „Machtergreifung“ des Nationalsozialismus 1933 alle unabhängigen G.en zerschlagen und aufgelöst worden waren, stehen die heutigen Organisationen in einer etwa 150jährigen Tradition. Dauerhaft konnten sich G.en erst seit Ende der 1880er-Jahre etablieren, als sich nach der gescheiterten Verlängerung des „Sozialistengesetzes“ die politischen Restriktionen für sozialdemokratisch orientierte Verbände lockerten. In den folgenden Jahrzehnten entstanden politische und weltanschaulich differenzierte Richtungsg.en, die sich während der Weimarer Republik organisatorisch weiterentwickeln und bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929/30 festigen konnten. Nach 1945 wurden in allen Besatzungszonen richtungsübergreifende Einheitsg.en gegründet. In der Sowjetischen Besatzungszone wurde nach 1945 der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) aufgebaut, der bereits 1946 Züge einer zentralistischen Organisation trug, den politischen Führungsanspruch der SED ausdrücklich anerkannte und mit der Zeit eine quasi-obligatorische Mitgliedschaft fast aller Beschäftigten in der DDR durchsetzte. Von seinen Funktionen her trat der FDGB als Ideologievermittler („Transmissionsriemen“) auf, diente der Arbeitsmobilisierung und erhielt eine Schlüsselstellung als „sozialer Verwaltungs-, Verteilungs- und Leistungsgigant“ (Gill 1991, S. 69). Von den Grundsätzen freier und unabhängiger G.en hatte sich der FDGB nach 1945/46 rasch entfernt, was dazu beitrug, dass er im Zuge der deutschen Vereinigung zum 30.09.1990 aufgelöst wurde.

Mitgliederstand der Gewerkschaften (1985–2018)

Tab. 1

1985

1991

1995

2000

2005

2010

2015

2018

DGB*

7719

11.800

9355

7773

6778

6193

6096

5975

DAG*

501

585

507

450

-

-

-

-

DBB

796

1053

1076

1205

1275

1261

1294

1318

CGB**

306

311

304

305

290

283

271

280

insgesamt

9322

13.749

11.242

9283

8343

7737

7661

7573

Tabellenbeschreibung

Fußnote: * Von 2005 an DGB-Mitgliederzahlen einschließlich ehemaliger DAG-Mitglieder

Fußnote: ** Die für 1985 angegebene Mitgliederzahl stammt aus dem Jahr 1984.

(Quelle: Jeweils Angaben der G.en)

Aus den in den Westzonen gegründeten Einheitsgewerkschaften entstand 1949 der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) als Dachverband von 16 autonomen, überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip strukturierten Einzelg.en. Die bei der DGB-Gründung erfolgte – und später nicht mehr revidierte – Kompetenzverteilung zugunsten der Einzelg.en, die über die Finanz-, Personal- und Tarifhoheit verfügen und die Mitglieder organisieren, machte den Dachverband zum „Kostgänger“ der Einzelg.en und gewährte den mitgliederstarken Verbänden einen großen Einfluss auf die wichtigsten gewerkschaftspolitischen Entscheidungen. Bereits in der Gründungsphase gelang es nicht, den DGB als umfassende Einheitsorganisation zu etablieren. Der Konflikt um die „Angestelltenfrage“ – ob die (Industrie-)Angestellten in einem eigenen Verband oder von den Industrieverbänden organisiert werden sollten – brachte die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) dazu, sich nicht an der DGB-Gründung zu beteiligen (vgl. Quellen Bd. 8 1989) und bis zur Bildung von ver.di im März 2001 ihre Eigenständigkeit zu bewahren. Durchbrochen wurde das Streben nach einer umfassenden Einheitsorganisation auch durch den 1955/59 gegründeten, jedoch einflussarm gebliebenen Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands (CGB). Mehr Gewicht ist dem 1949 gebildeten Deutschen Beamtenbund (DBB) zuzusprechen, der mit 40 Mitgliedsverbänden und etwa 1,3 Mio. Mitgliedern (2018) einen unverkennbaren tarifpolitischen Einfluss erlangt hat. Durchbrochen wurde das Einheitsstreben schließlich durch teils bereits Ende der 1940er/Anfang der 1950er-Jahre, teils später entstandene Spartenorganisationen mit berufsverbandlichem Zuschnitt (vgl. Schroeder et al. 2011).

Rechtliche Grundlage

Die rechtliche Grundlage für G.en findet sich im Art. 9 des → Grundgesetzes, der neben der Vereinigungsfreiheit als Staatsbürgerrecht (Art. 9 Abs. 1) in Absatz 3 die Koalitionsfreiheit „für jedermann und für alle Berufe“ gewährt „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“. Vergleichbare rechtliche Garantien sind auch mit den von der BRD ratifizierten ILO-Übereinkommen 87 und 98 gegeben. Spezifischere gesetzliche Regelungen wie ein Verbände- oder ein Gewerkschaftsgesetz, das Struktur, innere Verfassung und Repräsentativitätskriterien festlegen würde, bestehen nicht. Aus historischen Gründen lehnen es der DGB und seine Mitgliedsg.en ab, sich den Anforderungen des Vereinsrechts zu unterwerfen und die Form eines rechtsfähigen Vereins anzunehmen. Dennoch entsprechen Organisationsaufbau und interner Willensbildungsprozess formaldemokratischen Anforderungen und den im BGB (§§ 21 ff.) aufgestellten Kriterien für rechtsfähige Vereine.

Der Grundgesetzschutz des Artikels 9 Abs. 3 umfasst nicht nur die Bildung und den Bestand von G.en gegen staatliche und private Eingriffe, sondern auch die Tarifautonomie von Arbeitgebern und G.en. Das noch vor Verabschiedung des Grundgesetzes vom Wirtschaftsrat beschlossene und am 09.04.1949 in Kraft getretene Tarifvertragsgesetz regelt in wenigen Paragraphen neben den Grundzügen für Tarifvereinbarungen das Verfahren, um Tarifvereinbarungen für allgemeinverbindlich zu erklären, sowie – als jüngste Ergänzung (BGBl. I 2015, S. 1130 – „Gesetz zur Tarifeinheit“) – die Vermeidung von „Tarifkollisionen“ (Tarifpluralität konkurrierender G.en) im Betrieb (§ 4a). Kompensatorisch zu den verhaltenen gesetzlichen Regelungen wurden Tarif- und Arbeitskampfrecht (das Grundgesetz beinhaltet als Teil der Koalitionsfreiheit nur implizit ein kollektives Streikrecht) durch die Rechtsprechung in Arbeitsgerichtsverfahren („Richterrecht“), gegebenenfalls auch durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof, weiterentwickelt. Mittels gesetzlicher Vorgaben werden die Arbeitsbeziehungen, die Partizipation und Einflussnahme von G.en in Betrieben und in Unternehmen reguliert. Zwar sieht das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG von 1952, novelliert 1972 und 2001) eine deutliche Scheidung zwischen G.en und betrieblicher Interessenvertretung vor („duale Repräsentation“), doch besteht in der Praxis bei der Mehrzahl der Betriebsvertretungen eine Gewerkschaftsbindung. Ausdrücklich haben das Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 (einschließlich der Folgegesetze) und das Mitbestimmungsgesetz von 1976 für Unternehmen die Mitgliedschaft von Gewerkschaftsvertretern im Aufsichtsrat und deren Einfluss auf die Bestellung von Vorstandsmitgliedern (Arbeitsdirektoren) normiert.

Einflussnahmen

Die gesellschaftliche und politische Anerkennung gewerkschaftlicher Repräsentation und Partizipation beschränkt sich nicht auf die Betriebs- und Unternehmensebene und die normsetzende Tarifvertragspolitik. Gewerkschaftsvertreter wirken in den überwiegend (abgesehen von den Ersatzkassen) paritätisch besetzten Selbstverwaltungsgremien der Sozialversicherungen mit (SGB IV, §§ 43 ff.). Infolge von Funktionsverlusten der Selbstverwaltungen erlebten diese in den letzten Jahren aber eine Schwächung ihrer Integrationsleistung, die mit Einflusseinbuße der G.en auf die Gestaltung der → Sozialpolitik einhergingen (Trampusch 2006).

Von hoher Bedeutung für die Chance zu politischen Einflussnahmen sind für die G.en Regelungen, die den Zugang zu politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen eröffnen. Neben der Möglichkeit, dass Vertreter von G.en als Sachverständige oder Interessenvertreter an öffentlichen Anhörungen des Bundestages auf Einladung teilnehmen (§ 70 GO des Bundestages), soll G.en wie anderen „Zentral- und Gesamtverbänden sowie (…) Fachkreisen“, wenn sie sachlich betroffen sind, eine „rechtzeitige Beteiligung“ bei der Vorbereitung von Gesetzesinitiativen ermöglicht werden (§ 47 Gemeinsame GO der Bundesministerien vom 01.09.2000, aktuelle Fassung: 01.09.2011). Ergänzt werden diese Mitwirkungsmöglichkeiten durch die Mitarbeit von Gewerkschaftsvertretern in Beiräten und Gremien, die u. a. bei Bundesministerien bestehen, in der Gestalt von Rundfunkräten als Kontrollorgane öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten fungieren oder beim Statistischen Bundesamt eine beratende Aufgabe wahrnehmen. Durch die Mitwirkung von Gewerkschaftern als Beisitzer und ehrenamtliche Richter bei Sozial- und Arbeitsgerichten sind sie an der richterlichen Gestaltung des Arbeits- und Sozialrechts beteiligt.

Die hier nur angedeutete Vielfalt der rechtlich regulierten gewerkschaftlichen Mitwirkung verdeutlicht, dass G.en als relevante Interessenorganisation anerkannt, politisch integriert und an der politischen und sozialen Gestaltung der Gesellschaft beteiligt werden. Wie weit diese Partizipationschancen für die Durchsetzung eigener Forderungen und Ziele genutzt werden können, hängt vornehmlich von den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen ab.

Allerdings dürfte die häufig als Kriterium des politischen Einflusspotentials herangezogene Gewerkschaftsmitgliedschaft von → Abgeordneten als überbewertet gelten. Die Mehrzahl der gewerkschaftlich organisierten Abgeordneten des Bundestages versteht sich nicht und handelt auch nicht als Verbandsvertreter, sondern misst der Loyalität gegenüber ihrer → Partei und ihrer → Fraktion eine größere und handlungsbestimmende Bedeutung bei. Diese Distanz zwischen G. und Partei gilt auch reziprok. Als richtungsübergreifende Organisation vermochte der DGB, obwohl eine historisch begründete Affinität zur → SPD nicht zu verkennen ist, seine parteipolitische Unabhängigkeit zu bewahren. Trotz personeller Verflechtung zwischen → SPD und DGB-G.en gibt es keine Unterordnung unter parteipolitische Zielsetzungen, keine wechselseitigen finanziellen Abhängigkeiten, keine Weisungen der Parteizentrale für die gewerkschaftliche Arbeit.

Für die Durchsetzung von Forderungen, die mit dem Mittel der Tarifvertragspolitik nicht zu erreichen sind, sondern Entscheidungen – Gesetzgebung – des politischen Systems verlangen, sind die G.en auf die Kooperation mit den politischen Parteien angewiesen. Der DGB als Einheitsg. konnte sich dabei lange Zeit auf eine Zusammenarbeit mit der SPD verlassen, die durch stabile Verbindung zu den früher innerparteilich einflussreichen CDU-Sozialausschüssen (= Christlich-Demokratische Arbeiternehmerschaft, CDA) ergänzt wurde. Das versetzte den DGB zwar nicht in die Lage, seine Erwartungen und Forderungen jederzeit und ohne Abstriche durchsetzen zu können. Doch wurde den G.en nicht ohne Berechtigung zugesprochen, „einen bestimmenden Faktor im Wirtschafts- und Sozialleben“ zu bilden (→ Bundesverfassungsgericht v. 18.12.1974, E 38, 281, 305). Reduziert wurde dieser weitreichende Einfluss infolge der Fragmentierung und Pluralisierung der (potentiellen) politisch-parlamentarischen Kooperationspartner der G., aber auch aufgrund von Mitglieder- und Organisationsschwächen der G.

Mitgliederentwicklung

Der DGB ist ein Dachverband autonomer Einzelg.en, die über Finanz- und Mitgliederautonomie verfügen. Die Mitgliederentwicklung des DGB war über lange Zeit – von der Gründung des Dachverbandes 1949 bis etwa Anfang der 1980er-Jahre – überwiegend durch Wachstum gekennzeichnet (1950: 5,4 Mio; 1981: 7,9 Mio.). Der vor allem strukturell bedingte Mitgliederrückgang seit den 1980er-Jahren wurde Anfang der 1990er-Jahre durch die Übernahme von etwa 4 Mio. ehemaligen FDGB-Mitgliedern nur vorübergehend kompensiert (1991: 11,8 Mio. Mitglieder). Zum einen waren der DGB und seine Einzelg.en organisatorisch und finanziell mit den Integrationsaufgaben in den neuen → Bundesländern überlastet; zum anderen schrumpfte das Mitgliederpotential durch drastischen Arbeitsplatzabbau und umfangreiche Frühverrentungsprogramme als Folge der Anpassung der DDR-Wirtschaft an das marktwirtschaftliche System der BRD. Angesichts des politisch kaum in Frage gestellten ökonomischen Transformationsprozesses vermochten die DGB-G.en den Schutzerwartungen der Arbeitnehmer der nunmehr neuen Bundesländer nur begrenzt zu entsprechen.

Mit etwa 6 Mio. Mitgliedern (31.12.2018) haben die DGB-G.en (Tab. 2) den Mitgliederstand von 1975 unterschritten, allerdings bei einer um etwa 65 % angestiegenen Anzahl von abhängig Erwerbstätigen (1975: 22,5 Mio.; 2018: 37,3 Mio.). Bezogen auf diese Daten sank der Organisationsgrad des DGB von 34 % auf etwa 16 %.

Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften 2018

Tab. 2

Mitgliederstatistik (Stand: 31.12.2018)

Deutscher Gewerkschaftsbund

Gewerkschaft

Männlich

Weiblich

Insgesamt

in v. H.

Gesamt

in v. H.

Gesamt

in v. H.

IG Bauen-Agrar-Umwelt

181.012

73,2

66.170

26,8

247.182

4,1

IG Bergbau, Chemie, Energie

495.398

78,3

136.991

21,7

632.389

10,6

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

78.930

28,3

200.459

71,7

279.389

4,7

IG Metall

1.860.526

81,9

410.069

18,1

2.270.595

38,0

Gewerkschaft Nahrung- Genuss-Gaststätten

115.121

58,1

82.905

41,9

198.026

3,3

Gewerkschaft der Polizei

142.341

74,6

48.590

25,4

190.931

3,2

EVG

146.737

78,3

40.659

21,7

187.396

3,1

ver.di

939.087

47,7

1.029.956

52,3

1.969.043

33,0

DGB-Gesamt

3.959.152

66,3

2.015.799

33,7

5.974.951

100,0

davon1)

Männlich

Weiblich

Insgesamt

in v. H.

Gesamt

in v. H.

Gesamt

in v. H.

Arbeiter und Angestellte

3.513.342

66,6

1.759.169

33,4

5.272.342

88,2

Beamte2)

259.768

62,0

159.161

38,0

418.929

7.0

Tabellenbeschreibung

Rundungsdifferenzen möglich

Fußnote: 1) Die Summe aus Arbeitern/Angestellten und Beamten ergibt nicht zwangsläufig die Gesamtmitgliederzahl der DGB-G.en. Diese erfassen einen Teil ihrer Mitglieder in Kategorien, die sich von Organisation zu Organisation stark unterscheiden können

Fußnote: 2) Die IG Metall, die NGG und die IGBCE führen die Kategorie „Beamte“ nicht

Die Mitgliederverluste der DGB-G.en resultieren nur zum Teil aus den ökonomischen Transformationsproblemen in den neuen Bundesländern. Von größerer Bedeutung war und ist ein langfristiger sozioökonomischer Strukturwandel, der von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft führt und mit unterschiedlicher Dynamik einzelne Branchen bereits seit den 1960er-Jahren erfasst hat. Das „Aussterben der Stammkunden“ (Wolfgang Streeck) und eine „neue Topographie der Arbeit“ (Walther Müller-Jentsch) kennzeichnen eine veränderte Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft in eine Richtung, an die sich die Mitgliederrekrutierung der G.en noch nicht erfolgreich anzupassen vermochte. Zurückzuführen ist diese Problematik auf die noch immer vorherrschende Verankerung von wichtigen DGB-G.en im Industriesektor, während sich gleichzeitig die traditionellen Arbeitermilieus auflösten, und auf die beträchtlichen Organisationsdefizite im Dienstleistungsbereich und unter den Angestellten. Hinzu kommt, dass die seit Jahrzehnten wachsende Zahl berufstätiger Frauen und ausländischer Arbeitnehmer noch immer in den G.en unterrepräsentiert sind. Verstärkt wurden diese Entwicklungen durch eine Schwächung der betrieblichen Interessenvertretung (Betriebsräte) und damit einer „Voraussetzungen für betriebliche Mobilisierung und Mitgliederwerbung“ sowie durch Einbußen der Reichweite und Geltung von Flächentarifverträgen („Tarifflucht“) (Ebbinghaus und Göbel 2014, S. 233; Greifenstein et al. 2017). Die Mitgliederverluste bedeuten tendenziell eine Schwächung der Organisation, aber noch keine manifeste Funktionskrise. Neben Struktur- und Programmreformen haben die G.en durch Fusionen auf bestandsgefährdende Mitgliederverluste reagiert.

Fusionen

Seit der Gründung des DGB haben seine Mitgliedsverbände über mehr als vier Jahrzehnte die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche und den Bestand ihrer Organisationen konservieren können. Die erwähnten strukturellen und politischen Veränderungen sowie die damit verbundenen organisatorischen und finanziellen Belastungen haben seit Ende der 1980er-Jahre einen Fusionsprozess in Gang gesetzt, in dessen Verlauf die 17 Einzelg.en (16 Gründungsg.en und die 1978 vom DGB aufgenommene G. der Polizei) zu derzeit 8 Verbänden verschmolzen sind. Drei kleinere G.en – GEW, NGG und G. der Polizei – bewahrten ihre organisatorische Eigenständigkeit ohne Fusionen. Ansonsten setzten sich einige große G.en durch, die kleinere, nicht immer branchennahe DGB-G. aufnahmen und bereits mit ihrer Umbenennung einen Anspruch auf zukünftige Expansion ihrer Organisationsbereiche ankündigten (IG Bau – Agrar – Umwelt, IG Bergbau, Chemie, Energie) oder wie bei der IG Metall die integrierten kleinen Verbände nach außen nicht mehr sichtbar werden ließen (G. Holz und Kunststoff, G. Textil-Bekleidung). Mit dem Zusammenschluss (2001) der ÖTV mit vier kleineren G.en (Deutsche Postgewerkschaft, G. Handel, Banken, Versicherung, IG Medien und DAG) zu ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft) wurde nicht nur der Kreis der DGB-G. durch die Einbeziehung der DAG erweitert, sondern zugleich eine potentiell expansive Multibranchen-G. geschaffen (vgl. Müller und Wilke 2014, S. 157–158). Eine langgehegte Abgrenzung überwand auch die Bildung der Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), die Ende 2010 aus dem Zusammenschluss der DGB-G. TRANSNET (vorher G. der Eisenbahner) und dem DBB-Verband Verkehrsgewerkschaft GDBA (G. Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter) entstand und die DGB-Mitgliedschaft von TRANSNET weiterführte.

Für den DGB hat der Fusionsprozess seiner Mitgliedsg. bereits Anfang/Mitte der 1990er-Jahre u. a. zu einem finanziell bedingten „Rückzug aus der Fläche“, einer schrittweisen Verkleinerung von Entscheidungsorganen und einer Reduktion auf sogenannte Kernaufgaben geführt. In der Tendenz litt durch diese Entwicklung sein Anspruch auf die politische Gesamtvertretung seiner Mitgliedsverbände.

Problematisch erscheint die Bildung von Gewerkschaftskonglomeraten wie ver.di wegen einer „Erosionsgefahr an den Rändern“ (Müller und Wilke 2014, S. 168). Spezialisierte, gut organisierte und seit Jahrzehnten etablierte Berufsverbände wie die Piloten-Vereinigung Cockpit oder der Marburger Bund sehen die tarifpolitischen Interessen ihrer Mitglieder inzwischen besser eigenständig vertreten. Auch die Organisations- und Tarifkonkurrenz des Berufsverbandes G. Deutscher Lokführer (GDL) zur EVG verweist auf diese „Erosionsgefahr“ und eine Renaissance des Berufsverbandes (vgl. Schroeder et al. 2011). Sie wurde forciert durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts im Jahr 2010 (BAG, Beschluss v. 23.06.2010, 10 AS 3/10), das in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung den Grundsatz der Tarifeinheit im Betrieb aufgab und Tarifpluralität konkurrierender G. im Betrieb zuließ. Erst mit der Ergänzung des TVG durch § 4a (Tarifeinheitsgesetz, BGBl I, 2015, 1130) versuchte die Großen Koalition eine Einhegung des Konfliktpotentials von Berufs- und Sparteng., zumal deren Konfliktstrategie von einer Fokussierung auf Partikularinteressen bestimmt wird, wodurch berufsgruppenübergreifender Solidarität, „Konfliktpartnerschaft“ als Handlungsmodell und ein auch durch gesamtgesellschaftliche Verantwortung moderiertes Arbeitskampfverhalten nur ein nachrangiger Stellenwert zukommt.

Tarifpolitik

Als zentraler Tätigkeitsbereich der G. gilt die Tarifpolitik. Tarifverhandlungen der G. mit den Arbeitgeberverbänden erfolgen inzwischen überwiegend im zweijährlichen Turnus mit dem Ziel der Verbesserungen der Arbeitsbedingungen (Einkommen, Arbeitszeit, Urlaub usf.) ihrer Mitglieder (faktisch jeweils aller Beschäftigten des Tarifbereichs). Das in der Verfassung (Art. 9 Abs. 3) und gesetzlich (Tarifvertragsgesetz) begründete Recht der G.en, ohne staatliche Bevormundung in Verhandlungen, notfalls mit Kampfmaßnahmen (Streiks), mit Arbeitgeberorganisationen und mit Vertretern des öffentlichen Dienstes Regelungen der Arbeitsbedingungen zu vereinbaren, ist als ein wichtiges Element einer demokratischen Grundordnung anzusehen. Die tarifpolitische Privilegierung der G.en hat ihr Pendant in der „Übernahme gesellschaftspolitischer Ordnungsfunktionen“. Tarifverträge fungieren als „Instrumente des sozialen Friedens“ (Nell-Breuning) und sind gesellschaftlich akzeptierte Formen der „Regulierung des nicht aufzuhebenden Interessenkonflikts“ zwischen ‚Arbeit und Kapital‘ (Kädtler 2014, S. 427). Die in den 1950er-Jahren mit zahlreichen intensiven Arbeitskämpfen durchgesetzte Akzeptanz der gewerkschaftlichen Tarifpolitik hat langfristig zur Einbindung der G.en in eine gesamtwirtschaftlich begründete Einkommens- und Stabilitätspolitik im Rahmen der „sozialen Marktwirtschaft“ geführt. Der gewerkschaftlichen Tarifpolitik gelang es (u. a.) bedeutende, an der Produktivitätsentwicklung orientierte Einkommenssteigerungen, Arbeitszeitverkürzungen und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen, Lohnfortzahlungsregelungen und betriebliche Altersversorgungen durchzusetzen. Dies gilt insbesondere für die Jahrzehnte zwischen 1950 und 1980, in denen sich beispielsweise das Realeinkommen der Arbeitnehmer mehr als verdreifachte.

Als problematisch für die „Konfliktpartnerschaft“ (Müller-Jentsch) von G.en und Arbeitgeberverbänden und die regulierende und gestaltende Funktion von Tarifvereinbarungen zeigt sich, abgesehen von der vielstimmigen Kritik an einer vermeintlichen Starrheit von Flächentarifverträgen, die abnehmende Integrations- und Verpflichtungsfähigkeit von Arbeitgeberverbänden. Die in etwa 1000 Einzelverbänden aufgegliederten Arbeitgeberorganisationen leiden seit den 1980er-Jahren an zunehmender „Verbandsflucht“, wenngleich nach Branchen und Regionen stark differenziert. Es sind vor allem kleine, mittlere und neugegründete Unternehmen, die Tarifbindungen zu vermeiden suchen. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung in den neuen Bundesländern. Unterminiert wird das austarierte System überbetrieblicher Tarifverträge sowohl durch das Angebot von Arbeitgeberverbänden zu einer Mitgliedschaft „ohne Tarifbindung“ als auch durch die gelegentlich im Verlauf von Tarifverhandlungen geäußerte Drohung einer Selbstauflösung des Arbeitgeberverbandes (Schulten 2018).

Dennoch ist der Tarifvertrag – auch als Flächentarifvertrag – immer noch das wichtigste Instrument zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen, Mittel zur betrieblichen Konfliktminimierung und unternehmerischen Konkurrenzbegrenzung. Mit Öffnungs- und Differenzierungsklauseln findet eine flexible Anpassung der tarifvertraglichen Regulierungen an den Strukturwandel der einzelnen Branchen und an die veränderten Anforderungen einer globalisierten und binnenmarkt-europäisierten Wirtschaft statt. Von den derzeit (2018/19) ca. 77.000 gültigen Branchen- und Firmentarifverträgen werden rund 55 % der Beschäftigten unmittelbar erfasst. Hinzu kommen Unternehmen, die sich nicht einer Tarifbindung unterwerfen, aber an den gültigen Tarifverträgen orientieren (für 23 % der Beschäftigten). Insgesamt hat sich eine „bunt gescheckte Tariflandschaft“ (Bispinck) herausgebildet, in der die Tarifbindung zurückgeht (WSI-Tarifarchiv 2018, Tab. 1.3, 1.6–1.10; Ellguth und Kohaut 2018), so dass D im westeuropäischen Vergleich inzwischen einen hinteren Rang einnimmt. Diese Veränderungen der ‚Tariflandschaft‘ resultieren auch aus Rekrutierungs- und Integrationsschwächen der G.en, die unter den ökonomischen Rahmenbedingungen der letzten Jahrzehnte phasenweise ihre Schutzfunktion verfehlten. Eine gewisse Kompensation bietet inzwischen der gesetzliche Mindestlohn (Gesetz zur Regelung eines allgemeinen Mindestlohns, BGBl. I 2014, S. 1348), der am 01.01.2015 fast flächendeckend in Kraft trat und für den 2018 anfangs noch mögliche temporäre Ausnahmen endeten. Der gesetzliche Mindestlohn hat zu „überdurchschnittlichen Lohnerhöhungen im Niedriglohnsektor geführt“, ohne dass die im Vorfeld vielbeschworenen negativen Einflüsse auf dem Arbeitsmarkt in relevantem Umfang eingetreten sind (Schulten 2018, S. 9–10).

Auch mit Blick auf die Tarifpolitik lässt sich eine manifeste Funktionskrise der G. nicht diagnostizieren. Ihre Schutz-, Gestaltungs- und Ordnungsfunktion steht trotz mancher Detailkritik nicht grundsätzlich zur Disposition (Brinkmann und Nachtwey 2010).

Europäische und internationale Ebene

Die Integration Ds in die Europäische Union und in die internationalen politischen und wirtschaftlichen („Globalisierung“) Beziehungssysteme verläuft nicht ohne vielfältige Rückwirkungen auf die Position von Arbeitnehmern und G.en. Die G.en in D trugen bereits seit Ende des 19. Jhs. entscheidend dazu bei, Verbindungen zwischen nationalen G.en herzustellen und internationale Organisationen aufzubauen, um ihr Handeln gegenüber Entwicklungen wie die Internationalisierung der Produktion und die Migration von Arbeitskräften im Hinblick auf eine Vereinheitlichung von Arbeitsbedingungen (Arbeitszeit, Unfallschutz usf.) sowie für Unterstützungsleistungen bei Arbeitskämpfen abzustimmen (vgl. Reutter und Rütters 2014). In dieser Tradition steht das Engagement des DGB und seiner Mitgliedsverbände in internationalen Gewerkschaftsorganisationen (Internationaler Gewerkschaftsbund, IGB/ITUC) bzw. den internationalen Branchenverbänden: Globale Gewerkschaftsverbände/Global Union Federations (GUF) wie industriALL (vor der Fusion mit der Chemiearbeiter- und der Textilarbeiter-Internationale, ICEM und ITGLWF, 2012: Internationaler Metallgewerkschaftsbund, IMB) oder die Internationale Transportarbeiterföderation (ITF), sowie ihre Mitarbeit in den mit der Entstehung der Europäischen Gemeinschaften etablierten europäischen Gewerkschaftsvereinigungen (Europäischer Gewerkschaftsbund, EGB/ETUC) als Zusammenschluss der nationalen Dachverbände, und als Branchenverbände die Europäischen Gewerkschaftsverbände (EGV/ETUF)). Je nach Adressat und institutionellen Rahmenbedingungen variieren die Koordination der G.en und die Art der Einflussnahme. Die EU, insbesondere die Kommission, hat mit zahlreichen Ausschüssen, in denen Regulierungen der EU vorbereitet werden, Möglichkeiten verbandlicher Mitwirkung für den EGB und die EU-Brancheng.en eingerichtet. Daneben ist mit dem „sozialen Dialog“ ein Instrument geschaffen worden, mit dem den europäischen Spitzenorganisationen (EGB, UNICE/Businesseurope, Centre Européen de l’Entreprise Publique (CEEP)) begrenzte Regulierungskompetenzen übertragen wurden. Das Spektrum der Einflussnahmen mittels internationaler Gewerkschaftsvereinigungen richtet sich auf internationale Organisationen wie die International Labour Organization (ILO), deren Übereinkommen und Empfehlungen als wichtiger Beitrag für die Gestaltung international gültiger Arbeitsrechtsnormen gewertet werden, aber auch auf Multinationale Konzerne, um die für Arbeitnehmer negativen Folgen internationalisierter Produktionsprozesse zu begrenzen und um grundsätzlich die Anerkennung von Gewerkschafts-, Arbeitnehmer- und Menschenrechten zu erreichen.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Peter Rütters

Fussnoten