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Meinungsforschung

Bernd Blöbaum

Meinungsforschung ist ein Verfahren zur Ermittlung von Einstellungen, Ansichten, Verhalten und Wünschen bei Individuen und Gruppen. Im akademischen wie im kommerziellen Bereich bezeichnet Meinungsforschung (auch: Umfrageforschung, Demoskopie; im Englischen: Public Opinion Research) eine Methode der Beschaffung von Daten oft auf der Basis einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe. Im politischen System dient Meinungsforschung der Erhebung von Haltungen und (potenziellen) Entscheidungen zu meist aktuellen politischen Fragen in der Bevölkerung oder in Bevölkerungsgruppen (z. B. Jugendliche, Alte, Wähler, Ausländer, Familien) und ist damit ein Instrument der Umweltbeobachtung, mit dem die Politik ihre entscheidungsbezogenen Diskussionen anreichert. Da Umfrageergebnisse häufig als öffentliche Meinung interpretiert werden, ergibt sich mit der Meinungsforschung gewissermaßen eine indirekte Beteiligung von Bürgern an der Politik, wenn die Befragungsergebnisse in die politische Entscheidungsfindung einfließen.

Methodisch arbeitet die Meinungsforschung vor allem mit den Standarderhebungsverfahren der empirischen Sozialforschung. Neben standardisierten und teilstandardisierten Befragungen kommen auch – besonders in der Markt- und Konsumforschung – weitere Datenerhebungsformen wie Gruppendiskussionen, Experimente oder Panelbefragungen zum Einsatz. Grundgedanke dabei ist, von einer Verteilung von Merkmalsausprägungen (Meinungen, Absichten etc.) in einer bewusst oder zufällig ausgewählten Gruppe von Individuen auf der Basis wahrscheinlichkeitstheoretischer Verfahren auf eine Verteilung dieser Merkmale in einer größeren definierten Gruppe zu schließen. Dazu wird zunächst eine Grundgesamtheit bestimmt (z. B. alle Wahlberechtigten in Deutschland oder in einem Bundesland). Anschließend wird eine für die Grundgesamtheit repräsentative Stichprobe entweder bezüglich definierter relevanter Variablen (z. B. Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, Wohnort) bewusst gebildet, die bei der Verteilung der relevanten Merkmale der Grundgesamtheit entspricht (Quotenstichprobe), oder nach einem Zufallsverfahren ausgewählt. Von der Merkmalsverteilung (z. B. Wahlabsichten) in der Stichprobe wird dabei auf eine (nahezu) gleiche Verteilung in der Grundgesamtheit (z. B. bei allen Wahlberechtigten) geschlossen. In der politischen Meinungsforschung liegen bei Fragen zum Wahlverhalten die Stichproben in der Regel bei 1000 bis 2000 Befragten. Die ermittelten Daten werden oft gewichtet, um Verzerrungen bei der Erhebung auszugleichen und auf diesem Wege ein repräsentatives Bild zu erhalten. Die Fehlertoleranz bei Wahlumfragen liegt in der Regel zwischen 1 und 3 Prozentpunkten.

Als Instrumente der Datengewinnung sind neben persönlichen und schriftlichen Befragungen heute vor allem telefonische Interviews, die mittlerweile fast immer computergestützt realisiert werden, sowie Onlinebefragungen verbreitet. In der politischen Meinungsforschung wird zur Ermittlung von Wahlabsichten die sogenannte Sonntagsfrage gestellt: „Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl (Landtagswahl, Europawahl) wäre, welche der folgenden Parteien würden Sie dann wählen?“ Die Antwortverteilung ergibt eine Prognose zum Wahlausgang. Abweichungen zwischen dem prognostizierten Ergebnis und der Stimmabgabe werden u. a. auf sozial erwünschtes Antwortverhalten, Umfragemüdigkeit und kurzfristige Meinungsänderungen zurückgeführt.

Nachdem die Nationalsozialisten die im Entstehen begriffene sozialwissenschaftliche Meinungsforschung eingedämmt und unterbunden hatten, entwickelte sie sich in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg auf Initiative der Alliierten. Eine Expansionsphase gab es, ausgelöst durch eine verstärkte Nachfrage nach Daten in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft in den siebziger Jahren, korrespondierend zur Etablierung und zum Wachstum der empirischen Sozialforschung an Hochschulen. Neben Parteien und Unternehmen sind heute auch Medien häufig Auftraggeber von Befragungen. Aktuelle Massenmedien publizieren demoskopisch ermittelte Daten gern, weil sie als repräsentative Stimmungsbilder und Antworten auf allgemein interessierende Fragen auf der Basis objektiver Zahlen gelten. Meinungsforschungsergebnisse erfüllen für Medien wichtige Nachrichtenwerte wie Neuigkeit, Aktualität und Relevanz. Für die Publikation von Meinungsforschungsergebnissen gibt es Empfehlungen: Nennung des Auftraggebers, der Stichprobe, Hinweis auf Repräsentativität und Fehlertoleranz. Kritisiert wird, dass in Medien zuweilen methodische Angaben zu Umfragen fehlen und Ergebnisse falsch interpretiert werden.

Auf dem Markt der Meinungs-, Konsum- und Marktforschungsinstitute ist es in den vergangenen Jahren zu Unternehmenszusammenschlüssen sowie internationalen Kooperationen gekommen. Zugleich gab es viele Marktzutritte, so dass ein erheblicher Wettbewerb entstanden ist. Die Erhebungskosten bei den Befragungen konnten durch online-gestützte Verfahren verringert werden, was zu einer deutlich höheren Frequenz von Bevölkerungsbefragungen führt. Kritik an der kommerziellen Meinungsforschung betrifft die Qualität der Ergebnisse, den Vorwurf der interessengeleiteten Erhebung, Auswertung und Darstellung. Dazu kommen fachliche Debatten über Erhebungsmethoden (telefonisch, online, face-to-face) und über die Problematik von Gewichtungen von Daten. Durch mangelnde Teilnahmebereitschaft (Umfragemüdigkeit) erhöht sich in jüngerer Zeit der Aufwand bei der Datenerhebung enorm. Diskutiert wird, ob und inwieweit zukünftig Data-Mining, die gezielte Auswertung vorhandener Daten(spuren) im Internet, die traditionell reaktiven Verfahren der Datenerhebung wie Befragungen ergänzt beziehungsweise überflüssig macht, um Einstellungen und Verhalten zu erforschen.

Für politische Akteure stellt die Meinungsforschung ein wichtiges Instrument zur Erhebung von Einschätzungen und Absichten in der Bevölkerung dar. Die dabei gewonnen Daten können politische Planungsentscheidungen ebenso beeinflussen wie die Programme und Personalauswahl von Parteien. Bekannte Umfragen im politischen System liefern kontinuierliche Ergebnisse zur Verteilung von Wahlpräferenzen und zur Beliebtheit des politischen Führungspersonals (Ranking von Politikern). Es ist umstritten, welche Effekte die politische Meinungsforschung auf die Politik (Gefahr für die repräsentative Demokratie durch Berücksichtigung kurzzeitiger Umfragewerte, Personalisierung von Sachfragen, Unterstützung in Planungsprozessen) und die politischen Akteure (Inszenierung, strategische Planung) hat. Umstritten ist ebenfalls, ob und ggf. wie sich Meinungsforschungsergebnisse z. B. auf Wahlentscheidungen und Wahlbeteiligung auswirken. Die politische Meinungsforschung steht zudem vor dem Problem, dass sich soziale Milieus und ihre Orientierungen nicht mehr so trennscharf differenzieren lassen; damit erodiert die Parteibindung und Wahlprognosen werden volatiler.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Bernd Blöbaum

Fussnoten