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Politische Kultur | bpb.de

Politische Kultur

Sylvia Greiffenhagen Martin Greiffenhagen Jonas K. Löser

Begriff und Forschungskonzept

Politische Kultur (pK) bezeichnet allgemein das Verteilungsmuster aller Orientierungen einer Bevölkerung gegenüber dem politischen System als der Summe aller Institutionen. Zur politischen Orientierung zählen Meinungen, Einstellungen, Affekte und Werte. Zum Bereich der pK zählen auch Felder, die zunächst als unpolitisch erscheinen (Einstellungen zu Arbeit und Freizeit, religiöse Vorstellungen, Erziehungsstile und -ziele). Der Begriff wird in der Wissenschaft wertfrei verwendet, während der allgemeine Sprachgebrauch pK häufig als Synonym für einen ‚guten‘ politischen Stil nimmt. Politische Kulturforschung entsteht – oder erfährt neue Stoßkraft – insbesondere in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs. So entwickelte sich das neue Forschungskonzept nach dem Zweiten Weltkrieg in der Folge zweier politischer Erfahrungen: Erstens des Nationalsozialismus als des Rückfalls eines zivilisierten Volkes in eine barbarische Politik; zweitens der Entlassung vieler unter Kolonialverwaltung stehender Staaten in die Selbständigkeit. Seit 1989 entstand mit dem politischen Wandel in Osteuropa noch einmal ein neues Anwendungsfeld und damit neuer Schwung für die pK-Forschung. Insbesondere die deutsche Forschung erhielt mit ihren Fragen nach den Transformations-(oder Transitions-)Prozessen im eigenen Land ein Forschungs- und Experimentierfeld für Theorien und Methodenkonzepte vielfältigster Art.

Das politische Bewusstsein einer Bevölkerung und die politischen Institutionen eines Systems stehen nicht immer im Einklang, sondern können einander durchaus widersprechen: Für die deutsche Politikgeschichte liefert die Zeit der Weimarer Republik ein anschauliches Feld für das Auseinanderklaffen eines politischen Bewusstseins, das noch in vergangenen Strukturen beheimatet war, und politischen Institutionen, die deshalb abgelehnt und verachtet wurden (das Parlament als „Schwatzbude“). Für das Überleben eines politischen Systems gilt eine gewisse Übereinstimmung von politischer Struktur und politischer Orientierung (Kongruenz von ‚Struktur‘ und ,Kultur‘) als notwendig: Weichen Einstellungen und Werthaltungen von den Institutionen sehr stark ab, kann das System in eine Legimitäts- und Stabilitätskrise geraten. Aus diesem Grund fragt die pK-Forschung stets auch nach dem Grad an politischer Unterstützung für ein System. Die Betonung des Aspektes Stabilität hat dem Forschungskonzept gelegentlich den Vorwurf eines konservativen „bias“ eingetragen.

Neben ‚Struktur‘ und ‚Kultur‘ bildet ein zweites Begriffspaar aus ‚Makro‘ und ‚Mikro‘ einen Schlüssel zum Forschungskonzept pK. Im Zentrum der Forschung steht die einzelne Person in ihrem Verhältnis zum System, bzw. in ihren Wechselwirkungen gegenüber dem System. Die Mikro-Ebene individueller Orientierung wirkt einerseits auf die Makro-Ebene des politischen Systems ein, erhält aber andererseits kontinuierlich Impulse durch das System. PK bewegt sich also im Zwischenraum von Mikro- und Makroebene, in einem Modell, das eine theoretisch-methodische Schwierigkeit birgt: Politische Einstellungen werden individuell, also auf der Mikro-Ebene, gemessen und dann, ohne präzis zu benennenden Begründungszusammenhang und insofern potentiell unzulässigerweise durch eine Aggregation der Daten dazu genutzt, Aussagen über die Makro-Ebene zu machen. Wenn die politische Kultur Mikro- und Makroebene verknüpft, so erscheint die politische Sozialisation eines Individuums im Forschungskonzept der pK als ein zentraler und deshalb zwingend analysebedürftiger Teilaspekt. Er taucht im Rahmen der gegenwärtigen politischen Kulturforschung allerdings in der Regel als eher randständiges Thema auf, mit der Folge von weder quantitativ noch qualitativ ausreichenden Studien (und Forschungsergebnissen) auf diesem Feld. Allerdings stoßen in jüngerer Zeit Erkenntnisse aus der Politischen Psychologie in der pk-Forschung auf wachsendes Interesse (Gabriel 2016).

Das vornehmlich oder ausschließlich auf quantitativen Methoden basierende Konzept der frühen pk-Forschung in der Tradition Almond und Verba (1963) und des Behavioralismus wurde, insbesondere in Deutschland, rasch ergänzt durch ein breiter angelegtes Verständnis von pK. Der wichtigste Vertreter hermeneutisch-historisch-kulturphilosophischer Forschungsansätze ist Karl Rohe (1996). Er kritisiert insbesondere die Oberflächlichkeit politischer Einstellungen, deren Messung deshalb nicht aussagekräftig sein könne. Dagegen setzt er ein Konzept politischer Vorstellungen, die tiefer gründeten als Einstellungen und deshalb bessere Beurteilungsmaßstäbe für das tatsächliche Bild der politischen Kultur eines Landes abgäben. Rohe spricht von einer Art politischer Partitur, einem Weltbild von Gruppen, die denselben politischen Code und in der Folge vielleicht auch dasselbe Verhaltensmuster teilen.

Ein so weit gespanntes Konzept von pK-Forschung, wie Rohe es einfordert, bietet Raum für (und verlangt geradezu nach) viele(n) Disziplinen, Theorien und Forschungsmethoden. Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie, Psychologie, empirische Kulturwissenschaft mit je eigenen Interessen und Fragestellungen liefern Beiträge dafür (Greiffenhagen und Greiffenhagen 2002). Es verbindet die Geschichte des politischen Systems mit der Lebensgeschichte seiner Mitglieder und überschreitet somit den Bereich des politischen Systems in Richtung auf alle denkbaren Lebensgebiete: unter der Voraussetzung, dass Vorstellungen, die sich im individuellen Bereich herausgebildet haben, für politisches Handeln von Bedeutung sind. Die pK-Forschung verbindet auf diese Weise Sozialisationsresultate individueller Natur mit dem Verhalten von Gruppen und Großgruppen. Allerdings entsteht dabei auch die Gefahr eines Catch All-Begriffs von pK, in den jedwede mögliche Form von ‚politischer Haltung‘ integriert werden muss, mit den entsprechenden konzeptionellen und insbesondere methodischen Folgeproblemen. (Hier liegt ein zentraler Grund für die Beschränkung insbesondere des empirisch orientierten Teils politischer Kulturforschung auf wenige, einfacher zu operationalisierende Kernbereiche des Konzepts.) Dominierten noch in den 1990 Jahren die empirisch-quantitativen Methoden in der pK-Forschung eindeutig, so zeichnet sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine starke Zunahme von hermeneutischen Zugängen ab (Salzborn 2009), z. B. unter den Stichwörtern ‚unbewusste Codes‘, ‚Identität‘, ‚symbolische Sinnwelten‘ oder ‚Denkmalkultur‘. Insbesondere die Erforschung der ostdt. pK nach der Vereinigung brachte den hermeneutischen Forschungsansätzen Auftrieb.

Die empirische pK-Forschung hat im Laufe des letzten Jahrzehnts das Almond/Verba-Konzept von pK weiterentwickelt. Die zentrale Hypothese des Konzepts, nämlich die Notwendigkeit einer gewissen Kongruenz von Struktur und Kultur zur Erhaltung von Legitimität und Stabilität des Systems, wird zwar beibehalten, aber der Erklärungsanspruch des Konzepts ist reduziert. Das neue Konzept entgeht leichter dem o. a. Vorwurf konservativen Beharrens auf Systemstabilität, weil es weniger als das frühere Konzept die Folgebereitschaft der Bürger in den Mittelpunkt rückt, sondern für möglich hält, dass kritische Loyalität für die Systempersistenz einer Demokratie nützlich sein kann. Durch die Hereinnahme vieler weiterer Variablen in das Bestimmungsgefüge von pK gewinnt das Konzept in dieser neuen Form noch an Komplexität gegenüber dem ursprünglichen. Damit sind sich empirische und hermeneutische Ansätze der pK theoretisch wieder ein wenig näher gerückt (Westle 2009).

Die politische Kultur Ds

Die pK der BRD ist seit der ersten und bahnbrechenden Vielländerstudie Almond/Verbas vergleichsweise gut erforscht. Mitte der 50er-Jahre zeigten sich amerikanische Wissenschaftler im Blick auf eine demokratische Entwicklung der Westdeutschen eher skeptisch: Es werde wohl hundert Jahre dauern, bevor die Westdeutschen zuverlässige Demokraten würden. Heute gilt die BRD als eine stabile Demokratie westlichen Musters. Gründe für den raschen Wandel politischer Einstellungen und Werthaltungen vermutet man in der Schockwirkung der militärischen Niederlage, verbunden mit wirtschaftlicher Hilfe ausgerechnet durch die Feindmächte, und dem dramatischen Wirtschaftsaufschwung mit dem Resultat bis heute anhaltender wirtschaftlicher Prosperität. Vergleicht man diese günstigen Bedingungen mit den Belastungen, unter denen die erste dt. Demokratie der Weimarer Republik stand, so werden die verschiedenen Konturen und Entwicklungsbedingungen der pKen von Weimar und Bonn deutlich.

Ende der 80er-Jahre lieferte die Bevölkerung der BRD auf allen Feldern das Bild zuverlässiger Bürger einer Demokratie: Das politische Interesse war stark gestiegen, das politische System wurde akzeptiert, politische Partizipation war signifikant angewachsen, auch die affektive Bindung an das politische System hatte sich gefestigt. Ein Gesichtspunkt blieb allerdings weiterhin für die politische Orientierung der Westdeutschen maßgebend: Politische Systemakzeptanz beruht stark auf ökonomischer Effektivität. Schwachpunkte der dt. demokratischen pK lassen sich aus der dt. Politikgeschichte erklären: Ein immer noch ungenügend ausgebildeter Sinn für Pluralität, schwache Konfliktfähigkeit, ungenügende Achtung von Minderheiten und Opposition erinnern noch heute an die lange obrigkeitsstaatliche Tradition Ds.

Die Vereinigung von BRD und DDR bedeutete zwar eine rasche Homogenisierung der politischen Institutionen in beiden Teilen der Nation, aber damit nicht gleichzeitig eine Angleichung der politischen Orientierungen der alten und der neuen Bundesbürger. Viele hatten auf Grund von Meinungsumfragen während und kurz nach dem Umbruch, die überraschend ähnliche Meinungen bei den Ost- und Westdeutschen zu Tage förderten, zunächst eine sehr rasche Angleichung der Einstellungen und Werte in beiden Populationen erwartet. Nachfolgende Untersuchungen deckten allerdings eine teilweise tiefe Kluft zwischen zwei ganz verschiedenen pKen in Ost und West auf.

Obrigkeitsstaatliche Traditionen, die in der BRD im Laufe von 40 Jahren Erfahrung mit westlicher Demokratie langsam abgebaut wurden, lebten in der DDR fort, wurden durch die sozialistische Staatsbürokratie und SED-Herrschaft sogar noch verstärkt. So gibt es bis heute große Unterschiede zwischen der westdt. pK und der ostdt. Das gilt z. B. für ‚sekundäre Tugenden‘, für mangelnde Ambiguitätstoleranz (das Ertragen von Situationen und Themen, die nicht nach einem Entweder-Oder-Schema gelöst werden können) oder die Unvertrautheit mit parteipolitischer Streitkultur. Ein eigenes ostdt. Einstellungsprofil zeigt sich vor allem im Blick auf die Staats-Orientierung: Ältere Strukturen einer deutschen „Staatskultur“ (gegenüber angelsächsischer „Gesellschaftskultur“; vgl. K. Rohe) wurden durch die Erfahrungen mit sozialistischer Staatsbürokratie verstärkt; sie äußern sich heute in hohen Erwartungen an staatliche Leistungen. Unterschiede gibt es auch im Blick auf das Vertrauen in das System der Demokratie. Jüngere Meinungsumfragen im Kontext von Migration und Flucht lassen auch heute noch tiefgreifende Unterschiede der beiden pKen in Deutschland vermuten.

Die Analyse des Vereinigungsprozesses hat inzwischen eine eigene Forschungsgeschichte. Die Kritik an den hergebrachten Konzepten führte zu einer Umorientierung im forschungsleitenden Zugang mit entsprechenden Veränderungen im methodischen Zugriff. Nicht nur aus Mangel an zuverlässigen Zeitreihen (Panelstudien) und überhaupt Ergebnissen der Umfrageforschung, sondern aus grundsätzlichen theoretischen Überlegungen gerieten nun historisch-hermeneutische, auch ethnologische Zugänge in den Blick. Kritik gab es vor allem an der ahistorischen rational-choice-Methode, die ungeeignet sei, kulturell-regionale Eigenheiten in die Analyse mit einzubeziehen. Heute stellt sich die Transitionsforschung als ein Kosmos vieler sozialwissenschaftlicher Disziplinen und Forschungsansätze dar (Berg-Schlosser 2015).

Aktuell beschäftigt sich die pK-Forschung in D mit den Auswirkungen der Pluralisierung und gesellschaftlichen Differenzierung infolge von Migration. Im Mittelpunkt stehen die folgenden Fragen: Zum einen, inwieweit sich demokratische Werte und Einstellungen angesichts der von vielen Bürgern als kritisch wahrgenommenen Entwicklung behaupten werden. Und zum anderen, inwiefern sich im Fall einer ‚echten‘ Integration von Menschen aus anderen Kulturkreisen (im Sinne eines Aufeinanderzuwachsens) die pK Ds im Ganzen verändert (Pickel und Pickel 2018).

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Sylvia Greiffenhagen

Fussnoten