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Fragen über Fragen: Zur Geschichte der politischen Umfrage | Demoskopie | bpb.de

Demoskopie Editorial Zur Wahrnehmung und Wirkung von Meinungsumfragen Fragen über Fragen: Zur Geschichte der politischen Umfrage Politische Umfrageforschung in Deutschland Was steckt hinter den Zahlen? Methoden der Demoskopie Medien lieben Zahlen. Journalismus und Demoskopie

Fragen über Fragen: Zur Geschichte der politischen Umfrage

Anja Kruke

/ 18 Minuten zu lesen

Am Anfang stand eine Wette. Als George Gallup mitten im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1936 öffentlich ankündigte, mit einer direkten (mündlichen) Befragung von 2000 Personen das Ergebnis der Wahl besser voraussagen zu können als die traditionelle (schriftliche) Leserumfrage der Zeitschrift "Literary Digest", bildete diese medienwirksame Herausforderung einen spektakulären Auftakt zur Erfolgsgeschichte der politischen Umfragen und ihrer Macher. Denn Gallup sollte Recht behalten; das von ihm gegründete Umfrageinstitut gehört noch heute zu den renommiertesten Markt- und Meinungsforschungsinstituten.

Welche Auswirkungen diese Methode zur Feststellung der öffentlichen Meinung auf Politik in ihren verschiedenen Dimensionen der Inhalte, Institutionen und ihrem Machtgefüge sowie auf das generelle Verhältnis zwischen Politik, Wählerschaft und Medien haben sollte, war damals nicht abzusehen. Wie das opinion polling entstand, wie es sich in der Politik in Europa und den USA festsetzte und welche Folgen dies hatte, wird im Folgenden grob umrissen.

Die "amerikanische Wissenschaft": Anfänge in den USA

In den USA entstand die Meinungsforschung im Umfeld der seit den 1920er Jahren etablierten Werbepsychologie und Marktforschung. Die diskursive Gleichsetzung von Markt mit Demokratie beziehungsweise von Konsument mit Wähler, die in der Entwicklung der Methodik und Institutionalisierung erfolgte, half bei der Popularisierung der neuen Disziplin. Schon bald setzte sie sich als öffentliche Methode der Selbstbeobachtung durch. Zeitungen richteten Kolumnen für Meinungsforscher ein – etwa die "New York Times", die Gallup zweimal pro Woche Platz für seine neuesten Erkenntnisse einräumte –, zugleich etablierten sich die Medien insgesamt in den USA als zentrale Auftraggeber politischer Meinungsforschung.

Für die Meinungsforschung als wissenschaftliche Methode kann 1937 als Geburtsjahr angegeben werden: In diesem Jahr erschien erstmals die bis heute wirkmächtige Zeitschrift "Public Opinion Quarterly" als ein Organ der empirischen Sozialwissenschaft, in dem auch Branchenführer zu Wort kommen. Experimentelle Versuche, Meinungsforschung für die Politik nutzbar zu machen, gab es jedoch schon vorher – etwa im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfes 1932; US-Präsident Franklin D. Roosevelt nutzte sie zudem intensiv für seinen New Deal und insbesondere für die Durchsetzung seiner Politik gegenüber Deutschland.

Der Durchbruch gelang mit dem Zweiten Weltkrieg; sowohl auf dem Feld der Wissenschaft als auch auf dem der Politik gewann Meinungsforschung an Bedeutung, da sie half, Soldaten genauso wie die gesamte US-amerikanische Gesellschaft und auch die der Kriegsgegner zu beobachten und daraus Rückschlüsse für das eigene Vorgehen und Argumentieren zu finden. Die Forschung profitierte dabei stark vom brain drain aus Europa: Vertreter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sowie österreichische Sozialwissenschaftler wie Paul F. Lazarsfeld und Marie Jahoda, die Umfragen als Methode der empirischen Sozialforschung erstmals im Kontext ihrer Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" 1933 exemplifiziert hatten, verliehen der US-amerikanischen (und auch britischen) Entwicklung zusätzliche Schubkraft.

Wiederum war es dann Gallup, der 1940 zusammen mit Saul Forbes Rae kurz vor dem Kriegseintritt der USA werbewirksam das Buch "The Pulse of Democracy" herausbrachte, in dem er die Methode als demokratische Wissenschaft per se präsentierte: Mit ihrer Hilfe könnten Bürgerinnen und Bürger in eine Art direkten Dialog mit der Politik treten, die politische Theorie einer echten egalitären Demokratie könne somit in die Praxis überführt werden. Gallup und Rae lieferten damit den Soundtrack zum Gründungsmythos der Meinungsforschung als demokratische Wissenschaft. So konnte die im befreiten Deutschland als "amerikanische Wissenschaft" bezeichnete Meinungsforschung sowohl als demokratische wie auch als demokratisierende Wissenschaft propagiert und verstanden werden.

Europa zieht nach

Doch waren die USA nicht der einzige Ort, an dem sich die Meinungsforschung als Verfahren zur (Selbst-)Beobachtung der Gesellschaft durch repräsentative Befragung entwickelte. Zwischen den 1920er und den 1940er Jahren vollzog sich ein weltweiter Aufstieg, der, nur kurzzeitig gehemmt durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, in einer weltweiten Verbreitung und Vernetzung nach 1945 mündete. Insbesondere Gallup hatte unmittelbar nach seinem Prognoseerfolg 1936 begonnen, sein Unternehmen mit Instituten in Großbritannien, Kanada, Australien und Schweden international zu erweitern.

Die medial stets sichtbare Meinungsforschung übte zudem große Anziehungskraft auf europäische Wissenschaftler aus, die – wie der französische Soziologe Jean Stoetzel oder die deutsche Studentin der Zeitungswissenschaft Elisabeth Noelle – während ihrer USA-Aufenthalte mit der neuen Methode in Berührung kamen und sich daran machten, sie in ihren Heimatländern nutzbar zu machen. Noelle, später Noelle-Neumann, gründete 1947 in Deutschland das Institut für Demoskopie Allensbach; Stoetzel gründete bereits 1938 das erste Umfrageinstitut Frankreichs, doch unterbrach der Einmarsch der Deutschen die Entwicklung.

Und auch nach dem Zweiten Weltkrieg sollte es bis Ende der 1960er Jahre dauern, bis Umfragen in Frankreich zu einem alltäglichen Gegenstand in Politik und Gesellschaft wurden. Weder die Politik noch die Journalisten griffen auf Umfragen als Erklärung der öffentlichen Meinung zurück. Das Wahlsystem sah keine direkte Wahl des Präsidenten wie in den USA vor, und die Eliten sahen keinen Anlass, sich an der öffentlichen Meinung (verstanden als zahlenmäßige Größe) zu orientieren, sodass Umfragen öffentlich ein Schattendasein fristeten. Stattdessen griff die Politik auf ein System der Berichterstattung aus den Regionen zurück, das sich in napoleonischen Zeiten begründet hatte und das für zuverlässiger als die Befragung einer kleinen Zahl von Menschen gehalten wurde. Mit der Gründung der Fünften Französischen Republik 1958 wandelte sich das politische System und mit deren Krise die politische Kultur grundlegend – und damit verbunden die Vorstellung von "öffentlicher Meinung". Dies führte dazu, dass sich auch Umfragen schließlich etablierten.

Ähnlich lang brauchten die Umfrageinstitute in Großbritannien. Zwar hatten sich noch vor 1939 Institute gegründet, die im Zweiten Weltkrieg für die Befragung der Bevölkerung herangezogen wurden, doch setzte sich die Umfrageforschung erst zu Beginn der 1960er Jahre auf breiter Front in Parteien und Medien durch; zuvor hatten insbesondere die politischen Akteure aufgrund anderer "Weltsichten" kein Interesse daran gehabt.

Deutschland blieb kaum Zeit zur Entwicklung eigener Meinungsforschung: Während der Weimarer Republik hatte es zwar ähnliche Tendenzen in der Marktforschung gegeben wie in anderen Ländern, aber nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten war an eine Übertragung auf politische Aspekte nicht zu denken. Als gesellschaftliche Beobachtung wurden stattdessen die "Stimmungsberichte" entwickelt, die nicht auf der Grundlage repräsentativer Befragungen entstanden. In Deutschland wurde Meinungsforschung zunächst von den westlichen Alliierten als Methode zur Beobachtung der deutschen Gesellschaft eingeführt, emphatisch verbunden mit der Aussage, diese sei ein hilfreiches Instrument der Demokratie. Bis Ende der 1940er Jahre hatten sich in allen drei westlichen Zonen durch Alliierte geleitete oder finanzierte Umfrageinstitute gegründet, die sich explizit dem politischen Bereich zuwandten, um öffentlich wie auch nichtöffentlich über die demokratische Haltung der deutschen Bevölkerung zu berichten.

Ab 1949 entdeckten auch die politischen Akteure der jungen Bundesrepublik die Umfragen. Zunächst als Machtinstrument vom Bundeskanzleramt eingesetzt, entwickelten die beiden Volksparteien CDU und SPD in den 1950er Jahren ein eigenes Interesse an der Meinungsforschung. Erst ab Mitte der 1960er Jahre holten die Massenmedien als Auftraggeber auf, bis sie schließlich die politischen und staatlichen Institutionen der Bundesrepublik im Auftragsvolumen überholten.

Meinungsforschung setzte sich dort durch, wo die dominanten politischen Akteure die öffentliche Meinung in Form der Umfragedaten als relevant für ihr Handeln einschätzten und damit arbeiteten – oder wo die Medien dies erkannten und die Politik zwangen, sich damit zu beschäftigen. Das Beispiel der Bundesrepublik bestätigt diesen Mechanismus: Kurz nach der Bundestagswahl 1949 unterbreitete das Institut für Demoskopie Allensbach der Bundesregierung das Angebot, eine bereits fertige Umfrage zu kaufen. Der Hinweis, dass ein Kauf eine Veröffentlichung verhindern könne, weil dann der Käufer über die Verwendung entscheide, bewog den frisch gewählten Bundeskanzler Konrad Adenauer dazu, die Umfrage zu antisemitischen Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu erwerben. Neugierig geworden, ließ er sich auch auf das folgende Angebot ein, sich durch regelmäßige Meinungsumfragen ein Bild von der öffentlichen Meinung erstellen zu lassen, um so einen Wissensvorteil zu erhalten – oder sich zumindest mit den US-amerikanischen Alliierten auf informationeller Augenhöhe bewegen zu können.

Das Versprechen, mithilfe von Umfragen das potenzielle Wahlverhalten zu erkennen und es somit auch steuern zu können, überzeugten Adenauer und sein Umfeld, sodass die Bundesregierung zum ersten Auftraggeber kontinuierlicher politischer Umfragen in der Bundesrepublik wurde. Der Bundestagswahlkampf 1953 wurde somit zum ersten, der sich – allerdings nur seitens der Bundesregierung – auch auf Umfragen stützte. Ein paar Jahre später zog zunächst die CDU als Partei nach, nach der Bundestagswahl 1957 auch die SPD. Das für die Sozialdemokraten enttäuschende Abschneiden bei dieser Wahl führte offenbar zur Folgerung, die Gesellschaft durch Meinungsumfragen wieder neu kennenlernen zu müssen. Doch nicht nur die SPD durchlebte diesen Erkenntnisprozess: Vielmehr ist die Selbstbeobachtung der Gesellschaft mithilfe von Zahlen durch Umfragen ein grundlegendes Phänomen moderner Gesellschaften, die sich zwischen den 1940er und 1960er Jahren je nach Durchsetzung der Umfrageforschung in den verschiedenen Lebensbereichen und anhand neu eingeführter Kategorien und zahlenmäßiger Zusammensetzungen neu kennen- und einschätzen lernten.

Auch in den Ländern des Ostblocks wurden die Vorteile des Wissens über die zahlenmäßig erfasste Stimmungslage der Bevölkerung erkannt, wenn auch aus einem ganz anderen Motiv als dem der Stimmenmaximierung. Hier waren es zumeist an polit-wissenschaftliche Institutionen angegliederte Forschungseinheiten, die sich mit Umfragen beschäftigten. Die nur zum Teil umfragebasierten sozialwissenschaftlichen Forschungen zur sozialen Lage der DDR-Gesellschaft waren durchgängig gefragt – der Volksaufstand des 17. Juni 1953 hatte in der SED-Führung eine Art Trauma mit besonderer und ausschließlicher Aufmerksamkeit für sozialfürsorgliche Fragestellungen ausgelöst.

Was wurde gefragt?

Zu Beginn der Meinungsforschung in Westdeutschland war das Set der Fragen noch nicht gefestigt. Die westlichen Alliierten interessierten sich nach 1945 vor allem für die demokratischen Einstellungen der Deutschen, für die Haltung gegenüber den Alliierten und ihrer Politik sowie für alltägliche Dinge des Bedarfs. Die sogenannte Sonntagsfrage wurde vor der ersten Bundestagswahl 1949 im Kontext der Frage nach der Wahlbeteiligung behandelt, zumal den Meinungsforschern keine Vergleichsdaten aus vorherigen Wahlen zur Verfügung standen. Grundsätzlich bot auch in Deutschland diese Frage in erster Linie eine gute Werbung für die Sache der Meinungsforschung – entweder als Nachricht für die Medien oder als Lockmittel für die politischen Akteure, mehr über das Warum der perspektivischen Wahlentscheidung zu erfahren.

In diesem Sinne gilt die Sonntagsfrage als Inbegriff der politischen Umfragen, ist aber vor allem ein Einstieg in ein Mehr an Umfragen: Die Umfrageforschung bot von Beginn an eine Erkundung nach Maß an, denn die politischen Akteure wollten je nach Orientierung und Situation ganz unterschiedliche Sachen wissen. Für die Bundesregierung, die ihre unterschiedlichen politischen Themen und Gesetze abfragen ließ, war jeweils die "Stimmung" im Land wichtig; die Parteien ließen ebenfalls nach der Einstellung zu aktuellen Themen fragen, aber auch nach den aus der Sicht der Bevölkerung "wichtigsten Themen".

Nachdem die politischen Auftraggeber anfangs noch in die Fragen hineinredigierten, konnten sich die Meinungsforscher schon bald mit ihrer Expertise durchsetzen und formulierten die Fragen allein. Außerdem begannen sie, ihre Auftraggeber zu beraten, was wissenswert sei, um erfolgreich Politik machen zu können: Welches Thema ist aktuell am wichtigsten? Wie setzt sich die Gesellschaft sozialstrukturell zusammen? Wie wirken Status, Beruf und Bildung auf die Wahlentscheidung? Welche Rolle spielt der Konsum welcher Medien? Welche Unterschiede machen Stadt und Land aus? Welche Städte sind wessen Hochburgen – und wo lohnt sich intensiver Wahlkampf vor Ort? Und wer von den Akteuren ist eigentlich sympathisch? Wie schätzen die Wähler ihn ein? Wo sind seine Stärken, wo die Schwächen?

Die Inhalte und das politische Personal, zu dem befragt wurde, variierten – und auch strukturell-inhaltlich unterschieden sich die Fragen nach den Rollen von Regierung und Opposition (nicht nur als Auftraggeber). Bei dem einen ging es um Durchsetzungsfähigkeit, bei dem anderen eher um Schwachstellen und Herausforderungsmöglichkeiten, zum Beispiel durch Kompetenzzuweisung (über ganze thematische Felder wie Wirtschaft, Außenpolitik, Soziales).

In den wachsenden Routinen kontinuierlicher Abfragen (wichtigste Themen, sympathischste Politiker und ähnliche Fragen) schälten sich im Rahmen eines Ausdifferenzierungsprozesses aus den Inhalten eigenständige Politikbereiche heraus, die policies. Diese stellten ein vielfältiges neues Feld der Erkundung dar, das zudem eine gute Verbindung zur wissenschaftlichen empirischen Sozialforschung bot und sich in Deutschland im Laufe der 1960er Jahre entwickelte, als alle anderen Frageroutinen schon zur Selbstverständlichkeit des politischen Prozesses gehörten. Die Meinungsforscher erwiesen sich dabei als gute Agenten ihrer selbst, indem sie zu den beantworteten Fragen auch immer die zugleich entstehenden Wissenslücken aufdeckten und Hilfe anboten. Damit entstand eine paradoxe Spirale des Nichtwissens, dessen Umfang immer größer wurde, je mehr Umfragematerial zur Interpretation vorlag – die politischen Akteure (wie auch die Journalisten) hatten gelernt, dass sie die Welt allein aus der eigenen Perspektive nicht "verlässlich" beobachten konnten.

Begünstigt wurde die Ausweitung durch die technischen Entwicklungen, die immer komplexere Auswertungsmechanismen mit einer immer größeren Anzahl von Variablen ermöglichten. Zudem vollzog sich ab Mitte der 1960er Jahre bis zum Beginn der 1980er Jahre ein methodischer Innovationssprung, als neue Umfrageansätze der Medien- und Konsumforschung mit Fragen der politischen Meinungsforschung verknüpft sowie sozialpsychologische Ansätze auf die quantitative Forschung übertragen wurden. Es wurden Fokusgruppen eingerichtet und Typen gebildet, die zu einer Uminterpretation der gesellschaftlichen Schichten nach (Sinus-)Milieus führten. Schließlich erfuhr das Umfragewesen eine weitere Beschleunigung durch die methodisch neuen Abfragen per Telefon und die verbesserten Möglichkeiten zur Datenverarbeitung durch Großrechner, sodass sich mit dem Wahlkampf 1976 wöchentliche Umfragen als Routine etablierten.

Mehr Interesse, mehr Kritik

Das erhöhte Tempo war auch darauf zurückzuführen, dass inzwischen die Medien politische Umfragen für sich entdeckt hatten. Im Bundestagswahlkampf 1965 war das Wochenmagazin "Stern" mit einer groß aufgemachten Umfrageserie vorangeprescht, wobei vor allem die sich über ganze Seiten erstreckenden Balkendiagramme beeindruckend wirkten und visuell ein neues Zeitalter der öffentlichen Wahrnehmung von Umfragen einläuteten. Am Wahlabend griff das ZDF diese Idee auf und ließ von den damals zwei führenden Instituten in Deutschland, dem Institut für Demoskopie Allensbach und Emnid, Prognosen präsentieren. Aus der Fehlprognose Emnids (dass es einen knappen Wahlausgang geben werde – tatsächlich gewann die CDU mit über acht Prozentpunkten Abstand), entwickelte sich ein Skandal, in dessen Verlauf das Institut nicht nur fast Pleite ging und verkauft wurde, sondern an dem sich auch eine heftige öffentliche Debatte um den Sinn und Zweck von Umfragen entfachte.

Doch grundsätzliche Kritik zieht sich seit jeher wie ein roter Faden durch die Geschichte der Umfrageforschung – und zwar länderübergreifend. Dabei hat sich der Schwerpunkt der Kritik im Laufe der Zeit von der Manipulation durch die Parteien auf die Nutzung der Meinungsforschung durch die Medien verschoben. Das durchgängige Motiv bildet die Sorge um die Funktionsfähigkeit der Demokratie. Zum einen wurde die "gezählte Meinung" schon früh als falsche Vorstellung von öffentlicher Meinung gedeutet und damit als demokratietheoretisch und -praktisch (äußerst) problematisch angesehen. Sie öffne der Wählermanipulation Tür und Tor, zudem sei eine an den Stimmungen orientierte Demokratie zu befürchten. Zum anderen wurden immer wieder technische Vorwürfe bezüglich der Zuverlässigkeit von Umfragen laut (etwa zur Repräsentativität/Stichprobenziehung oder technischen Interpretation). Die öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung im Rahmen von Skandalen (egal in welchem Land: 1948 in den USA, 1974 in Großbritannien sowie in anderen) führte jedoch stets dazu, dass Leser, Hörer und Zuschauer vor allem viel über Demoskopie lernten und die Meinungsforschung sich medial sogar noch fester verankern konnte, da die Medien im Zuge dessen Umfragen noch stärker aufgriffen.

Die Debatte in der Bundesrepublik hatte zur Folge, dass das ZDF für seine Berichterstattung schließlich auf eine universitär basierte Umfrageforschung umstieg; zwei Jahre nach der Bundestagswahl 1972 wurde die Forschungsgruppe Wahlen gegründet. Zugleich wurde vereinbart, in der letzten Woche vor einer Wahl keine Umfragen mehr zu veröffentlichen, um so eine Beeinflussung der nicht entschiedenen Wähler durch Umfragen zu vermeiden – eine Selbstverpflichtung, die bei der Bundestagswahl 2013 erstmals nicht eingehalten wurde. In Frankreich hingegen wurde die Veröffentlichung von Umfragen vor Wahlen 1977 gesetzlich verboten.

Mit der medialen Aufmerksamkeit für die Ergebnisse der Meinungsforschung entstand seit den 1970er Jahren in Westdeutschland insgesamt ein ganz anderes Interesse an Umfragen. Während Parteien und Institutionen vor allem deshalb früh an Demoskopie interessiert gewesen waren, um den gewonnenen Wissensvorsprung durch Zustimmungsmaximierung zum eigenen Machtgewinn oder -erhalt zu nutzen, ließen sich die Medien von der Möglichkeit leiten, Neuigkeiten produzieren zu können. Diese Reihenfolge der Entwicklung hat sich allerdings in nur wenigen Ländern wie Deutschland und Italien abgespielt; Frankreich und Großbritannien zum Beispiel erlebten einen zeitgleichen Durchbruch der Meinungsforschung in Politik und in Medien.

Seit der medialen Etablierung von Umfragen hat sich ein bestimmtes Set von Fragen herausgebildet, die sowohl eine Wiedererkennung ermöglichen, aber eben vor allem eine Berichterstattung über die Abweichung vom vorherigen Ergebnis ermöglichen. Diese Fragen beziehen sich in erster Linie auf Parteien (Sonntagsfrage), Personen (Beliebtheit) und Themen (Wichtigkeit), woraus sich dann wiederum weitere Fragen ergeben – kommunikationswissenschaftlich gesehen geradezu vorbildlich an der Nachrichtenwerttheorie orientiert, die die Regeln der medialen Aufmerksamkeitsökonomie beschreibt. Für die politischen Akteure bedeutet dies nicht nur eine permanente öffentliche Beobachtung und Bewertung, sondern auch eine Einengung in der Möglichkeit, sich durch eigene Umfragen einen Wissensvorsprung zu verschaffen. Zwar erfahren Politiker an Wahlabenden die Ergebnisse der sogenannten exit polls etwas früher, was ihnen einen kleinen zeitlichen Vorsprung gewährt. Zugleich aber ist es bei der Vielzahl der Umfragen schwieriger geworden, einen echten qualitativen Vorsprung zu erreichen. Außerdem sind gerade die im kleinen Kreis vorgestellten Umfragen besonders anfällig für eine Veröffentlichung – häufig wurden sie von Teilnehmern der Gremien und Runden an Medien weitergegeben.

Folgen für Politik und Gesellschaft

Die zahlenmäßige Erfassung der Meinungen auf dem politischen Massenmarkt, wie er sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat, zog eine Vermarktlichung der Beziehungen zwischen den politischen Akteuren und den Wählern nach sich. Die zunächst von den Akteuren als Orientierung gewünschte demoskopische Information veränderte die eigenen Vorstellungen von der Wählerschaft und von sich selbst, vor allem aber auch von der Funktionsweise der Politik. Politik schien zunächst planbar zu werden, zumindest ließen sich Wählerentscheidungen vorab abfragen. Gleichzeitig lernten die Akteure die Welt mit neuen, sozialwissenschaftlich geschulten Augen zu sehen. Statt sich an der Einteilung der Gesellschaft entlang zentraler Konfliktlinien wie Konfession oder Klasse zu orientieren, wurden Anhängerschaften nun in Strukturen der soziologischen Gesellschaftsanalyse gefasst und in Zielgruppen neu definiert.

Dies bedeutete eine Loslösung aus alten politischen Mustern, erlaubte aber zugleich eine theoretisch unendliche Flexibilität in der Vorstellung von der Wählerschaft. Die Zerlegung des Elektorats, der Inhalte und der Parteien und ihre anschließende neue Zusammensetzung sowie die Spiegelung dieser Entwicklung in den Medien konnte nicht ohne Folgen für das gegenseitige Verständnis von Wählerschaft, Parteien und Medien bleiben, da dieser Prozess zentrale Kategorien von Selbstverständnis und Identität berührt. Gleichzeitig wurde die Funktionsweise von Demokratie dadurch verändert, dass der Souverän zeitgleich zur Entstehung einer politischen Entscheidung durch Umfragen präsent wurde und gezielt eingesetzt werden kann, mithin die Umfrage zum "Ersatzsouverän" aufgestiegen ist. Für diesen gesellschaftlichen Wandel in Richtung einer medialisierten Demokratie stellt die Umfrage damit gleichsam einen Indikator wie auch einen Faktor zum Antrieb der Entwicklung dar.

Das Streben danach, Dinge über Menschen zu wissen, hat sich als Vorstellung von Zählbarkeit seit dem 17. Jahrhundert über die Entwicklung der Statistik herausgebildet. Ähnlich wie in den 1940er Jahren mit den neuen Methoden der Sozialforschung das Versprechen verbunden war, alles von Menschen erfragen und ihr Verhalten damit vorhersagbar machen zu können, ist dieses Versprechen heute mit dem Schlagwort "Big Data" verbunden. Damals wie heute führt dieses Versprechen sowohl zu Prophezeiungen einer goldenen Zukunft der Verhaltenssicherheit und manipulatorischen Träumen als auch zu entsprechenden Befürchtungen und Schreckensszenarien. Das Aufkommen dieses Schlagwortes geht daher mit einer neuen Welle der Kritik an den Methoden der Datensammlung und -aufbereitung einher; diese weist eine strukturelle Ähnlichkeit mit der damaligen Kritik an der Meinungsforschung auf, die genau in dem Moment anzog, als das Fernsehen zum Leitmedium avancierte.

Auch an Big Data knüpfen sich ambivalente Wirkungshoffnungen ähnlich zur "demokratischen Wissenschaft" der Umfrage als aufklärerisch und demokratiefördernd oder als manipulatorisch und Demokratie zerstörend. Die Möglichkeiten der Datensammlung sind mit der neuen technischen Verfügbarkeit gewachsen, denn die Menschen müssen – zugespitzt formuliert – nur noch am Anfang, wenn sie ein technisches Gerät einrichten, gefragt werden, ob sie die Zugriffsbestimmungen akzeptieren. Die Daten, aus denen die Informationen aggregiert werden, entstehen danach durch die Benutzung von selbst: Es kommt (erneut) nur noch darauf an, die richtigen Fragen zu stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bislang gibt es nur wenige Studien zur Geschichte der politischen Umfrageforschung; für Deutschland vgl. Anja Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990, Düsseldorf 20122. Auf weitere Länderstudien wird im Folgenden hingewiesen.

  2. Vgl. Stefan Schwarzkopf, Consumers, Markets, und Research: The Role of Political Rhetoric and the Social Sciences in the Engineering of British and American Consumer Society, 1920–1960, in: Kerstin Brückweh et al. (Hrsg.), Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980, London 2012, S. 252–272.

  3. Vgl. Steven Casey, Cautious Crusade. Franklin D. Roosevelt, American Public Opinion and the War against Nazi Germany, Oxford 2001.

  4. Vgl. A. Kruke (Anm. 1), S. 36f.

  5. Vgl. Thomas Osborne/Nikolas Rose, Do the Social Sciences Create Phenomena? The Example of Public Opinion Research, in: The British Journal of Sociology, 50 (1999), S. 367–396.

  6. Vgl. George Gallup/Saul Forbes Rae, The Pulse of Democracy. The Public-Opinion Poll and How It Works, New York 1940. Daran entzündet sich bis heute die Kritik, Gallup habe die Öffentlichkeit damit in die Irre geführt. Vgl. J. Michael Hogan, George Gallup and the Rhetoric of Scientific Democracy, in: Communication Monographs, 64 (1997), 2, S. 161–179; Sarah E. Igo, "A Gold Mine and a Tool for Democracy": George Gallup, Elmo Roper, and the Business of Scientific Polling, 1935–1955, in: History of the Behavioral Sciences, 42 (2006), 2, S. 109–134.

  7. Vgl. Bernhard Fulda, The Market Place of Political Opinions: Public Opinion Polling and its Publics in Transnational Perspective, 1930–1950, in: Comparativ, 21 (2011) 4, S. 13–28; Robert M. Worcester (Hrsg.), Political Opinion Polling, London 1983.

  8. Vgl. Jon Cowans, Fear and Loathing in Paris. The Reception of Opinion Polling in France, 1938–1977, in: Social Science History, 26 (2002), S. 71–104.

  9. Vgl. Laura Dumond Beers, Whose Opinion? Changing Attitudes Towards Opinion Polling in British Politics, 1937–1964, in: Twentieth Century British History, 17 (2006), S. 177–205.

  10. Vgl. Hartmut Berghoff (Hrsg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt/M.–New York 2007.

  11. Vgl. Heinz Boberach, Meldungen aus dem Reich. Auswahl aus den Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS, 1939–1945, Neuwied 1965.

  12. Vgl. A. Kruke (Anm. 1), S. 31–57 (Beginn nach 1945), S. 61–311 (CDU/SPD), S. 437–495 (Medien bis 1979).

  13. Für das Feld der Antisemitismusforschung per Umfrage vgl. Werner Bergmann, Sind die Deutschen antisemitisch? Meinungsumfragen von 1946–1987 in der Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Bergmann/Rainer Erb (Hrsg.), Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946–1989, Opladen 1991, S. 108–131.

  14. Für die amerikanische Gesellschaft vgl. Sarah E. Igo, The Averaged American. Surveys, Citizens and the Making of a Mass Public, Cambridge/MA 2007; für das Beispiel der Katholischen Kirche in Deutschland vgl. Benjamin Ziemann, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975, Göttingen 2007, insb. S. 131–202.

  15. Vgl. Heinz Niemann, Hinterm Zaun. Politische Kultur und Meinungsforschung in der DDR – die geheimen Berichte an das Politbüro des ZK, Berlin 1995. Ein kleiner Teil dieser Berichte ist in den Beständen der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) erhalten.

  16. Vgl. Christiane Reinecke, Fragen an die sozialistische Lebensweise: Empirische Sozialforschung und soziales Wissen in der SED-Fürsorgediktatur, in: Archiv für Sozialgeschichte, 50 (2010), S. 311–334. Mit Blick auf Fragen der sozialen Ungleichheit war in der DDR ein paradoxes ideologisches Problem zu lösen: Denn wie sollte Forschung dazu in einem Staat aussehen, in dem per se alle gleich waren? Vgl. Thomas Mergel, Soziale Ungleichheit als Problem der DDR-Soziologie, in: ders./Christiane Reinecke (Hrsg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a., S. 307–336.

  17. Für eine frühe Übersicht über die Vielfalt der Fragen vgl. Gerhard Schmidtchen, Die befragte Nation. Über den Einfluss der Meinungsforschung auf die Politik, Freiburg/Br. 1959.

  18. Vgl. A. Kruke (Anm. 1), S. 321–436.

  19. Das Sozialwissenschaftliche Institut Nowak und Sörgel (Sinus) hatte aus einer Kombination von sozialpsychologischer politischer "Typenbildung" und Marktforschung Milieus kreiert, die quer zu den sozialen Schichten lagen und sich kurzfristiger entwickelten. In der politischen Umfrageforschung tauchen sie erstmals bei der SPD im Kontext des Bundestagswahlkampfes 1983 auf. Vgl. ebd.

  20. Als Meilenstein der harten Kritik gilt Wilhelm Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik politischer Umfragen, Tübingen 1957; für die Geschichte der Kritik vgl. A. Kruke (Anm. 1), S. 450–474.

  21. Vgl. grundsätzlich dazu Felix Keller, Archäologie der Meinungsforschung. Mathematik und die Erzählbarkeit des Politischen, Konstanz 2001.

  22. Der Nachrichtenwert beschreibt den Einflussfaktor verschiedener Kategorien auf die Bewertung und Auswahl von Informationen, die zu Nachrichten werden. Die Kategorien sind in der Forschung nicht einheitlich gehandhabt, zum Beispiel gehören prominente Personen, negative Aspekte, Abweichungen (vom "Normalen") und emotional besetzte Themen zu den Faktoren, die den Wert einer Nachricht nach oben treiben. Für Grundlagen vgl. Michaela Maier/Karin Stengel/Joachim Marschall, Nachrichtenwerttheorie, Baden-Baden 2010.

  23. So sind die zentralen Umfragevorhaben von Parteien seit den späten 1960er Jahren relativ zuverlässig im "Spiegel" nachzulesen. Vgl. dazu aktuell, wenn auch retrospektiv: Sven Becker/Frank Hornig, Regieren nach Zahlen, in: Der Spiegel, Nr. 37 vom 8.9.2014, S. 20–25.

  24. Noch immer spannend dazu: Harold A. Mendelsohn/Irving Crespi, Polls, Television, and the New Politics, Scranton 1970.

  25. Für die aktuelle Debatte vgl. Frank Schirrmacher, Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München 2009, sowie die Debatten dazu in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und der "Süddeutschen Zeitung" im Sommer 2014; ebenso Evgeny Morozov, Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen, München 2013.

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Dr. phil., geb. 1972; Leiterin des Archivs der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Godesberger Allee 149, 53175 Bonn. E-Mail Link: anja.kruke@fes.de