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Pluralismus | bpb.de

Pluralismus

Wichard Woyke

Pluralismus (P.) als Begriff der politischen Theorie kennzeichnet die moderne Lebenswelt in den hochindustrialisierten Gesellschaften der westlichen OECD-Länder. „Der Pluralismus beruht auf der Hypothese, in einer differenzierten Gesellschaft könne im Bereich der Politik das Gemeinwohl a posteriori als das Ergebnis eines delikaten Prozesses der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien erreicht werden, stets vorausgesetzt, daß … bei deren Zusammen- und Widerspiel die generell akzeptierten, mehr oder weniger abstrakten regulativen Ideen sozialen Verhaltens respektiert und die rechtlich normierten Verfahrensvorschriften und die gesellschaftlich sanktionierten Regeln eines fair play ausreichend beachtet werden.“ (Fraenkel 1974, S. 199)

Als Leitbild der Legitimität moderner Demokratien zielt P. auf ein freies politisches und gesellschaftliches Zusammenleben, das die liberalen → Grundrechte sowie die Vereinigungsfreiheit respektiert und jegliche rassische, geschlechtliche und politische Diskriminierung untersagt. Im P. konkurrieren eine Vielzahl verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen mit- und gegeneinander um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Macht. Sie versuchen ihren Einfluss in den politischen Prozess einzubringen und auf die staatliche Gewalt durchzusetzen. Verschiedene intermediäre Gruppen – z. B. → Parteien, → Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, karitative Organisationen, → Kirchen, wissenschaftliche Vereinigungen, → Bürgerinitiativen u. a. m. – verfolgen selbstständig und autonom ihre Ziele innerhalb des → politischen Systems, wobei sie theoretisch gleichberechtigt sind. Wie im politischen System die Staatsgewalt institutionell zwischen den Organen aufgeteilt ist, so sollen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen ihre Macht gegenseitig begrenzen, d. h. dass im pluralistischen System idealtypisch einer Organisation immer eine oder mehrere gleichmächtige Gegenorganisation(en) gegenüberstehen soll(en). Im Idealfall konkurrieren viele verschiedene Gruppen miteinander und vertreten ganz unterschiedliche Interessen. Die Macht ist gleichmäßig verteilt, da es zu (fast) jeder Gruppe eine „Gegengruppe“ gibt, die die Interessen der jeweils anderen Seite vertritt. Im klassischen Beispiel stehen den Gewerkschaften, die die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, die Arbeitgeberverbände gegenüber. In der politischen Realität ist allerdings das Kräfteverhältnis längst nicht immer ausgeglichen, sondern einige Gruppen haben deutlich mehr Einfluss auf Politik und Wirtschaft als andere.

Da diese intermediären Gruppen notwendigerweise miteinander in Konflikt geraten und es zu keinem Chaos der → Gesellschaft oder gar zur Anarchie kommen soll, bedarf es einer Regelung potenzieller Konflikte durch das politische System. Es stellt in Form des freiheitlichen → Rechtsstaats den Ordnungsrahmen und die Regeln für den Konfliktaustrag zur Verfügung und ist somit für den friedlichen Konfliktaustrag zwischen den Gruppen verantwortlich. Voraussetzung für das Funktionieren des P. ist die Akzeptanz eines Ordnungskonzepts durch alle Teilnehmer, die sich auf die Grundregeln (Prinzipien) und auf die Institutionen des politischen Systems bezieht, in diesem Fall die Akzeptanz des → Grundgesetzes.

P. in modernen hoch industrialisierten Gesellschaften kann sich nicht ausschließlich individuell widerspiegeln, sondern bedarf Institutionen, die das breit geprägte Bild unterschiedlicher Vorstellungen bündeln. Wichtigste Kräfte dabei sind Parteien und Verbände (→ Interessengruppen). Ein funktionsfähiges Mehrparteiensystem, die effektive Möglichkeit zur Bildung von Parteien auf rechtsstaatlicher Basis, verfassungsmäßig garantierter und vom politischen System praktizierter Minderheitenschutz sowie der Wechsel von Regierung und → Opposition sind weitere bedeutsame Kennzeichen für einen funktionierenden P. Durch die Vielzahl ökonomischer, sozialer, kultureller und weltanschaulicher Gruppen und Organisationen sind eine Differenzierung und Erweiterung der politischen Ordnung und damit auch des P. erfolgt. Kritiker des P. bemängeln, dass der etablierte P. ein relativ fest gefügtes Machtsystem darstellt, nur die Interessen von großen bzw. starken sozialen Gruppen durchgesetzt werden, dass innerhalb der Verbände der P. kaum praktiziert wird, dass allgemeine Interessen wie z. B. saubere Umwelt relativ unberücksichtigt bleiben und durch übersteigertes Gruppeninteresse das gesamtgesellschaftliche Interesse vernachlässigt wird.

Durch die Wiedervereinigung (→ Vereinigung) ist das Spektrum der unterschiedlichen Interessen zweifellos erweitert worden. Im → Parteiensystem war mit der → PDS eine Partei als Fraktion im 13., 14. und 16. und ist als seit 2009 als Die Linke im 17., 18. und 19. Deutschen → Bundestag vertreten. Allerdings gibt es nach wie vor strukturelle Unterscheide in der Partei zwischen Ost und West. Im Osten ist Die Linke Volkspartei und in Regierungen beteiligt. Dagegen ist Die Linke im Westen eher eine „Sperrklauselpartei“. Auch die ostdeutschen Mitglieder von → Bündnis ’90/Grüne unterscheiden sich als ehemalige Bürgerrechtler deutlich von den meisten Mitgliedern dieser Partei im Westen. Hinsichtlich der Verbände ist eine weitgehende Einordnung der in den östlichen → Ländern existierenden bzw. neu gegründeten Verbände in die jeweilige, westlich dominierte, Bundesorganisation zu bemerken. Es wird abzuwarten sein, inwiefern → Neue soziale Bewegungen (also z. B. Arbeitsloseninitiativen, Frauengruppen, Umweltschutzgruppen etc.), die sich in den 80er-Jahren in der BRD herausgebildet haben, sich auch in den neuen Bundesländern etablieren und damit zu einer weiteren Pluralisierung beitragen werden.

Aufgrund der unterschiedlichen → politischen Sozialisation und der damit verbundenen Internalisierung politischen Verhaltens setzte eine Pluralisierung, Entnormativierung und Individualisierung von Wertbezügen in den neuen Ländern erst nach der Auflösung der → DDR ein. So dürfte hinsichtlich mancher Wertorientierungen die Pluralität zwischen Ost und West größer geworden sein, wie z. B. bei materiellen versus postmateriellen Werten, die aufgrund des materiellen Nachholbedarfs in den neuen Ländern geringer bewertet werden, hinsichtlich der Geschlechterrolle etc.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Wichard Woyke

Fussnoten