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Öffentliche Meinung | bpb.de

Öffentliche Meinung

Ulrich Sarcinelli

Zum Begriff

Öffentlich wird eine Angelegenheit nicht nur deshalb genannt, weil sie nicht geheim und allgemein zugänglich ist. Öffentlich im politischen Sinne wird etwas vor allem dann, wenn es mit der „res publica“ zu tun hat, wenn es um die Sache aller geht. Von demokratischer Öffentlichkeit ist schließlich zu sprechen, wenn Öffentlichkeit Transparenz herstellt, Diskursivität über Themen, Meinungen und Überzeugungen ermöglicht und Orientierung in der Meinungsvielfalt bietet. Eine Öffentliche Meinung (ö. M.) ergibt sich nicht automatisch aus der Addition individueller Meinungen. Sie ist kein quasi-statistisches Aggregat demoskopisch erhobener Bevölkerungseinstellungen. Ebenso wenig darf ö. M. gleichgesetzt werden mit der veröffentlichten Meinung, wie sie sich aus dem Tenor der Medienberichterstattung ergibt. Ö. M. muss vielmehr begriffen werden als „ein kollektives Produkt von Kommunikationen, das sich zwischen den Sprechern als ‚herrschende‘ Meinung darstellt“ (Neidhardt 1994). Für die Legitimität demokratischer Systeme ist ö. M. eine zentrale Kategorie zur Rechtfertigung von Herrschaft. Das erklärt auch, warum es eine allgemein akzeptierte, systemunabhängige Definition von ö. M. nicht geben kann (Davidson 1968).

Historische, demokratietheoretische und verfassungsrechtliche Aspekte

Demokratische Herrschaft ist zustimmungsabhängig und deshalb öffentlich begründungspflichtig. Nur wo Publizität herrscht, kann politische Verantwortung zugemessen werden. Öffentlichkeit und ö. M. stellen somit unentbehrliche Faktoren im Prozess der politischen Willensbildung freiheitlicher Systeme dar. Selbst diktatorische Regime existieren auf Dauer nicht ohne Scheinakklamationen im Wege von → Wahlen, Plebisziten, Referenden, inszenierten Demonstrationen etc.

Die Vorstellung allerdings, Demokratie beruhe auf ö. M., sei Herrschaft der ö. M., ist eine zumindest missverständliche Vereinfachung. Sie verkennt den Doppelcharakter politischer Öffentlichkeit. Denn in ihr manifestiert sich nicht ein Querschnitt der Meinungen und Wünsche des Volkes. Auch und gerade in modernen wohlfahrtsstaatlichen Demokratien, die über ein freies Mediensystem verfügen, ist politische Öffentlichkeit ganz wesentlich ein Produkt aktiver Meinungspflege. Öffentlichkeit entsteht nicht einfach, sondern wird gemacht. Für die Themensetzung in den Massenmedien maßgeblich sind die in der politischen Willensbildung prominenten Institutionen des Staates (insb. Regierung und Parlament), die wichtigen meinungsbildenden gesellschaftlichen Akteure (→ Parteien, Verbände, Bürgergruppen und NGO’s), und zunehmend auch über Soziale Medien vermittelte Bewertungen von Individuen und institutionellen Kommunikatoren.

Historisch ist Öffentlichkeit als Kernelement demokratischer Kontrolle jeder Staatstätigkeit ein entscheidendes Prinzip des demokratischen Verfassungsstaats. Die Herausbildung von Öffentlichkeit als einer eigenen, zwischen Staat und Gesellschaft vermittelnden Sphäre, in der sich das Publikum als Träger der ö. M. artikulieren kann, entwickelte sich als ein Produkt der Aufklärung und des Rationalismus. Mit der „Unterordnung der Moral unter die Politik“ (R. Koselleck) als Folge der Erschütterung des Glaubens an die religiöse Letztbegründung politischen Handelns und im Zuge der radikalen Kritik am christlichen Naturrecht gewinnt die ö. M. einen demokratietheoretischen und -praktischen Eigenwert. Glaubens- und Gewissensfragen werden zur Privatsache. Damit entsteht erst der Raum, in dem kritisches Räsonnement stattfindet. Waren es zunächst die Salons, Kaffeezirkel und Aristokratentreffs, die sich im 18. Jh. von privaten zu halböffentlichen Räumen entwickelten, so lieferten diese die Grundlage für oppositionelles Denken und für die Forderung nach Machtteilhabe. Die Verbindung mit der Rousseau’schen Idee der Volkssouveränität nahm dem Begriff „den abschätzigen Sinn des bloßen Meinens“. So konnte ö. M. für den Funktionsbereich der Politik zu einer Art „Wahrheitsäquivalent“ werden (Luhmann 2000).

Ö. M. als Begriff diente zunächst als Waffe im Kampf des erstarkenden Bürgertums um die Ausweitung seiner Rechte und wird schließlich eine Waffe zum Schutz der Privilegien des Bürgertums. Dabei haben sich in den politischen Kulturen der europäisch-atlantischen Welt unterschiedliche Traditionslinien von ö. M. herausgebildet. So verbindet sich ö. M. in der französischen Tradition mit der Theorie der „volonté générale“. Hingegen setzte sich im angelsächsischen Raum die Idee des „government by public opinion“ gegen alle mit der „volonté générale“ verbundenen Homogenitätsideale durch. Gibt sich das angelsächsische „public opinion“ damit zufrieden, die Regierungsgewalt zu kontrollieren, so schwingt im französischen „opinion publique“ immer auch mit, die Regierungsgewalt auszuüben (Fraenkel 1991).

Ö. M. im Sinne von herrschender Meinung bedeutet mehr als die Summe der Bürgermeinungen, die mit Hilfe der Demoskopie gemessen werden und deren Gleichsetzung mit ö. M. von Kritikern als schleichende plebiszitäre Aushöhlung des demokratischen Systems beurteilt wird (Hennis 1957). In der → politischen Kultur Ds hat eine gewisse Reserve gegenüber der ö. M. Tradition. Maßgeblich dafür sind die Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Herrschaft sowie die verspätete Demokratieentwicklung im D des 19. und 20. Jh.s insgesamt. Statt einer aus Beobachtung und Erfahrung zu gewinnenden Vorstellung von ö. M. fand im deutschen Kontext ein eher exklusives, normativ überhöhtes und nicht selten auch technokratisches Verständnis von ö. M. lange staats- und gesellschaftstheoretisches Interesse. Danach konstituiert sich die ö. M. aus politisch informierten, selbstständig und rational urteilenden Bürgern und begreift sich als „Korrelat von Herrschaft“, das kritisch auf diese einwirkt (Noelle-Neumann 1989).

Theoretische Erklärungsansätze

Für das Verständnis von ö. M. gibt es Erklärungsansätze, die das Problemfeld von Herrschaft und ö. M. im Besonderen unterschiedlich akzentuieren.

Der sozialpsychologische Ansatz: ö. M. als „soziale Haut“

Im Rahmen ihrer Theorie der „Schweigespirale“ hat E. Noelle-Neumann versucht, Prozess und Funktion von ö. M. neu zu beschreiben und der empirisch zu überprüfen. Danach ist ö. M. „gegründet auf das unbewusste Bestreben von in einem Verband lebenden Menschen, zu einem gemeinsamen Urteil zu gelangen, zu einer Übereinstimmung, wie sie erforderlich ist, um handeln und wenn notwendig entscheiden zu können“ (Noelle-Neumann 2002, S. 393). Der Antrieb basiere auf dem Wunsch, sich in der sozialen Umwelt nicht zu isolieren. Durch ein „quasi-statistisches“ Wahrnehmungsorgan besitze der Mensch die Fähigkeit, die Zu- und Abnahme von Meinungsverteilungen zu bestimmten Themen zu registrieren. Aufgrund einer „Isolationsfurcht“ würden eigene Meinungen verschwiegen, wenn sie dem „Meinungsklima“ nicht entsprechen und die Gefahr drohe sich zu isolieren. Umgekehrt tendierten die Menschen zum öffentlichen Bekenntnis ihrer Überzeugungen, wenn sie die Mehrheitsmeinung auf ihrer Seite sehen. Dabei entstehe eine dynamische Entwicklung. Die abnehmende Meinungsfraktion erscheine schwächer als sie wirklich ist, die zunehmende hingegen als stärker. Dieser Vorgang entwickele sich nach Art eines spiralförmigen Prozesses zunehmenden Redens bzw. Schweigens (deshalb „Schweigespirale“). Kommunikationstheoretisch seien dabei für das Individuum zwei Quellen der Umweltbeobachtung wichtig: das direkte, im sozialen Kontext vermittelte und das indirekt, vor allem medial transportierte Bild darüber, wie die Mehrheit denke.

Kommunikationspolitisch erhielt die „Schweigespirale“ Prominenz dadurch, dass sie – unbeschadet der Kritik an Methodik und empirischer Evidenz – einen plausiblen Erklärungsrahmen für politische Einflüsse der → Massenmedien lieferte; insbesondere für die Zeit, in der vor allem das öffentlich-rechtliche Fernsehen die politische Berichterstattung (z. B. → Wahlkampf) im elektronischen Bereich noch dominierte. Mit konsonanten Medieninhalten könne die Macht der Medien besonders zum Tragen kommen. Die über die Medien transportierte und im Vergleich mit dem aktuellen demoskopischen Bild politisch einseitige Meinung erscheine als besonders stark und verändere so das Meinungsklima in der → Bevölkerung (z. B. vor → Wahlen). Zwar haben sich die Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung und Meinungsbildung mit der Ausweitung der audiovisuellen Medien und mit den Internetdiensten inzwischen weiter ausdifferenziert. Trotz eines größeren Wettbewerbs um die Aufmerksamkeit des Publikums gelingt es aber vor allem in polarisierten Zeiten (z. B. Wahlkämpfe, Berichterstattung in der Flüchtlingskrise) immer wieder, medial ein Meinungsklima zu erzeugen, das nicht unbedingt die aktuelle Bevölkerungsmeinung widerspiegelt.

Der systemtheoretische Ansatz: ö. M. als Konstrukt auf der Basis von „Aufmerksamkeitsregeln“

N. Luhmann (1970) sieht ö. M. nicht mehr als ein Ergebnis, das aus politisch relevanten Ereignissen folgt. Sein Konzept verzichtet auf normative Ansprüche und ‚befreit‘ ö. M. von den Resten allen aufklärerischen „Pathos“. Stattdessen will er die Funktionsmechanismen von ö. M. als Teilsystem von → Gesellschaft aufdecken. Die in modernen Gesellschaften notwendige, hohe funktionale Differenzierung mit beliebigen Handlungsmöglichkeiten zwinge zur Selektion. Die als „thematische Struktur öffentlicher Kommunikation“ bezeichnete ö. M. sei wesentlich das Ergebnis von Selektion auf der Basis von „Aufmerksamkeitsregeln“. Diese Regeln bildeten sich aufgrund der Knappheit von Aufmerksamkeit als Regeln über die Zuwendung von Aufmerksamkeit heraus. Während „Entscheidungsregeln“ die entscheidungsbefugten Instanzen des Systems steuerten, beeinflussten die am Publikumsinteresse orientierten „Aufmerksamkeitsregeln“ (z. B. Neuigkeitswert, Status des Absenders, Krisen oder Krisensymptome etc.) die Konstruktion politischer Wirklichkeit in den Medien. Entscheidend sei nicht die inhaltliche Transformation individueller Meinungen auf allgemeine, für alle als vernünftig akzeptierbare Formeln, sondern die Anpassung der Themenstruktur des politischen Kommunikationsprozesses an den jeweiligen Entscheidungsbedarf der Gesellschaft und ihres politischen Systems. Themen dienten der „strukturellen Koppelung“ der Massenmedien mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Luhmann (1990) begreift ö. M. deshalb auch als ein „Kommunikationsnetz ohne Anschlusszwang“.

Die Leistung der ö. M. erfüllt sich für Luhmann einmal in der „Thematisierung“, also dadurch, dass „ein Thema auf den Verhandlungstisch“ gebracht wird; zum anderen durch die Reduktion von Problemkomplexität. Damit werden nicht überschaubare politische Sachverhalte durch Vereinfachung nachvollziehbar und so überhaupt erst entscheidungsfähig. Nicht auf die (unerreichbare) Öffentlichkeit aller politischen Kommunikation komme es an, sondern auf die Strukturierung aller, auch der nichtöffentlichen politischen Kommunikation durch institutionalisierte Themen. Luhmann verzichtet auf alle „Rationalitätserwartungen und auf Hoffnungen auf eine Revitalisierung zivilrepublikanischen ‚Lebens‘“. Den Massenmedien weist er im Prozess politischer Meinungsbildung die Rolle von eher passiven Verbreitungsorganen (Spiegelmodell) zu. Deren Stellung zu anderen Teilsystemen der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Kultur etc.) bleibt vage. Der Spiegel der ö. M. ermögliche die „Beobachtung von Beobachtern“ und befähige das politische System mit Hilfe der ö. M. zur „Selbstbeobachtung und zur Ausbildung entsprechender Erwartungsstrukturen“ (Luhmann 1990, 2000).

In Weiterentwicklung des systemtheoretischen Ansatzes weisen Neidhart und Gerhards. (Neidhart 1994; Gerhards 1998) der Öffentlichkeit drei funktionale Bedeutungen zu. Sie habe eine Beobachtungsfunktion, insofern sie in der zunehmenden Unübersichtlichkeit der Moderne überhaupt erst Selbst- und Fremdbeobachtung ermöglicht. Akteure des politischen Betriebs eröffnet sie Zugang zum Publikum und hält zugleich für zivilgesellschaftliche Akteure einen Resonanzboden bereit. Zum anderen habe Öffentlichkeit eine Validierungsfunktion. Denn Medien bieten Maßstäb für sachliche Richtigkeit und Qualität. Orientierungsfunktion kommt der Öffentlichkeit schließlich dadurch zu, dass sie im Rahmen der „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Georg Frank) notwendige Selektionsleistungen erbringt, um als Bürger überhaupt entscheidungs- und urteilsfähig zu werden.

Der radikaldemokratisch-kommunikationstheoretische Ansatz: ö. M. als kritische Instanz gegenüber politischer Herrschaft

J. Habermas vertritt demgegenüber eine sozialphilosophisch-kritische Sicht von Öffentlichkeit und ö. M. Danach trifft das liberale Modell von Öffentlichkeit mit der Vorstellung von einem Publikum räsonierender Privatleute, die im Interesse der Herausbildung des Gemeinwohls selbsttätig zusammentreten, auf die sozialstaatlich verfasste Massendemokratie nicht mehr zu. Historisch weit ausgreifend diagnostiziert er den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas 1990 [1962]) als Phänomen eines politischen Verfalls. Öffentlichkeit entstehe heute im Feld der Konkurrenz organisierter Interessen durch „Entfaltung demonstrativer Publizität“, vor allem im Wege geplanter, vornehmlich an die Massenmedien adressierter → Öffentlichkeitsarbeit. Habermas sieht darin einen Zerfall und eine Refeudalisierung politischer Öffentlichkeit. Während einst die Publizität von Personen oder Sachen dem öffentlichen Räsonnement unterwerfen und politische Entscheidungen vor der Instanz der ö. M. revisionsbedürftig machen sollte, werde sie heute zur Hilfe für die Arkanpolitik organisierter Interessen. Die ö. M., so die Idee des Sozialphilosophen, sei nicht länger Kontrollorgan staatlicher Politik, sondern ein Resonanzboden, auf dem durch öffentliches Prestige und Publicity Politik akklamationsfähig gemacht wird. An die Stelle des räsonierenden Publikums sei das konsumierende Publikum getreten. Habermas hält an einem normativen Begriff von Öffentlichkeit und fest und setzt auf die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen kritischer Öffentlichkeit und politischem System. Dabei kommt es ihm auf das erfolgreiche Zusammenspiel der institutionellen Willensbildung mit den spontanen, nicht-vermachteten Kommunikationsströmen einer nicht auf Beschlussfassung programmierten und insoweit nicht-organisierten Öffentlichkeit an.

Inzwischen konzediert Habermas, „einem fragwürdig gewordenen Totalitätskonzept von Gesellschaft und gesellschaftlicher Selbstorganisation verhaftet“ und zu sehr an der Weiterentwicklung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates zu einer sozialistischen → Demokratie orientiert gewesen zu sein (Vorwort zur Neuaufl. 1990). Setzt Habermas (1992) weiterhin auf das emanzipatorische Potenzial einer kritischen Öffentlichkeit im Kontext eines deliberativen Demokratiemodells, so betont er nunmehr verstärkt das Wechselspiel zwischen den Institutionen rechtsstaatlicher Herrschaft und den Öffentlichkeit bzw. Gegenöffentlichkeit erzeugenden Akteuren der Zivilgesellschaft.

Varianten eines eher normativ-kritischen Verständnisses von ö. M. sind nach wie vor prominent, nicht zuletzt in Verbindung mit der anhaltenden kritischen Debatte über politische Inszenierung (Meyer 1992), symbolische Politik (Sarcinelli 1987) oder ganz generell über „Politik als Ritual“ (Edelman 1976). Zugleich formierte sich eine kulturalistisch gespeiste Gegenbewegung, die Öffentlichkeit als einen Erfahrungsraum begreift, in dem unterhaltende Politik und politische Unterhaltung verschmelzen (Dörner 2000).

Der liberaldemokratische Ansatz: Das Wechselspiel von „aktiver“ und „passiver“ Öffentlichkeit

Liberale Gesellschaftsvorstellungen stehen im direkten Gegensatz zum radikaldemokratischen Postulat eines allseits aktiven Publikums. So bezweifelt R. Dahrendorf (1986) grundsätzlich den konstitutionellen Sinn einer aktiven Öffentlichkeit unter Beteiligung aller Bürger. Er stellt prinzipiell in Frage, dass in der modernen Demokratie tatsächlich ein Strukturwandel der Öffentlichkeit stattgefunden habe. Das fundamentaldemokratische Verständnis von ö. M. gehe an der Wirklichkeit der modernen Gesellschaft vorbei. Nach liberaler Auffassung bestehe die Öffentlichkeit nicht aus einer Menge gleich motivierter und teilnahmeorientierter Individuen. Vielmehr sei zu unterscheiden zwischen einer „latenten“, einer „passiven“ und einer „aktiven“ Öffentlichkeit. Nur Letztere nehme mit eigenen Vorstellungen regelmäßig am politischen Prozess teil, rekrutiere sich aus politischen Organisationen und übernehme Ämter. Die demokratische Utopie, die sich aus einer total aktivierten Öffentlichkeit ergibt, sei so totalitär wie alle Utopien. Die Nichtteilnahme an der Politik sei sogar innerhalb gewisser Grenzen tragbar und geradezu wünschenswert.

Für die Aufrechterhaltung marktrationaler Verhältnisse in einem demokratischen Gemeinwesen entscheidend ist demnach aus liberaler Sicht die Wechselbeziehung zwischen einer offenen, Vielfalt repräsentierenden und zur Erzeugung politischer Initiative fähigen „aktiven“ Öffentlichkeit einerseits und der im Bedarfs- bzw. Konfliktfall intervenierenden „passiven“ Öffentlichkeit andererseits.

Ö. M., veröffentlichte Meinung und politisches System in D

Verfassungsrechtliche Grundlagen und politisches Steuerungsinteresse

Die freie Bildung ö. M. gehört in D, so wie in vergleichbaren Demokratien auch, zu den verfassungsrechtlich besonders geschützten Prinzipien. Dem in Art. 5 des → Grundgesetzes verankerten → Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit kommt eine dreifache Bedeutung zu. Es ist ein individuelles Schutz- und Abwehrrecht gegenüber staatlichem Einfluss. Zugleich soll dieses Grundrecht als Teilhaberecht die aktive Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Leben gewährleisten. Schließlich schützt der Grundrechtsartikel der Meinungs- und Informationsfreiheit als sog. „Institutsgarantie“ auch alle Einrichtungen und Institutionen gegenüber staatlichen Zugriffen, die den Prozess der Meinungsbildung publizistisch erst ermöglichen, also Presse und Rundfunk. Institutsgarantie heißt nicht genereller Schutz vor marktbedingten Veränderungen der Medienlandschaft. Vielmehr verbindet sich mit der Informations- und Meinungsfreiheit als Institutsgarantie die staatliche Verpflichtung, durch entsprechende gesetzliche und administrative Rahmenbedingungen Pluralität und freien Wettbewerb der Berichterstattung zu gewährleisten.

Die verfassungsrechtlich postulierte Staatsfreiheit in der Entwicklung der publizistischen und institutionellen Voraussetzungen freier Information und Meinungsbildung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der politische Meinungsbildungsprozess auch in D hochgradig politisch organisiert ist. Akteure und Institutionen des → politischen Systems selbst (z. B. Regierung, Parlament, Parteien) sowie aus dem politischen Vorfeld und aus der Gesellschaft (Organisierte Interessen, Initiativen, Bewegungsakteure etc.) konkurrieren um Aufmerksamkeit. Alle versuchen durch politische Öffentlichkeitsarbeit/PR das Timing, die Themen und den Deutungsrahmen der Berichterstattung zu beeinflussen. Dabei ist die Besetzung von maßgeblichen Positionen in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten nach – auch – parteipolitischen Proporzgesichtspunkten ein nach wie vor praktiziertes und viel kritisiertes politisches Steuerungsinstrument, das politischen Einfluss sichern bzw. eine ausgewogene Repräsentanz der ö. M. gewährleisten soll.

Insgesamt haben die Vervielfältigung der „Kanäle“ wie überhaupt der verschärfte Wettbewerb um Zuschauer, Hörer, Leser und mehr und mehr auch Internetnutzer in einer kaum mehr überschaubaren Medienlandschaft die Medien von den politischen und gesellschaftlichen Akteuren entfernt. Der Kampf um Marktanteile fördert die Neigung zu verstärkter Publikumsorientierung. Eine unmittelbare Folge der zunehmenden Ökonomisierung des Medienmarktes und der „Senderausweitung“ vor allem im elektronischen Bereich ist allerdings auch, dass die Zugänge zu den Medien für nicht etablierte Akteure erleichtert, das Erreichen einer Massenöffentlichkeit für alle jedoch infolge der Angebotsausweitung und Verspartung erschwert wird. So stehen auch politische Akteure in einer verschärften Konkurrenz um Aufmerksamkeit in den allgemein zugänglichen Massenmedien. Dem Zwang zur Professionalisierung und Ausweitung politischer Öffentlichkeitsarbeit/PR korrespondiert dabei zugleich eine wachsende Unsicherheit über den Erfolg des steigenden Politikvermittlungsaufwandes. Hinzu kommt, dass wachsender Kommerzialierungsdruck und damit verbundene redaktionelle Konzentrationsprozesse eine Deprofessionalisierung des politischen Journalismus begünstigen.

Auch in der → DDR war nach Art. 27 der DDR-Verfassung von 1969 die Meinungs- und Pressefreiheit geschützt, allerdings nur „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß“. Die „sozialistischen Massenmedien“ galten als Führungs- und Kampfinstrumente der Partei der Arbeiterklasse und des sozialistischen Staates. Wurden Journalisten ganz offiziell als Propagandisten im Dienste der Staatsdoktrin begriffen, so boten die weithin gleichgeschalteten Medien für kritischen Journalismus nur geringe Spielräume. Die Medien waren – von der kirchlichen Presse abgesehen – Eigentum des Staates, der SED (→ Die Linke), des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) oder der in der Nationalen Front zusammengeschlossenen Blockparteien. Sie unterstanden den zentralen Weisungen der Partei- und Staatsführung. Durch Veröffentlichungsverbote, Sprachregelungsgebote, staatliche Papierzuteilung, Lizenzpflicht und Kontrolle der Journalistenausbildung sollten die Infiltration bürgerlicher Ideologien bei der ö.n M.sbildung verhindert und die sozialistische Ordnung gesichert werden.

Mit den Möglichkeiten des grenzüberschreitenden Empfangs elektronischer Medien, vor allem der bundesdt. Fernsehprogramme, und mit den eingegangenen internationalen Verpflichtungen zur freien Berichterstattung (insb. „Korb III“ der KSZE-Akte) in und über die DDR ging das Kalkül staatlicher Meinungslenkung immer weniger auf. Die Diskrepanz zwischen dem offiziell gewünschten, die Wirklichkeit des real existierenden Sozialismus weithin verzerrenden Bildes einerseits und der in den westlichen Medien dargestellten ö. M. andererseits begünstigte den schleichenden Legitimationsentzug. Dank der Berichterstattung der Westmedien konnten sich die Bürger der DDR ein Bild von der eigenen ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Lage machen. Das landes- und weltweite Sichtbarmachen gesellschaftlicher Unzufriedenheit, die Möglichkeit zum Vergleich mit anderen Gesellschaften und politischen Systemen sowie die Chance zur Selbstbeobachtung des politischen Widerstandes und die offenkundige Unsicherheit der Staatsorgane beschleunigten in der Endphase der DDR die Protestspirale und begünstigten schließlich den Zusammenbruch des Regimes.

Ö. M., Medienwandel und politischer Prozess

Ö. M. resultiert nicht automatisch aus der Summe der individuellen Meinungen. Zur ö. M. werden Meinungen nur dann, wenn sie als herrschende Meinungen die Einschätzungen bedeutender Akteure, Gruppen oder Institutionen zu gesamtgesellschaftlich oder gesamtstaatlich relevanten Fragen bestimmen und in den Massenmedien ihren Niederschlag finden. Was nicht über die Massenmedien, insbesondere im nach wie vor einflussreichen, wenn auch in der Reichweite abnehmenden Bildmedium Fernsehen, dargestellt bzw. thematisiert wird, konnte lange Zeit öffentlich nicht meinungsbildend werden.

Trotz fortschreitender Medienkonzentration, Auflagenrückgang und zunehmender Verflechtung von Print- und elektronischen Medien repräsentieren die überregionalen Tageszeitungen (Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, taz) noch weithin das politische Meinungsspektrum in Deutschland. Zusammen mit den großen Wochenzeitungen (z. B. DIE ZEIT, FAS), den politischen Magazinen (insb. Stern, Spiegel, Focus) und einzelnen Radio- (z. B. Deutschlandfunk) bzw. Fernsehsendern kommt diesen Medien eine meinungsführende und insbesondere für die → politischen Eliten zentrale Bedeutung zu. Im Hinblick auf Themensetzung, Meinungsmache und politische Mobilisierung haben allerdings Boulevardmedien (insb. BILD) an Bedeutung gewonnen und schreitet insgesamt die Boulevardisierung der Medien und die „Verbuntung“ der Medienlandschaft voran.

Ein historisch gesehen vergleichsweise junger, dynamisch wachsender, ökonomisch relevanter und zunehmend einflussreicher Faktor für die ö. M.sbildung stellt das Internet dar. Internetplattformen und globale Anbieter wie Google, Facebook, YouTube, Instagram, Twitter u. a. unterscheiden sich von Massenmedien dadurch, dass in ihnen Individual- und Massenkommunikation verschmelzen. So liefert das politisch nur schwer steuerbare Internet als Medium und Plattform – und unter Umgehung des professionellen Journalismus – prinzipiell jedermann die Chance, mit geringen Mitteln in den ‚klassischen‘ Medien Themen zu setzen und damit national und international ggf. große publizistische Wirkung zu erzeugen. Was in der einen Gesellschaft lange Zeit ohne große Resonanz in der ö. M. geblieben ist, kann nun Grenzen und Kontinente überschreitend in anderen Kulturen (z. B. aufgrund der Verletzung religiöser Gefühle) ein hohes Erregungspotenzial mit weittragenden politischen Folgen entfalten.

Wurden dem Web 2.0 als einem interaktiven Mitmach-Medium zunächst große Potenziale für eine Belebung demokratischer Meinungsbildung zugeschrieben, so begründen die bisherigen Erfahrungen eine insgesamt durchaus auch skeptische Einschätzung. Unbeschadet der Bedeutung des Web 2.0 als Plattform für die schnelle Informationsbeschaffung und -weitergabe, für Vernetzung, Protest und Mobilisierung – an den traditionellen Medien vorbei – sollte dessen Einfluss auf die ö. M. weder unter– noch überschätzt werden. Entstanden ist mit dem Internet und den Sozialen Medien ein digitaler Raum, nicht selten eine Art Parallelöffentlichkeit, in der ein entsprechend vernetztes Teilpublikum wie in einer Art Filterblase mit Informationen versorgt werden und sich damit dem kritischen Diskurs einer ö. M.sbildung entziehen kann. Aufgabe des Staates bleibt es deshalb, durch rechtliche Regulierung sicher zu stellen, dass es auch in den sozialen Medien eines ungeteilten öffentlichen Raums bedarf, der gegen Verleumdungen, Hetze und Desinformation einen Mindestschutz bietet.

Die ö. M. zu beeinflussen, gehört zu den legitimen Aufgaben aller am politischen Meinungsbildungsprozess Beteiligten, seien es Akteure des politischen Systems, Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen oder einzelne Bürger. Hieraus ergibt sich notwendigerweise eine enge Beziehung zum politischen „Betrieb“. Auch wenn Medien und Politik jeweils einer Eigenlogik folgen, so braucht man sich wechselseitig und stellt sich aufeinander ein. Dies kann distanziert (i. S. einer „4. Gewalt“), instrumentalisierend (einseitig oder von beiden Seiten) oder eher nach Art einer Tauschbeziehung (i. S. einer Art „Symbiose“) geschehen. Damit verbinden sich unterschiedliche Grade der Medialisierung des Politischen, also der Anpassung der Politik an die Medienlogik. Allerdings ist hier vor zu einfachen Kausalerklärungen (Schulz 2011) zu warnen. So setzt politischer und publizistischer Erfolg in der „Darstellungspolitik“ eine stärkere Orientierung an der ö. M. voraus als in der „Entscheidungspolitik“ (Sarcinelli 2011). Auch können Themen in den Politikfeldern in ganz unterschiedlicher Weise die ö. M. beeinflussen bzw. von dieser abhängen.

Ö. M. und demokratische Teilhabe: Fazit

In jedem auf Zustimmung angewiesenen politischen System kommt Politik ohne die kontinuierliche Selbst- und Fremdbeobachtung im Medium der ö. M. nicht aus. Dazu gehört auch der gezielte Einsatz demoskopischer Instrumente. Demokratisches Handeln bedarf der ständigen Rückkoppelung mit den Meinungen der Bürger. Politik kann jedoch nicht nur Meinungen beobachten und ggf. exekutieren. Denn politische Führungskompetenz erschöpft sich nicht in Kommunikation und schon gar nicht im Surfen auf den Wogen des jeweiligen Meinungsklimas. Demokratische Politik im repräsentativen System bedeutet auch, für einen „hypothetischen Volkswillen“ um Zustimmung zu kämpfen und nicht selten gegen den aktuellen „empirischen Volkswillen“ (Fraenkel 1991) zu entscheiden. Die freie Meinungsbildung in der repräsentativen Demokratie bietet dabei den Spielraum, dass durch politische Führung und Überzeugung aus einer ablehnenden Mehrheitsmeinung eine mehrheitlich zustimmende ö. M. werden kann.

Allerdings gilt auch: Auf Dauer ist politisches Handeln in der Demokratie gegen die ö. M. nicht ungestraft möglich. Dabei ergibt sich für D, so wie für andere moderne Wohlfahrtsstaaten auch, das Dilemma, dass für die Lösung der zentralen innerstaatlichen und globalen Herausforderungen auch schmerzhafte Einschnitte in individuelle und gesellschaftliche Besitzstände und Ansprüche notwendig sind. Demokratische Politik wird in D nur zukunftsfähig sein können, wenn sie nicht reaktiv an demoskopischen Momentaufnahmen ausgerichtet ist, sondern aktiv die ö. M.sbildung vorantreibt und um die Zustimmung der ö. M. durch die Überzeugungskraft von Lösungsansätzen für die großen Herausforderungen der Zeit wirbt. „Government by discussion“ bedeutet in diesem Sinne nicht nur, die ö. M. durch Thematisierungskompetenz, professionelles Kommunikationsmarketing oder durch die Perfektionierung politischer Inszenierungskunst zu beeinflussen. „Government by discussion“ bedeutet vielmehr auch und gerade kommunikative Kompetenz im Sinne politischer Führungskompetenz. Gemeint ist damit die Fähigkeit zu Kommunikation und politischer Entscheidung in und mit komplexen verhandlungsdemokratischen Strukturen (korporatistische Verhandlungssysteme, Netzwerke etc.) des politischen und gesellschaftlichen Systems D.s sowie des europäischen Mehrebenensystems. Dabei geht es um Meinungsbildungskompetenz nach außen und Durchsetzungskompetenz nach innen. In der sach-, personen- und situationsspezifischen Verbindung von Außen- und Binnenkommunikation zeigt sich die politische Kommunikationskompetenz im demokratischen System.

Begreift man ö. M.sbildung in der modernen Gesellschaft als Management von Komplexität und Interdependenz, so bedarf es verstärkter Berücksichtigung der Meinungsbildung in sog. deliberativen Foren („Runde Tische“, Diskursverfahren, dialogische Kommunikationsformen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Konfliktsituationen), die problemsensibler als etablierte politische Institutionen sein und deshalb institutionelle Verkrustungen aufbrechen können. Dabei ist das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen dem erwarteten Legitimationsgewinn im Wege einer breiteren ö. M. einerseits und der Erhöhung von Entscheidungskosten andererseits nicht auflösbar (van den Daele und Neidhardt 1996).

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Ulrich Sarcinelli

Fussnoten