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Vertrauensfrage | bpb.de

Vertrauensfrage

Heinrich Oberreuter

Klassischen Gleichgewichtstheorien des Parlamentarismus gelten Vertrauensfrage, Misstrauensvotum und Parlamentsauflösung als komplementäre Instrumente, die gemeinsam Machtbalance und Stabilität im Regierungssystem bewirken: ein Instrumentarium zur Bewältigung von Krisen zwischen Parlament und Regierung, das Mehrheitsbildung sichern soll. Formal gesehen verfügt auch der Bundeskanzler mit der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG über ein Mittel zur Stabilisierung seiner Position oder zur Initiierung von Neuwahlen. Eine Vertrauensfrage kann mit bestimmten Entscheidungen, speziell mit einer Gesetzesvorlage (Art. 81 GG), verbunden werden. Findet sie nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, kann der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlagen. Die Auflösungsbefugnis erlischt, wenn der Bundestag im Gegenzug einen anderen Kanzler wählt.

Im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes besaß Art. 68 bisher nur in Ausnahmefällen verfassungspolitische und praktische Bedeutung. Stabilität und Machtbalance werden nicht durch formale Normen, sondern durch politische Koordinationsprozesse zwischen Kabinett und Mehrheitsfraktion(en) hergestellt. Funktioniert diese ständige politische Abstimmung wie im Normalfall, entfällt jeglicher Anlass dafür, fortbestehendes Vertrauen förmlich feststellen zu lassen; funktioniert sie nicht und beginnt die Mehrheit zu zerfallen, kann auch die Vertrauensfrage diesen Zerfallsprozess nicht aufhalten. Bundeskanzler Schmidt, der zu diesem Mittel in der Absicht Zuflucht nahm, Koalition und eigene Partei zu disziplinieren, erfuhr am 05.02.1982 zwar nach außen eine glänzende Bestätigung, seine Koalition bröckelte aber weiter, bis eine neue Mehrheit ihm am 01.10.1982 das Misstrauen aussprach und gleichzeitig Kohl zum Kanzler wählte. Eine allgemein gestellte Vertrauensfrage stabilisiert nicht mehr. Sie macht heutzutage eher Erosionsprozesse sichtbar und beschleunigt sie.

Disziplinierend und stabilisierend vermag ein Antrag nach Art. 68 GG offensichtlich noch in Verbindung mit einer konkreten Vorlage zu wirken. Erstmals in der Geschichte der BRD griff Bundeskanzler Schröder am 16.11.2001 zu diesem Mittel, um eine eigene Mehrheit für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zu erzwingen. Erklärte Dissidenten waren auf diese Weise genötigt, in einer hochsensiblen Materie zwischen ihrer Position im Einzelfall und der Handlungsfähigkeit der Koalition abzuwägen. Im positiven Ergebnis zeigte sich die Funktionslogik des Systems: Trotz abweichender Positionen in der Sache blieben bei der Mehrheit Vertrauen (und Regierungsfähigkeit) intakt, während die Opposition trotz Zustimmung in der Sache der Regierung das Vertrauen verweigerte.

Art. 68 dient in der Praxis vor allem dazu, über eine Parlamentsauflösung Neuwahlen herbeizuführen, um die Legitimität der Regierung zu erneuern oder eine neue Regierungsbildung zu ermöglichen. In diese Richtung zielte bereits der Antrag einer nicht koalitionswilligen Parlamentsmehrheit an den nach Aufkündigung der Koalition durch die Liberalen zum Minderheitskanzler gewordenen Erhard im Jahre 1966, die Vertrauensfrage zu stellen. Erhard folgte dem nicht. Aber schon die Annahme dieser Aufforderung im Bundestag kam praktisch einem Misstrauensvotum gleich. Den im Amt klebenden Kanzler zwang schließlich die eigene Fraktion zum Rücktritt. Eine neue handlungsfähige Mehrheit wurde dann aber parlamentarisch, nicht durch Neuwahlen, gebildet (Große Koalition 1966–1969). Allein zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung erhob sich 2018 aus der Opposition die Aufforderung an Kanzlerin Merkel, die Vertrauensfrage zu stellen, als sie mit der Abwahl des von ihr gestützten Vorsitzenden ihrer Fraktion dort eine deutliche Niederlage erlitt.

Neuwahlen über Art. 68 GG können erreicht werden, wenn der Kanzler in Absprache mit der Mehrheit die Vertrauensfrage mit dem Ziel stellt, ein negatives Votum zu erhalten, z. B. durch Abstimmungsabstinenz der Kabinettsmitglieder oder der „eigenen Abgeordneten“. Diesen Weg beschritten Brandt (22.09.1972) und Kohl (13.12.1982), um zu einer neuen sicheren Mehrheit bzw. zur direkt-demokratischen Legitimierung eines Regierungswechsels zu kommen. Schröder (01.07.2005) begründete seine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage mit einer Kette von Wahlniederlagen in den Ländern aufgrund sozialpolitischer Einschränkungen („Agenda 2010“), dem Streit über deren Notwendigkeit sowie über Neuakzentuierungen der Außenpolitik (Russland, China) innerhalb der SPD-Fraktion („Erpressungspotential“), dem Widerspruch der Bundesratsmehrheit und der generellen Überzeugung der politischen Öffentlichkeit, dass die „sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen.“

Die durchaus legale auflösungsgerichtete Vertrauensfrage bedeutet einen Wandel, zumindest eine erheblich modifizierte Funktion dieses Verfassungsinstruments. Sie ist zum umstrittenen Äquivalent für das im GG nicht vorgesehene Selbstauflösungsrecht des Bundestages geworden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich zwar um eine letzte, an enge Voraussetzungen gebundene Möglichkeit. Aber wirklich enge Grenzen zieht das Gericht nur gegen die willkürliche Absicht, eine Auflösung lediglich zu einem politisch günstigen Zeitpunkt, jedoch ohne Stabilitätskrise, herbeizuführen. Ansonsten hält es Art. 68 für eine offene Verfassungsnorm, die der Konkretisierung zugänglich und bedürftig ist. Die Gründe des Kanzlers müssen plausibel sein. Aber es obliegt seinem Ermessen, ob ihm eine verlässliche und stetige Mehrheit zur Führung seiner Politik zu Gebote steht, die sich im Akt der Stimmabgabe erweist, unabhängig von begleitenden oder zukunftsgerichteten politischen Bekundungen. In dieser hochpolitischen Frage hat das Verfassungsgericht mit seinen beiden Entscheidungen 1983 und 2005 seine materielle Prüfungskompetenz aus guten Gründen erheblich zurückgenommen, nicht ohne dafür Kritik geerntet zu haben.

Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Heinrich Oberreuter

Fussnoten