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Tarifpolitik/Tarifautonomie | bpb.de

Tarifpolitik/Tarifautonomie

Christoph Strünck

Definition und Grundlagen

In Deutschland regeln Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände die Lohn- und Arbeitsbedingungen weitgehend autonom und ohne Intervention des Staates. Aus diesem Grund spricht man auch von „Tarifautonomie“. Das Grundgesetz bietet dafür die Basis. In Art. 9, Abs. 3, Satz 1 GG ist die so genannte „Koalitionsfreiheit“ definiert: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet“. Weitere wichtige Gesetze, welche die Tarifautonomie und die damit verbundene betriebliche Mitbestimmung regeln, sind das Tarifvertragsgesetz, das Gesetz zur Montanmitbestimmung sowie das Betriebsverfassungsgesetz. Bemerkenswert ist, dass Streiks und Aussperrungen durch Arbeitgeber in Deutschland nicht unmittelbar gesetzlich geregelt sind. Hier spielen die Arbeitsgerichte mit ihren Urteilen eine entscheidende Rolle.

Der in Deutschland verbreitete Flächentarifvertrag wird auf Branchenebene zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden verhandelt. Das Verhandlungsmandat haben auf Arbeitgeberseite die Branchenverbände wie Gesamtmetall und auf Gewerkschaftsseite eine branchen- oder berufsbezogene Gewerkschaft. Eine besondere Situation sind die Verhandlungen im öffentlichen Dienst. Dort sind Kommunen, Länder und Bund als Verhandlungsgemeinschaft auf der Arbeitgeberseite organisiert. Die Beschäftigten des öffentlichen Diensts werden wiederum in erster Linie durch ver.di und den Deutschen Beamtenbund vertreten. Beamte dürfen nicht streiken, doch die Abschlüsse im öffentlichen Dienst werden in der Regel auf sie übertragen.

Betriebsräte dürfen nicht selbst zum Streik aufrufen und sind auch keine direkten Verhandlungspartner. Es gibt allerdings auch betriebsbezogene Tarifverträge, so genannte „Haustarifverträge“. Sie gelten in der Regel in großen und gewerkschaftlich gut organisierten Betrieben wie zum Beispiel der Volkswagen AG und werden zwischen der Unternehmensleitung und der Gewerkschaft geschlossen.

Typen und Funktionen von Tarifverträgen

Tarifverträge regeln unterschiedliche Bereiche des Arbeitslebens und es gibt auch unterschiedliche Typen von Verträgen. Der bekannteste ist der Lohn- und Gehaltstarifvertrag. Hier werden konkrete Erhöhungen der Ecklöhne ausgehandelt, in der Regel in Prozenten. Es gibt aber auch (zusätzliche) Einmalzahlungen in absoluten Beträgen, wovon niedrige Lohngruppen stärker profitieren. Solche Tarifverträge haben meist nur eine kurze Laufzeit, in der Regel ein Jahr. Zusätzlich geben Entgeltrahmentarifverträge vor, welche Berufsgruppen in welche Einkommensgruppen eingeteilt werden sollen.

Andere Aspekte von Arbeitsbedingungen werden in der Regel in Manteltarifverträgen festgelegt, die über mehrere Jahre laufen. Solche Tarifverträge regeln Fragen von Arbeitszeiten, Urlaubsansprüchen oder auch die Struktur von Schichtarbeit. Neben solchen generellen Manteltarifverträgen existieren viele weitere Tarifverträge, die ganz spezielle Bereiche erfassen, etwa die betriebliche Altersvorsorge, Altersteilzeit oder das betriebliche Gesundheitsmanagement.

Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften verteidigen trotz Interessenunterschieden dieses System des Flächentarifvertrags. Die Arbeitgeberverbände verbinden damit das Ziel, Konflikte aus den Betrieben herauszuhalten und gleiche Wettbewerbsbedingungen für ihre Mitglieder zu schaffen. Für die Gewerkschaften geht es darum, ihre Mitglieder zu schützen, sie am wirtschaftlichen Fortschritt zu beteiligen und die Arbeitswelt mitzugestalten. Das Tarifvertragsgesetz (§ 4a Abs. 1) erwähnt explizit die Schutzfunktion, Verteilungsfunktion, Befriedungsfunktion sowie die Ordnungsfunktion von Tarifverträgen.

Dynamik von Tarifverhandlungen

Der Verlauf von Tarifverhandlungen ist gesetzlich gerahmt, hat aber auch eine politische Eigendynamik. Die Tarifautonomie beruht darauf, dass sowohl Arbeitgeber als auch Beschäftigte hinreichend gut organisiert sind, um tariffähig zu sein. Bislang konnten sich beide Seiten häufig schon nach wenigen Verhandlungsrunden einigen, was auch ein Ausweis der Tarifautonomie und der relativen Stärke beider Seiten ist. Tatsächlich wird in Deutschland im internationalen Vergleich eher selten gestreikt, entsprechend ist der Ausfall durch Streiktage relativ gering. Auch aus diesem Grund hat sich in Politik und Öffentlichkeit der Ausdruck der „Sozialpartnerschaft“ als Synonym für Tarifautonomie durchgesetzt.

Zu Beginn einer jeden Tarifrunde erheben die Gewerkschaften ihre Forderungen. Häufig drängen die Gewerkschaften darauf, einen Ausgleich für die Inflation zu bekommen plus einer Beteiligung am Produktivitätsfortschritt. Auch eine zusätzliche „Umverteilungskomponente“ kommt in Betracht. In der Regel erheben Gewerkschaften die Forderung nach einem bestimmten Prozentwert, um welchen die Löhne steigen sollen. In den Verhandlungen geht es dann meist um einen komplizierten Mix aus absoluten Sockelbeträgen, einer gestaffelten prozentualen Erhöhung und einer bestimmten Laufzeit des Tarifvertrags. Die Gewerkschaften erwarten ein Angebot der Arbeitgeberseite, zumindest aber Verhandlungsbereitschaft. Gibt es kein Angebot, oder können sich beide Seiten in Verhandlungen nicht einigen, kann es zum Arbeitskampf kommen. Häufig begleiten auch schon kurze Warnstreiks die Verhandlungen nach Ablauf der Friedenspflicht, um den Druck auf die Arbeitgeber zu erhöhen. Die Arbeitgeber setzen das ihnen zustehende Mittel – Aussperrungen von Beschäftigten – hingegen kaum noch ein.

Die Gewerkschaften dürfen in Deutschland Streiks nur im Rahmen aktueller Tarifauseinandersetzungen organisieren. Politische Streiks oder gar ein Generalstreik sind gesetzlich verboten. Der Streik muss außerdem verhältnismäßig sein, was auf Antrag der Arbeitgeberseite auch von den Arbeitsgerichten überprüft werden kann. Auch hier ist eine grundlegende Ordnungsfunktion der Tarifautonomie erkennbar, die den klassischen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit institutionalisiert und in die marktwirtschaftliche Ordnung integriert hat.

Zu möglichen Streiks befragen Gewerkschaften ihre Mitglieder. In einer Urabstimmung müssen mindestens 75 Prozent der Mitglieder im Bereich des vorgesehenen Tarifvertrags zustimmen, damit gestreikt werden darf. Gibt es im weiteren Verlauf ein Verhandlungsergebnis, reichen 25 Prozent Zustimmung aus, um den Streik zu beenden. Können sich Gewerkschaften und Arbeitgeber trotz all dieser konfliktregulierenden Mechanismen nicht einigen, gibt es auch die Option eines Schlichtungsverfahrens. Langwierige, über Monate andauernde Verhandlungspoker ohne Ergebnis sind nach wie vor selten in Deutschland.

Der Staat hält sich in solchen Auseinandersetzungen zurück, um die Tarifautonomie zu wahren. Dennoch kann er Tarifverträge für allgemein verbindlich erklären. Dann gilt ein Vertrag rechtlich für alle im Geltungsgebiet ansässigen Unternehmen mit ihren Beschäftigten. Das Bundesarbeitsministerium erklärt Tarifverträge allerdings nur dann für allgemein verbindlich, wenn die Tarifparteien dies gemeinsam beantragen und eine paritätisch von Arbeitgebern und Gewerkschaften besetzte Kommission ihr Einvernehmen signalisiert. Die Tarifautonomie flankiert den Typus eines selbstverwalteten Sozialstaats und einer koordinierten Marktwirtschaft, wie sie die Bundesrepublik trotz aller Veränderungen immer noch darstellt.

Wandel der Tarifautonomie

Die Stabilität der Tarifautonomie sowie die Verbreitung von Flächentarifverträgen hängen von rechtlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen ab. In allen drei Dimensionen stecken Herausforderungen für das System der Sozialpartnerschaft.

Rechtliche Veränderungen betreffen das Verhandlungsmandat, vor allem das der Gewerkschaften. Das Tarifvertragsgesetz definiert formal dieses Mandat. Die Arbeitsgerichte stellen inhaltlich fest, wodurch Vereinigungen „tariffähig“ sind. Genau um diesen Begriff gab und gibt es immer wieder politische Auseinandersetzungen und Interessenkonflikte. Einer dieser Konflikte bezieht sich auf die Konkurrenz zwischen Gewerkschaften. Diese Konkurrenz war in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern historisch lange Zeit eher schwach. Denn seit Gründung der Bundesrepublik hat sich ein Modell so genannter „Einheitsgewerkschaften“ entwickelt, die unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) versammelt sind, wie etwa ver.di oder die IG Metall. Diese Einheitsgewerkschaften verfolgen das Prinzip „eine Branche, eine Gewerkschaft“ und sind keine (partei-)politischen Richtungsgewerkschaften.

Allerdings agieren auch außerhalb des DGB eigenständige Gewerkschaften, häufig in Form von Sparten- oder Berufsgewerkschaften. Dazu gehören z. B. die Pilotenvereinigung Cockpit oder die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer. Sinkende Mitgliederzahlen von Gewerkschaften und steigende Lohnkonkurrenz zwischen Berufsgruppen haben diese Konkurrenzsituation verschärft. In der Praxis gibt es daher auch immer wieder konkurrierende Tarifverträge. Das Bundesarbeitsgericht hat bis 2010 mit seinen Urteilen stets einen Tarifvertrag bestimmt, der dann anzuwenden war. Seit 2015 regelt ein neues Gesetz, das immer derjenige Tarifvertrag gilt, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern abgeschlossen worden ist. Diese Regelung ist umstritten, da Kritiker in ihr einen Eingriff in die Tarifautonomie sehen und sie in der Praxis schwierig anzuwenden ist.

Auch die Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 stellte eine Zäsur für die Tarifautonomie dar. Der Staat definierte damals erstmals eine Lohnuntergrenze, wofür eigentlich Arbeitgeber und Gewerkschaften zuständig sind. Zu diesem Schritt kam es auch, weil Tarifverträge in einzelnen Branchen kaum noch zustande kommen.

Diese Schwäche hat vor allem soziale und wirtschaftliche Gründe. Zum einen ist der Organisationsgrad der Gewerkschaften vor allem im privaten Dienstleistungssektor teilweise so gering, dass die Tariffähigkeit in Frage steht. Die Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften hängt von vielen Faktoren ab: dem Wandel der Wirtschafts- und Beschäftigtenstruktur, der Verteilung von Vollzeit und Teilzeitarbeit, mangelnder Attraktivität einiger Gewerkschaften, aber auch von negativen Einstellungen gegenüber großen Mitgliedsorganisationen.

Doch auch die Arbeitgeberseite steht vor Herausforderungen. Hier geht der Organisationsgrad ebenfalls zurück. Neu gegründete Unternehmen treten selten den Arbeitgeberverbänden bei, die nach wie vor von großen, etablierten Unternehmen dominiert werden. Eine Reihe von Arbeitgeberverbänden bietet inzwischen Mitgliedschaften „ohne Tarifbindung“ an, damit neue Mitglieder nicht automatisch an die aus ihrer Sicht „teuren“ Tarifverträge gebunden sind. Der Konflikt um Tariflöhne, die aus Sicht kleiner und mittlerer Unternehmen zu stark an den Möglichkeiten großer Unternehmen ausgerichtet sind, ist ein Dauerstreit im Arbeitgeberlager.

Der Wandel der Wirtschafts- und Unternehmensstrukturen schwächt tendenziell die Arbeitgeberverbände als Verhandlungspartner der Gewerkschaften. Wirksame Flächentarifverträge werden schwieriger und seltener. Immer weniger Beschäftigte sind an einen Tarifvertrag gebunden, wobei die Unterschiede zwischen den Branchen nach wie vor beträchtlich sind. 1998 arbeiteten in Westdeutschland noch 76 Prozent aller Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben, während es in Ostdeutschland 63 Prozent waren. 2017 waren es nur noch 57 Prozent in Westdeutschland und 44 Prozent in Ostdeutschland.

In den Finanzkrisen seit 2007 galt das deutsche Modell der Sozialpartnerschaft vielen ausländischen Beobachtern als Garant für Stabilität. Doch das Modell selbst ruht auf sozialen, wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die sich massiv verändern.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Christoph Strünck

Fussnoten