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Verkehrspolitik | bpb.de

Verkehrspolitik

Weert Canzler

Triebkräfte des Verkehrs

In keinem Resort wechseln in Deutschland die Minister so häufig wie im Verkehrsministerium, ihre Rolle ist oft undankbar. Auf der einen Seite verwaltet ein Verkehrsminister – die männliche Form ist korrekt, denn eine Verkehrsministerin gab es tatsächlich noch nicht – zwar einen großen Etat, vor allem für Infrastrukturvorhaben. Auf der anderen Seite werden weder die Verkehrsprobleme noch die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an eine wirksame Verkehrspolitik kleiner. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass der Verkehr Nebenfolgen von Entscheidungen in anderen Politikbereichen bewältigen muss. Wenn beispielsweise Schulstandorte geschlossen oder Einkaufszentren auf der „grünen Wiese“ genehmigt werden, nimmt in aller Regel der Verkehr zu. Dann kann die Verkehrspolitik nur noch reagieren, solange sie nicht als „integrierte Verkehrspolitik“ agieren kann (vgl. auch Schwedes 2014).

Eine wichtige Kenngröße im Verkehr ist der modal split. Er zeigt den Anteil der verschiedenen Verkehrsträger am Verkehrsaufkommen an. Der modal split in Deutschland weist ebenso wie in den meisten anderen früh industrialisierten Ländern einen Anteil des Autos bei den zurückgelegten Kilometern im Personenverkehr von mehr als 80 Prozent aus. Dabei geht es, wie schon die Übersetzung von Automobilität als Selbstbeweglichkeit zeigt, nicht darum, passiv transportiert zu werden. Selbstbeweglicher Verkehr ist aktiv und per se eigensinnig, er folgt nicht immer strenger Zweck-Mittel-Rationalität. Persönliche Vorlieben, Routinen, demonstrativer Konsum oder Ignoranz der tatsächlichen Kosten sind oftmals die Gründe dafür, das Auto zu wählen und nicht etwa kostengünstigere Alternativen (sofern es sie überhaupt gibt). Nicht selten spielen Reisezeiten, Kostenvergleiche, gar externe Effekte kaum eine Rolle für die Entscheidung, das Auto zu nutzen und Alternativen auszuschlagen (vgl. Canzler 2016).

Demgegenüber ist der Gütertransport von betriebswirtschaftlichen Kalkülen bestimmt. Gewerbliche Transporteure orientieren sich an Kosten- und Zeitkriterien. Solange jedoch der Umweltverbrauch nicht hinlänglich in die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen Eingang findet und die Transportpreise nicht die „ökologische Wahrheit“ ausdrücken, ist das Wachstum des Güterverkehrs „quasi eingebaut“. Rationalisierungseffekte in der Güterlogistik – und in globaler Hinsicht insbesondere die Einführung der Containertechnik – sind zum Wachstumstreiber geworden. Entscheidend waren in den letzten Jahrzehnten die katalytische Wirkung der Logistik und die Effekte der Deregulierung im Güterverkehr (vgl. Plehwe 2016).

Klima- und umweltpolitisches Sorgenkind

Offensichtlich gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Personen- und Güterverkehr. Beide folgen einem expansiven Entwicklungsmuster. Außerdem beruhen beide auf der Umwandlung von fossilen Energieträgern in Bewegung. Heute hat der Verkehr einen Anteil von einem Viertel an den Treibhausgasemissionen, Tendenz steigend. Neben der Landwirtschaft ist der Verkehr der Sektor, der bisher am wenigsten zur Minderung der klimarelevanten CO2-Emissionen beiträgt. Soll die durchschnittliche Temperatur auf der Erde nicht stärker als 2 Grad steigen, muss der Verkehr in den nächsten Jahrzehnten seine Energiebasis wechseln, er muss dekarbonisiert werden. Was das bedeutet, wird im Weißbuch der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2011 klar beschrieben: Bis spätestens 2050 müssen die Treibhausgasemissionen im Verkehr in Europa um mindestens 60 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 reduziert werden (EU COM 2011). Nach dem Klimaschutzplan der Bundesregierung sollen die verkehrsbedingten Emissionen im Verkehr in Deutschland bereits bis 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 sinken.

Seit Jahrzehnten nehmen allerdings die Neuzulassungen von Kraftfahrzeugen in Deutschland zu. Mittlerweile sind es fast 47 Millionen Pkw und über 65 Millionen Kraftfahrzeuge insgesamt. In den letzten 25 Jahren sind die verbrauchsbedingten CO2-Emissionen im Verkehr mit leichten Schwankungen auf dem gleichen Niveau (vgl. Agora Verkehrswende 2017, S. 11). Der Dieselskandal zeigt seit 2015, dass vielfach weder die gewünschten Verbrauchs- noch die vorgeschriebenen Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb erreicht werden. Aus diesem Grund wurde eine manipulierte Steuerungssoftware aufgespielt, die auf das Erkennen von Prüfstandsituationen hin getrimmt war, in denen eine optimale Abgasnachbereitung zuverlässig funktionieren musste. Offenkundig wurde zudem, dass es zwischen den Herstellerangaben zum Kraftstoffverbrauch und den realen Verbräuchen eine große Kluft gibt, die seit Jahren zunimmt und bereits mehr als 40 Prozent beträgt.

Nicht nur die fossilen Antriebstechniken und die damit verbundenen Treibhausgasemissionen sind ein Problem. Der bisher ungebrochen wachsende motorisierte Individualverkehr braucht auch viel Platz – und zwar sowohl wenn er fließt als auch wenn er ruht. Autos stehen durchschnittlichen mehr als 23 Stunden am Tag herum. Der massenhafte Individualverkehr kommt vom Raumbedarf schon seit Jahren in vielen Ballungsräumen an seine Grenze bzw. hat diese längst überschritten. Die Dominanz des Autos ist nicht zufällig entstanden, sie war über viele Jahre politisch gewollt. In deutschen Städten und in anderen früh motorisierten Ländern wurde lange Zeit das Planungsideal der „autogerechten Stadt“ verfolgt (vgl. Canzler et al. 2018).

Zwar wurden in den letzten Jahrzehnten die Antriebe effizienter, auch wurden Gewichtseinsparungen mit leichteren Materialien erreicht und windschnittigere Fahrzeugdesigns entwickelt. Aber zugleich wurden die Effizienzgewinne dadurch wieder zunichte gemacht, dass die Autos im Durchschnitt fortwährend größer, schneller und höher wurden. Die Anteile der Segmente verschoben sich weg von den Kleinwagen-Modellen und der unteren Mittelklasse hin zu den SUVs und zu Ober- und oberen Mittelklassewagen. Diese Reboundeffekte sind das Ergebnis veränderten Nachfrageverhaltens (vgl. Lange und Santarius 2018). Aber das Nachfrageverhalten folgt keinem Naturgesetz, es hat auch mit (Fehl)anreizen wie dem Dienstwagenprivileg in Kombination mit einer optionalen Betriebskostenverrechnung für Selbstständige oder der Flottengrenzwertberechnung nach Gewicht zu tun.

Wandel von Einstellungen und Verhalten

Eine Verkehrswende steht auf der Agenda. Sie bedeutet jedoch nicht nur einen Wechsel von Antriebstechniken und eine Schwerpunktverlagerung bei den Infrastrukturinvestitionen zugunsten der gegenüber der Straße effizienteren Schiene, sondern auch Verhaltensänderungen und sogar eine Änderung der Raum- und Siedlungsstrukturen. Aus der sozialwissenschaftlichen Verkehrsforschung ist bekannt, dass gerade im Alltagsverkehr ein habitualisiertes Verhalten der Normalfall ist. Es gilt Störungen zu vermeiden und Verkehrsmittel „zu nutzen ohne nachzudenken“. Das private Auto hilft dabei, diese Bedürfnisse zu befriedigen, und macht es dadurch Alternativen schwer.

Die Dominanz des individuellen Massenverkehrsmittels Auto hält bis heute unvermindert an. Das Erbe einer Politik der autogerechten Stadtentwicklung wirkt nach. Gleichzeitig verändert sich, hinter dem Rücken der Akteure, die urbane Mobilität. Verschiedene technische und gesellschaftliche Trends treiben den Wandel voran. Erstens der Gesundheitsschutz und das Bemühen um mehr Lebensqualität in den Städten: Um die Luftschadstoffbelastung gerade in den Städten zu senken, werden Emissionsgrenzwerte weltweit weiter verschärft. Ambitionierte Grenzwerte für Stockoxide und Feinstaub sind von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren – wenn überhaupt – nur mit erheblichem technischen Aufwand und hohen zusätzlichen Kosten einzuhalten. Zweitens der Klimaschutz: Viele Kommunen setzen sich in lokalen Klimaschutzplänen ambitionierte Klimaschutzziele, die nicht zuletzt auch den Verkehr betreffen. CO2-Reduktionsziele sind im Verkehr nur mit einer Verlagerung zum Umweltverbund und mit einer verstärkten Elektrifizierung des motorisierten Verkehrs auf Grundlage Erneuerbarer Energien zu erreichen. Drittens die Digitalisierung: Globale Digitalunternehmen drängen mit neuen Geschäftsmodellen in die Verkehrsmärkte. Ein Boom an verkehrsbezogenen Apps hat eingesetzt.

Die persönliche Digitalisierung ermöglicht integrierte Mobilitätsdienstleistungen aus „einem Guss“. Damit eröffnen sich neue Chancen für den Öffentlichen Verkehr (ÖV). Ob und inwieweit der ÖV seine verkehrs- und umweltpolitischen Vorzüge ausspielen kann und spürbare Modalverschiebungen tatsächlich zu erreichen sind, hängt stark von seiner Attraktivitätssteigerung und der „intermodalen Passung“ ab. In vielen Städten gehören öffentliche Autos und Fahrräder bereits heute zum selbstverständlichen Teil des öffentlichen Verkehrsangebotes. Sie erlauben Haus-zu-Haus-Verbindungen und können damit einen Vorteil des privaten Autos ausgleichen, nämlich auch die „erste und letzte Meile“ eines Weges schnell und bequem zu überwinden. Das sind Hinweise auf eine Konvergenz von privatem und öffentlichem Verkehr.

Hinter der möglichen Konvergenz stecken nicht nur technische Entwicklungen. Gleichzeitig sind auch bei den Einstellungen und beim Verhalten insbesondere bei den jüngeren Generationen von Stadtbewohnern Veränderungen zu beobachten, die auf eine Relativierung der Bedeutung des eigenen Autos und auf eine verstärkte pragmatische Inter- und Multimodalität hinweisen. Für die Nutzer von flexiblen Carsharing-Systemen ist es wichtig, hier und jetzt ein Fahrzeug zu bekommen. Die Entscheidungen werden in Sekundenbruchteilen getroffen. Weder die Marke des Fahrzeugs noch die des Carsharing-Anbieters sind dabei noch entscheidend. Der unmittelbare Fahrtenwunsch und dessen sofortige Ermöglichung sind vordringlich. Das Smartphone wird zum digitalen Generalschlüssel für den intermodalen Verkehr.

Neben den wachsenden intermodalen Sharing-Angeboten, die vor allem die digitalen Jungen in den Städten interessiert, erlebt der Rad- und Fußverkehr vielerorts eine Renaissance. Mittlerweile steigen auch in vielen Städten die Investitionen für abgetrennte Radstreifen, Radschnellwege und Abstellanlagen sowie die Ausweitung von public-bike-Services. Die Entwicklung dürfte sich fortsetzen, da mehr und sichere Fahrradwege auch diejenigen auf das Rad bringen, die bisher ängstlich waren. Kopenhagen ist für viele Städte das Vorbild (vgl. Gehl 2015). Das „Umstiegspotenzial“ auf das Fahrrad ist erheblich, wenn man bedenkt, dass die Hälfte der städtischen Wege unter 5 Kilometer liegen.

Die Verdichtung städtischer Räume erhöht schließlich die Erreichbarkeit vieler alltäglicher Ziele und erweitert damit die Spielräume für den Zufußverkehr. Umgekehrt profitiert der Zufußverkehr davon, dass der städtische Raum weniger von Autos blockiert wird – vorausgesetzt, dass es tatsächlich einen Rückbau von Autofahrbahnen und Parkflächen gibt. Es kommt zu einer positiven Feedbackschleife für den Zufußverkehr dort, wo die Bedingungen für die so genannte „aktive Mobilität“ verbessert werden. Auch das steigende Gesundheitsbewusstsein kommt der aktiven Mobilität zugute.

Bei den Einstellungen zum Verkehr und zu den damit verbundenen Belastungen schlägt sich der Unmut über die alles dominierende Stellung des Autos quer durch alle Altersgruppen nieder. So zeigt die jüngste Umweltbewusstseinsstudie des Umweltbundesamt, dass eine große Mehrheit von über 80 Prozent der repräsentativ befragten Deutschen es generell als „Beitrag zum guten Leben“ betrachtet, wenn es weniger Autos in den Städten gäbe.

Strategien und Instrumente der Verkehrswende

In der verkehrspolitischen Fachdebatte besteht vor diesem Hintergrund Konsens darüber, dass eine Stärkung der Alternativen zum motorisierten Individualverkehr auch Teil einer überfälligen umfassenden Änderung von gesetzlichen und steuerlichen Rahmenbedingungen sein muss, die bisher einseitig auf das private Auto ausgerichtet sind. Eine konsequente Verkehrswendepolitik muss zum einen auf die Internalisierung der externen Kosten des Verkehrs und auf ambitionierte Grenzwerte für Treibhausgase setzen. Die Internalisierung externer Kosten bedeutet im Verkehr eine konsequente und flächendeckende Finanzierung des Verkehrs und seiner Infrastrukturen durch die Nutzer. Die Instrumente der Nutzerfinanzierung reichen von der Straßen- und Citymaut bis zur konsequenten Parkraumbewirtschaftung. Wichtig ist zudem eine langfristige CO2-Grenzwertsetzung, die sich an den klimapolitisch notwendigen Reduktionen von Treibhausgasen bis hin zur Nullemission orientiert und damit die Elektrifizierung der Antriebe forciert.

Zum anderen ist eine Verkehrswende mit einer verstärkten Förderung des nicht-motorisierten Verkehrs vor allem über lokale Maßnahmen verbunden. Breite Fußwege, Fahrradstreifen auf den Fahrbahnen zulasten des Autoverkehrs oder umsteigefreundliche Fahrradabstellanlagen gehören dazu. Das Berliner Mobilitätsgesetz von 2017 nimmt hier eine Vorreiterrolle ein. Darüber hinaus ist die Integration verschiedener Verkehrsträger in intermodale Angebote zu betreiben.

Konflikte sind vorprogrammiert, wenn Vorteile und Begünstigungen des privaten Autos wie das Dienstwagenprivileg und die oft noch kostenfreie Nutzung des öffentlichen Raumes zum Parken angetastet werden. In beiden Fällen handelt es sich um versteckte Subventionen, aber niemand verzichtet gerne auf liebgewordene Privilegien. Auch eine schrittweise konsequente Umsetzung des Prinzips der Nutzerfinanzierung dürfte von vielen als Angriff auf die automobile Freiheit empfunden werden. Außerdem wird jede Verteuerung der konventionellen Autos die Frage nach einer drohenden sozialen Schieflage provozieren. Nicht jeder kann sich einen Tesla und eine Bahncard 100 leisten. Soziale Selektionseffekte der Verkehrswende sind tatsächlich kaum zu vermeiden und müssen zumindest teilweise kompensiert bzw. der Umstieg auf neue postfossile Verkehrskonzepte muss erleichtert werden.

Einige Instrumente der Verkehrswende drohen im föderalen bundesdeutschen System in die Politikverflechtungsfalle zu geraten. Denn während beispielsweise die Maut auf Fernstraßen eine Bundesangelegenheit ist, müssen die Kommunen im Streit um die Parkraumbepreisung die Standortkonkurrenz um Einzelhandelsgeschäfte aushalten. Die Einführung von intermodalen Diensten betrifft hingegen die kaum verfasste Einheit einer Region und ist bisweilen sogar länderübergreifend. Auch können die verschiedenen Teilziele eines Umbaus der Verkehrslandschaft untereinander in Konflikt geraten.

Nicht zuletzt ist die mächtige Autoindustrie betroffen, sie unterliegt einem hohen Druck zum Strukturwandel. Auch ihre Gewerkschaften haben gute Gründe skeptisch gegenüber der Verkehrswende zu sein. Werden weniger und einfachere Autos gebaut, gehen gut bezahlte Arbeitsplätze verloren. Die Elektrifizierung der Antriebe führt zu einer Entwertung vorhandenen Know hows in der Verbrennungsmotortechnik und zu einem Einbruch in der Motoren- und Antriebskomponentenproduktion. Gleichwohl gibt es in der Transformation hin zu einem vernetzten, postfossilen Verkehr auch Chancen und potenzielle Gewinner. Dazu gehören neben den nicht-motorisierten Verkehrsmitteln vor allem die Dienstleister für neue intermodale Angebote.

Resümee und Aussichten

Derzeit ist der Verkehr von einer aus Klimaschutzgründen notwendigen Dekarbonisierung weit entfernt. Die Klimaschutzziele des Bundes, aber auch vieler Städte sind nur zu erreichen, wenn im Verkehr die Treibhausgasemissionen signifikant sinken. Mit verkehrs- und umweltpolitischen Hoffnungen für mehr Effizienz sind vor allem intermodale Mobilitätsdienstleistungen, also die Verknüpfung verschiedener Verkehrsmittel in einem integrierten Angebot, verbunden, die eine Alternative zum privaten Auto bieten können. Ein leistungsfähiger Öffentlicher Verkehr ist das Rückgrat, ein sicheres und engmaschiges Fahrradwegenetz und attraktive Zufußverbindungen gehören ebenso dazu wie unkompliziert nutzbare Fahrradverleih- und Carsharingangebote. Dafür braucht es mehr Investitionen in den Verkehrsträger Schiene und im städtischen Raum einen Umbau- und Rückbau von Straßen zugunsten von öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Fahrrad.

Mit einer an Alternativen zum privaten Auto orientierten Infrastrukturpolitik und einer beschleunigten Elektrifizierung des motorisierten Verkehrs ist es allerdings nicht getan. Die Klimaziele, die Beweglichkeit und die Lebensqualität in den Städten brauchen einen anderen Verkehr, andere Verkehrsangebote und auch einen Wandel des Verkehrsverhaltens (ausführlich Rammler 2017). Es lassen sich tatsächlich einige Trends erkennen, die einen Wandel zu einem effizienten und klimaverträglichen Verkehr ermöglichen und unterstützen. Aber ohne Veränderungen in der politischen Regulierung und ohne eine weitgehende Veränderung des Rechtsrahmens wird es nicht gehen. Konkret bedeutet das: den Abbau von steuerlichen Vergünstigungen wie dem Dieselbonus, der Entfernungspauschale und der Dienstwagen-Regelung sowie die Reform des Straßenverkehrsrechtes und der Gebührenordnung für Ordnungswidrigkeiten wie Falschparken oder auch für das Bewohnerparken in parkraumbewirtschafteten Zonen.

Ist die Verkehrswende realistisch? Die Erfolgsgeschichte des Autos lehrt: Ein politisches Programm und übergeordnetes Narrativ standen Pate für eine konsequente Implementierung von verkehrsrechtlichen, steuerlichen und infrastrukturellen Voraussetzungen dafür, dass der „Traum vom privaten Auto“ wahr wurde. Auf dem gleichen Wege und mit der gleichen Konsequenz müsste auch das neue Ziel der Verkehrswende mit seinen Elementen der Elektrifizierung, der Intermodalität und der Stärkung des Öffentlichen Verkehrs sowie der Renaissance von Zufußgehen und Radfahren verfolgt werden. Doch das passiert nicht, es gibt auch noch kein neues Narrativ. Gleichzeitig ist offen, wer die Verkehrswende vorantreibt. Was könnte man tun, um die Rechts- und Abgabenordnung im Verkehr zu ändern, ohne damit die allseits geschätzten Routinen und Sicherheiten aufzugeben? Eine Möglichkeit aus dieser Zwickmühle herauszukommen, besteht darin, die überfälligen Veränderungen probeweise und örtlich sowie zeitlich begrenzt in „regulativen Experimentierräumen“ zu versuchen (siehe Canzler und Knie 2018, S. 109 ff.). Man hätte dann im Fall des Scheiterns oder beim Auftreten nicht-intendierter Negativeffekte die Möglichkeit, wieder zum Ausgangspunkt zurückzukommen. Eine Kultur des Experimentierens würde es erlauben, den bereits schon erkennbaren neuen Praktiken auch einen entsprechenden Raum einzurichten, um auszutesten, ob sich diese Praxis verallgemeinern und stabilisieren lässt und welche Folgen möglicherweise zu erwarten sind. Die Änderungen müssen als reale Experimente im Alltag erlebbar und Grundlage einer künftigen Verkehrskultur werden können. Da wird man schließlich „… nicht ohne Konfliktbereitschaft gegenüber den Beharrungskräften auskommen“ (Loske 2018, S. 5).

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Weert Canzler

Fussnoten