Eine einzige Umfrage genügte, um die Welt zu elektrisieren: Das britische Meinungsforschungsinstitut YouGov vermeldete am 5. September 2014, dass Schottland beim Referendum einige Tage später mehrheitlich für seine Unabhängigkeit stimmen würde: 47 Prozent der Befragten gaben darin an, mit "Ja" stimmen zu wollen, nur 45 Prozent dagegen mit "Nein". Im ganzen Jahr 2014 war dies die erste Umfrage, die eine solche Mehrheit auswies – und das nur wenige Tage vor der Abstimmung. Ausweislich dieser Frage stand Großbritannien vor dem Zerfall. Hektische Bemühungen britischer Politiker folgten, die Märkte reagierten nervös, selbst die Queen war besorgt. Am Ende aber gaben 85 Prozent der Schotten ihre Stimme ab; von ihnen stimmten 44,7 Prozent für die Unabhängigkeit Schottlands, 55,3 Prozent dagegen.
Viel Lärm um nichts also? Das werden wir nie erfahren. Wir wissen nicht, was ohne diese Umfrage passiert wäre. Viele Menschen weltweit haben sie jedenfalls wahrgenommen, einige vielleicht darauf reagiert. Beim britischen Premierminister David Cameron war dies ganz offensichtlich. Vielleicht war er nicht der Einzige. Vielleicht haben sich viele der noch Unentschlossenen im Lichte der nun offenkundig bevorstehenden Unabhängigkeit überlegt, dass diese Unabhängigkeit keine gute Idee sei und schlussendlich mit "Nein" gestimmt. Vielleicht haben überzeugte Unionisten nach der Umfrage ihren Einsatz für den Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich gesteigert. Und vielleicht wurden noch ganz andere Prozesse durch die Umfrage in Gang gesetzt.
Klar ist jedenfalls, dass (veröffentlichte) Umfragen wie diese mehr sind als bloße "Wasserstandsmeldungen". Sie selbst können das Geschehen beeinflussen. Die Wahrnehmung und (mögliche) Wirkung von Umfragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrags: Was lässt sich diesbezüglich theoretisch-konzeptionell erwarten? Welche empirischen Befunde liegen hierzu vor? Im ersten Abschnitt werde ich in gebotener Kürze ein Prozessmodell zur Betrachtung von Umfragen vorstellen, an dessen Ende die Wahrnehmung und Wirkung von Umfragen stehen. Ohne einen kurzen Blick auf das Entstehen von Umfragen und ihre Verarbeitung lassen sich deren Wahrnehmung und Wirkung nicht verstehen – diese beiden Aspekte stehen im zweiten und dritten Teil im Fokus.
Prozessmodellzur Analyse von Umfragen
Umfrage ist nicht gleich Umfrage – und das gleich in vielerlei Hinsicht: Wie kommt eine Umfrage zustande? Welchen Anspruch hat sie? Manche Umfragen sollen bevölkerungsrepräsentativ sein, andere nicht. Was ist das Thema der Umfrage? Geht es um Kauf- oder Wahlverhalten – oder um etwas ganz anderes? Was ist der Zweck einer Umfrage? Manche Umfragen verfolgen das Ziel, für interne Zwecke etwas über Konsumenten oder Wählerinnen zu erfahren; andere sind von Beginn an darauf ausgerichtet, die Ergebnisse öffentlichkeitswirksam zu publizieren. Und selbst das lässt sich nochmals danach unterteilen, ob die Öffentlichkeit bloß informiert oder von etwas überzeugt werden soll.
Es lohnt sich, solche Fragen mit Blick auf Umfragen zu stellen, um sie verstehen und einordnen zu können, gerade mit Blick auf mögliche Wahrnehmungs- und Wirkungsmuster. Gleichwohl lassen sich im Rahmen dieses Beitrags nicht alle genannten Fragen thematisieren. Wenn es in diesem Heft um Demoskopie geht, so ergibt sich daraus schon etymologisch, dass es um den Demos, also das Staatsvolk, geht, das man mittels Umfragen "betrachten" möchte, denn das bedeutet Demoskopie im Wortsinn. Aus dem Fokus auf "Wahrnehmung" und "Wirkung" folgt zudem, dass es um öffentlich wahrnehmbare Umfragen geht. Letztlich sind "Sonntagsfragen"
Weder die Sonntagsfrage noch andere Umfragen sind naturgegeben. Umfrageergebnissen liegt eine komplexe Produktions- und Konstruktionslogik zugrunde. Am Anfang steht ein Auftraggeber, der den Prozess anstößt, indem er bei einem Meinungsforschungsinstitut eine Umfrage bestellt. Das Institut wird daraufhin Daten erheben, sie dann auswerten. Im Anschluss wird über die Umfrage berichtet – und erst dann kann die Öffentlichkeit die Ergebnisse wahrnehmen und die Umfrage potenziell Wirkung entfalten.
Mit Blick auf die Auftraggeber ist festzustellen, dass die meisten Umfragen, die zu veröffentlichten Sonntagsfragen führen, von Medien in Auftrag gegeben werden.
Der Auftrag setzt die Maschinerie der Datenerhebung auf Seiten der Institute in Gang: Welche Fragen werden gestellt? Wie werden sie formuliert? Wie viele Menschen aus welcher Zielgesamtheit sollen in welchem Zeitraum befragt werden? Auf welchen Wegen werden die Menschen kontaktiert – und hoffentlich auch erreicht? Die mit Meinungsforschung verbundenen Herausforderungen sind dabei in jüngerer Vergangenheit eher größer als kleiner geworden. Zwei Aspekte nur seien erwähnt, um dies zu verdeutlichen: Die Erreichbarkeit der Menschen über Festnetztelefone – noch immer der gängige Weg bei der Realisierung politischer Meinungsumfragen – ist rückläufig, immer mehr Menschen gehören zur Gruppe der mobile onlys, die nur noch über Handys zu erreichen sind. Darüber hinaus ist generell die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, an Meinungsumfragen teilzunehmen, rückläufig. Wenn aber bestimmte Bevölkerungsgruppen (zum Beispiel Wählerinnen und Wähler einer bestimmten Partei) mit größerer Wahrscheinlichkeit keinen Festnetzanschluss mehr haben oder geringere Lust haben, an Umfragen teilzunehmen, dann drohen in der Folge verzerrte Ergebnisse der Sonntagsfragen.
Zu diesen potenziell verzerrenden Faktoren gesellt sich die Möglichkeit eines statistischen Fehlers. Eine Sonntagsfrage basiert in der Regel auf Interviews mit ein- bis zweitausend Menschen, die Auskunft über ihre politischen Einstellungen und Verhaltensabsichten geben. Gesucht ist aber eine Aussage über alle Wahlberechtigten. Keine Frage: Eine Stichprobe der genannten Größe ist eine hervorragende Basis für solche Aussagen. Aber gleichwohl bleibt dieses Vorgehen nicht ohne Folgen: Es wird leichte Schwankungen von Beliebtheitswerten oder Stimmenanteilen rund um die wahren, aber unbekannten (und daher gesuchten) Anteile in der Gesamtbevölkerung geben. Diese Schwankungen sind der statistische Preis dafür, dass wir mit Stichproben arbeiten, aber etwas über eine größere Gruppe aussagen möchten.
Niemand hat gesagt, Umfragen zu realisieren, sei einfach. Aber aus den skizzierten Herausforderungen lässt sich gleichwohl eine Forderung nach größtmöglicher Transparenz ableiten. Gerade wenn man davon ausgeht, dass Menschen Umfragen wahrnehmen und in ihren Entscheidungen berücksichtigen, muss man ihnen gegenüber maximal transparent sein, wie Umfragen zustande gekommen sind, was sie leisten können und was nicht.
Die Transparenzforderung schließt das nächste Glied der Kette ein: Auf die Datenerhebung folgt die Datenaufbereitung und -auswertung. Die Erhebung liefert Rohdaten: Wie verteilen sich die Antworten der befragten Personen auf die Frage, welcher Partei sie am kommenden Sonntag ihre Stimme geben würden? Manche werden sagen, sie würden nicht zur Wahl gehen. Andere werden sagen, sie wüssten es derzeit nicht. Wiederum andere werden die Antwort verweigern, weil sie die Frage als indiskret empfinden. Eine vierte Gruppe wird eine Partei nennen – hoffentlich wahrheitsgemäß. Auf dieser Basis – und hinzu kommen die skizzierten, potenziell verzerrenden Probleme aus der Phase der Datenerhebung – müssen die Institute agieren. Bestimmte Lücken und Verzerrungen können sie durch Gewichtungsverfahren und Erfahrungswerte ausgleichen und kommen so zu Projektionen, die angesichts der geschilderten Herausforderungen von erstaunlicher Präzision sind.
All dies zeigt aber: Demoskopie ist kein reiner Messvorgang, sondern ein umfangreicher Konstruktionsprozess, was an verschiedenen Stellen auch zutage tritt. So kann man bei längerfristiger Betrachtung erkennen, dass bestimmte Parteien bei bestimmten Instituten immer ein wenig besser (oder schlechter) abschneiden als bei anderen.
Damit sind wir beim nächsten Glied der Kette angekommen – der Veröffentlichung. Über demoskopische Befunde zu berichten, gehört zur festen Routine politischer Kommunikation. Medien schätzen Demoskopie – sie passt zum Horse-race-Journalismus, der vor allem den Wahlkampf wie einen sportlichen Wettlauf interpretiert und in den vergangenen Jahren auch in Deutschland stark an Gewicht gewonnen hat. Für diesen Stil der Wahlkampfberichterstattung sind Befunde aus Bevölkerungsumfragen prädestiniert; dies gilt vor allem für die Sonntagsfrage: Wer liegt vorne? Wer holt auf? Wer fällt zurück? Zwei Dinge verdienen an dieser Stelle besondere Beachtung: Erstens, Medien berichten nicht bloß nackte Zahlen, sondern bauen diese in ihre Berichterstattung ein, sie kontextualisieren und interpretieren sie. Eine Frage mit Blick auf Wahrnehmung und Wirkung von Umfragen ist damit unmittelbar verbunden: Was nehmen Bürgerinnen und Bürger dann eigentlich wahr – die demoskopischen Zahlen oder die darauf aufbauende Berichterstattung? Klar ist jedenfalls, dass Medien – etwa durch die Wahl einer bestimmten Überschrift – den Fokus auf bestimmte Aspekte einer Umfrage lenken können.
Zweitens ist der Zeitpunkt der Berichterstattung beachtenswert: Über viele Jahre hinweg haben sich ARD und ZDF eine Selbstverpflichtung auferlegt, in der Woche unmittelbar vor einer Wahl keine neuen Zahlen zu veröffentlichen. Auch andere Länder kennen Regelungen, die die Veröffentlichung von Umfragen kurz vor Wahlen untersagen. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 allerdings ist das ZDF von der langjährigen Praxis abgewichen und hat am Mittwoch vor der Bundestagswahl ein aktuelles "Politbarometer" veröffentlicht. ZDF-Intendant Thomas Bellut erläuterte dazu per Presseerklärung: "Das Wählerverhalten hat sich massiv verändert. Wechselwähler machen heute einen viel größeren Teil der Wählerschaft aus, und der Wähler entscheidet sich immer später. Wir sehen uns daher in der Pflicht, den Wähler mit einem aktuellen Stimmungsbild zu informieren und ihn nicht wider besseres Wissen auf dem Stand veralteter Informationen zu lassen." Und dabei war die ZDF-Umfrage noch nicht einmal die letzte vor der Wahl: Noch am Wahlsonntag selbst gab es frühmorgens in der "Bild am Sonntag" eine neue Emnid-Umfrage. Erst nach all diesen Schritten – Auftrag, Datenerhebung, Datenauswertung, Berichterstattung – kommen schlussendlich die Empfänger in Spiel, erst dann können sie die Meinungsumfragen wahrnehmen und auf sich wirken lassen.
Zur Wahrnehmung
Es scheint schwierig in diesen Zeiten, Meinungsumfragen nicht wahrzunehmen. Die Übersichten etwa bei wahlrecht.de verdeutlichen die Omnipräsenz von Umfragen vor der Bundestagswahl 2013. Studien zeigen, dass mit der gestiegenen Zahl an Umfragen deren Wahrnehmung tatsächlich auch zugenommen hat. Dem Soziologen Eugen Lupri zufolge haben 1957 vor der Bundestagswahl 17 Prozent der Wähler Ergebnisse von Meinungsumfragen gehört, 1965 schon 35 Prozent. Für die Bundestagswahl 1976 weist der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Donsbach einen Wert von 57 Prozent aus. Der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider schließlich berichtet für die Wahlen von 1983, 1987, 1990 und 1994 Werte von 72, 67, 81 und 67 Prozent. Vor der Bundestagswahl 2005 gaben lediglich acht Prozent der Menschen an, dass sie "nie" Berichte über die Ergebnisse von politischen Meinungsumfragen verfolgten.
Für die Bundestagswahlen 2009 und 2013 können wir auf die German Longitudinal Election Study (GLES) und dort insbesondere auf die Rolling Cross-Section Studie (RCS) zurückgreifen, um die Reichweite von Umfragen in diesen Wahlkämpfen zu prüfen.
Wahrnehmung von Meinungsumfragen vor den Bundestagswahlen 2009 und 2013. Quelle: GLES, Modul 2: Rolling Cross-Section Studie, eigene Berechnungen. Fragewortlaut: "Haben Sie in der vergangenen Woche Berichte über aktuelle Meinungsumfragen zur Bundestagswahl gesehen oder gelesen?" (2009) und "Haben Sie in der vergangenen Woche Ergebnisse von aktuellen Meinungsumfragen zur Bundestagswahl gesehen oder gelesen?" (2013). Dargestellt ist der Anteil der zustimmenden Antworten.
Wahrnehmung von Meinungsumfragen vor den Bundestagswahlen 2009 und 2013. Quelle: GLES, Modul 2: Rolling Cross-Section Studie, eigene Berechnungen. Fragewortlaut: "Haben Sie in der vergangenen Woche Berichte über aktuelle Meinungsumfragen zur Bundestagswahl gesehen oder gelesen?" (2009) und "Haben Sie in der vergangenen Woche Ergebnisse von aktuellen Meinungsumfragen zur Bundestagswahl gesehen oder gelesen?" (2013). Dargestellt ist der Anteil der zustimmenden Antworten.
Auch die Kurvenverläufe verdienen Beachtung: 2013 ist drei Wochen vor dem Wahltag ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen, 2009 dagegen erst zwei Wochen vor dem Wahltag. Der Grund hierfür ist einfach: Das TV-Duell fand 2013 drei Wochen, 2009 dagegen zwei Wochen vor dem Wahltag statt. Und diese Duelle werden typischerweise umfassend mit Umfragen begleitet. 2013 zeigt sich zudem – schon von hohem Niveau ausgehend – ein nochmaliger Anstieg in der allerletzten Woche vor der Wahl, der im Gegensatz zu einem stabilen Bild 2009 steht. Die Diskussion rund um das letzte "Politbarometer" in just dieser Woche hat dazu sicherlich beigetragen.
Der Anstieg mag aber auch Ausdruck der Tatsache sein, dass bei einigen Wählern 2013 der Bedarf nach Umfragen bis kurz vor dem Wahltag größer war als noch 2009: Würde es die FDP in den Bundestag schaffen? Wären dafür eventuell "Leihstimmen" nötig? Welches Lager würde am Ende vorne liegen? Ob es tatsächlich solche koalitionspolitischen Überlegungen waren, die 2013 eine Rolle spielten, ist zunächst nur eine These, die unmittelbar die Fragen nach möglichen Faktoren aufwirft, die die (Nicht-)Wahrnehmung von Umfragen erklären könnten. Einige Befunde finden sich dazu in der Literatur:
Bezüglich möglicher Hintergründe zur Wahrnehmung von Umfragen lohnt es sich, die Wahljahre 2009 und 2013 noch einmal in den Blick nehmen (siehe Tabelle). Die beschriebenen Befunde, welche Gruppen Umfragen eher wahrnehmen (Männer, mit Abitur, über 50 Jahre), bestätigen sich erneut. Die Bewertung einer möglichen schwarz-gelben Regierung hatte jedoch kaum Effekte auf die Wahrnehmung von Umfragen: Obwohl man hätte vermuten können, dass gerade Befürworter dieses Bündnisses ein besonderes Interesse an Umfragen haben – beispielsweise um zu entscheiden, ob sie der FDP eine Leihstimme geben oder nicht –, finden sich diesbezüglich praktisch keine Unterschiede zur Vergleichsgruppe. Ein Interesse am Schicksal einer (möglichen) schwarz-gelben Koalition schien bei Gegnern wie Befürwortern zum gleichen Interesse an publizierten Meinungsumfragen zu führen.